Polen vor den Parlamentswahlen

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Am 15. Oktober wählt Polen ein neues Parlament. Für die Opposition ist klar: Wenn PiS weiter regiert, kommt die Demokratie im Lande noch weiter ins Rutschen. PiS hingegen behauptet: Kommt die Opposition an die Macht, verliert Polen seine nationale Souve­rä­nität an auslän­dische Mächte, vor allem an Deutschland. Der Ausgang der Wahl wird in jedem Fall gravie­rende Folgen haben: für Deutschland – und für ganz Europa.

Die meisten Passanten in der Fußgän­gerzone der südschle­si­schen Stadt Bielsko-Biala winken ab. Sie wollen sich an den Ständen der verschie­denen Parteien nicht in Gespräche über die Parla­ments­wahlen am 15. Oktober verwi­ckeln lassen. Nicht nur wegen der Hitze, sondern vor allem wegen der politi­schen Lage. Sie sind unwillig, enttäuscht, erschöpft, vor allem aber: der Politik überdrüssig. Der erbit­terte Graben­kampf zwischen den beiden großen politi­schen Lagern zieht sich bereits durch viele Monate, ja Jahre: Kaczynski gegen Tusk. Die rechts­po­pu­lis­tische Partei PiS gegen das konser­vativ-liberale Wahlbündnis Bürger­ko­alition KO mit der Bürger­plattform PO als Kern.

 

Wichtigste Wahl sei 1989

Doch trotz des Überdrusses liegt Spannung in der Luft. Alle politi­schen Parteien sind sich einig: Seit dem fried­lichen System­wechsel 1989 hatte keine andere Wahl eine derartige Bedeutung für die Zukunft des Landes wie die diesjährige. Und das Rennen scheint noch nicht endgültig entschieden. Die Regie­rungs­partei Recht und Gerech­tigkeit PiS bildet zwar unange­fochten die stärkste Partei. Doch wird sie wieder allein regieren können wie nach 2019? Oder wird sie einen Koali­ti­ons­partner brauchen – und auch finden? Oder könnte es der opposi­tio­nellen Bürger­plattform PO noch gelingen, mit einer Anti-PiS-Koalition eine Parla­ments­mehrheit zu erreichen? Der Countdown läuft, der Ton wird immer rauer. Und noch nicht alle wissen, wo sie ihr Kreuz setzen werden.

 

Die rechts­po­pu­lis­tische PiS streut soziale Wohltaten aus

Für die Lehrerin Monika M. im Beski­dendorf Istebna unweit der tsche­chi­schen Grenze ist die Sache klar: Sie wird so wählen wie vor vier Jahren. Aus Überzeugung. Einst setzte sie auf die Liberalen, aber dann störte sie sich an deren Arroganz. „Ihnen waren die einfachen Menschen egal.“ PiS hingegen habe für eben diese einfachen Leute gesorgt. Seit das Kindergeld 500+ ausge­zahlt wird, (das jetzt auf 800+ erhöht wird), fahren Schüler aus dem Dorf manchmal sogar ins entfernte Bielsko-Biala ins Kino. Seit das Minis­terium von Zeit zu Zeit Zuschüsse gibt, nehmen nicht nur die Kinder von besser Verdie­nenden an Klassen­fahrten teil. In diesem Jahr haben zudem alle Viert­klässler einen Laptop erhalten. Die Digita­li­sierung des Unter­richts soll beschleunigt werden. „Die Verbes­serung unter der PiS-Regierung ist offenkundig.“

Die rechts­po­pu­lis­tische PiS streut soziale Wohltaten aus, wie sie nicht einmal von einer sozial­de­mo­kra­ti­schen Regierung zu erhoffen wären. 2019 wurde die dreizehnte Rente beschlossen, 2023 die vierzehnte, beide sind inzwi­schen in feste jährliche Zahlungen umgewandelt. Eine Reihe von Medika­menten wird kostenlos an Rentner und Kinder und Jugend­liche bis 18 Jahre ausge­geben. Versprochen sind die Abschaffung der Autobahn­ge­bühren und die Einführung von Schulbons, die zur Erkundung des Landes genutzt werden sollen. Es lohnt sich ganz offen­kundig, PiS zu wählen.

 

Duda: Vertei­digung als Schlüs­sel­element des polni­schen Staatsinteresses

Die Dozentin Monika T. aus Thorn wird PiS aber nicht wegen ihres Sozial­pro­gramms wählen, sondern wegen ihrer Sicher­heits­po­litik. Die Regie­rungs­partei gibt ihr das Gefühl größerer Sicherheit. Hat Donald Tusk in seiner Zeit die Wehrpflicht nicht abgeschafft? Hat er nicht eine Annäherung an Moskau versucht und sich der westlichen Nachsicht gegenüber Moskau zu sehr angenähert? Hat nicht auch er die 2‑Prozent-Zielmarke für Vertei­di­gungs­aus­gaben ignoriert? PiS hingegen will Polen zu einer militä­ri­schen Großmacht in Europa ausbauen. Sie fährt die Vertei­di­gungs­aus­gaben in den nächsten Jahren auf fünf Prozent des Brutto­so­zi­al­pro­dukts hoch, kauft Panzer, Flugzeuge und andere Waffen in den USA und Südkorea und strebt eine Aufsto­ckung der Streit­kräfte einschließlich der neu einge­rich­teten Heimat­schutz­ein­heiten auf 300.000 Personen an. Vertei­digung, so Staats­prä­sident Duda, sei „heute ein Schlüs­sel­element des polni­schen Staats­in­ter­esses“.  Deswegen wird auch die Zusam­men­arbeit mit den USA inten­si­viert. Denn Polen spürten, sagt die Thorner Dozentin, „dass sie sich im Fall eines Falles nicht auf Westeuropa verlassen können.“

Referendum zeitgleich zu Parlamentswahlen

„Für eine sichere Zukunft in Polen“ hat PiS denn auch als zentrale Wahlkampf­parole ausge­geben. Wer keine Angst haben will, dass soziale Zuwen­dungen gestrichen werden, dass er arbeitslos wird oder umgekehrt viel länger als augen­blicklich arbeiten muss, wer sich dagegen wehrt, dass Polen von Fremden überrannt wird oder die nationale Sicherheit an der Ostgrenze leidet, der muss mit „Vier Mal Nein!“ beim Referendum stimmen, das die Regierung zeitgleich zu den Parla­ments­wahlen angesetzt hat. „Nein“ zum „Ausverkauf“ staat­lichen Vermögens – wie es angeblich Tusk tat, als er auslän­di­sches Kapital ins Land holte. „Nein“ zu einer Erhöhung des Renten­alters – wie es Tusk einführte, um den demogra­phi­schen Problemen zu begegnen. „Nein“ zur Aufnahme illegaler Immigranten aus dem Nahen Osten und aus Afrika – wie sie Brüssel dem Land angeblich aufzu­zwingen versucht. „Nein“ zu einer „Liqui­dierung der Barriere“ an der ostpol­ni­schen Grenze zu Belarus – wie sie angeblich durch Tusk zu befürchten wäre.

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Tusk als Feindbild der polni­schen Rechten

Nicht nur, dass PiS Gelder spart, wenn sie ihren Wahlkampf als Infor­mation zum Referendum ausgibt und dadurch aus der Staats­kasse bezahlen kann. Ihr steht zur Verbreitung ihrer Sicht auch der staat­liche Fernseh­sender TVP zur Verfügung, der als kostenlose Wahlkampf­ma­schine jeden Tag aktua­li­sierte partei­liche Propa­ganda betreibt. Fast täglich flimmern Bildern von riesigen Fabrik­hallen über den Fernseh­schirm, die leer stehen, weil die Betriebe in Zeiten des wirtschaft­lichen Umbruchs still­gelegt wurden und Hunderte, gar Tausende ihre Arbeit verloren – natürlich unter der Tusk-Regierung. Regel­mäßig tauchen auch Bilder von dunkel­häu­tigen „Wilden“ auf, die halbnackt vor der Kamera tanzen und später in Deutschland, Belgien und Frank­reich terro­ris­tische Attacken verüben, Straßen­kämpfe gegen die Polizei in Brüssel, Paris oder Berlin ausfechten und Frauen verge­wal­tigen – ein Schre­ckens­sze­nario auch für Polen, wenn die Opposition die Wahl gewinnen würde.

Jeden­falls kann PiS auf eine breite Stamm­wäh­ler­schaft setzen, die nicht einmal von der Partei abrückt, wenn sie in Skandale verwi­ckelt ist. So stellte sich beispiels­weise erst jüngst heraus, dass der rassis­tische Populismus die Regie­rungs­partei nicht davon abhielt, gleich­zeitig massenhaft Arbeits­mi­granten anzuwerben – auch aus musli­mi­schen Ländern – und die Visa oftmals gegen Bestechungsgeld zu vergeben.

Tusk hingegen ist zum Feindbild schlechthin für die polnische Rechte geworden, zur „Perso­ni­fi­zierung des Bösen“. Tusk habe ausge­führt, was Merkel und Brüssel befahlen, behauptet Premier­mi­nister Morawiecki. Tusk sei von seinen „Sponsoren“ ausge­wählt worden, so Jaroslaw Kaczynski, um „schmutzige Aufgaben“ zu erledigen. „Für Deutschland“ sagt Tusk in einer demago­gisch zurecht­ge­schnit­tenen Sequenz im staat­lichen Fernsehen ohne jeden Kontext in die Kamera – und das auf Deutsch. Und der Sender verdoppelt und verdrei­facht: „Für Deutschland, für Deutschland, für Deutschland…“  PiS – das gibt die Regie­rungs­partei unmiss­ver­ständlich zu verstehen – liefert das Gegen­pro­gramm. Als Kaczynski in einem Wahlkampfspot der PiS um ein Telefonat mit Bundes­kanzler Scholz gebeten wird, weil jener ihn zu einer Erhöhung des Renten­alters wie zu Zeiten von Tusk zu drängen sucht, lehnt der polnische Vizemi­nis­ter­prä­sident ebenso kühl wie eindeutig ab: „Tusk ist weg, und diese Methoden sind vorbei.“ Und er legt auf.

Tusk sei ein Verräter an polni­schen Natio­nal­in­ter­essen, wieder­holen die regie­rungs­nahen Medien unisono. Ein doppelter Verräter zudem, da er angeblich nicht nur als Fürsprecher von deutschen und EU-Inter­essen auftritt, sondern auch im Interesse Moskaus agiert: Er schloss ungünstige Verträge über Rohstoff­lie­fe­rungen aus Russland ab. (Dabei bezog auch noch die PiS-Regierung bis zum russi­schen Überfall auf die Ukraine Kohle und Öl aus Russland.) Er weigerte sich, im Flugzeug­ab­sturz von Smolensk 2010, bei dem aufgrund von dichtem Nebel  96 Menschen einschließlich des polni­schen Präsi­denten Lech Kaczynski ums Leben kamen, einen russi­schen Anschlag zu sehen. (Der polnische Unter­su­chungs­be­richt führte mensch­liches Versagen als Unglücks­ur­sache an.) Auf Hauswänden tauchen riesige Wahlkampf­plakate auf: Drei Mal das Gesicht von Tusk in drei Etappen seines angeblich immer gleichen Wirkens: „Er hat alles kaputt gemacht.“ (in Polen) „Er ist geflohen.“ (nach Brüssel) „Er wird es wieder machen.“ Die Schluss­fol­gerung kann nur heißen: „Er verdient keine neue Chance!“

 

Antideutsche Propa­ganda im Wahlkampf

Wer Tusk als Büttel von Berlin und Brüssel sieht, meint auch immer Deutschland und die EU, wenn er auf Tusk einschlägt. Und umkehrt: Jede Kritik an Deutschland und der EU fällt auf Tusk zurück. Und Anlass zur Kritik bietet Deutschland zumindest für die PiS-Politik ununter­brochen: Notge­drungen habe sich das Land zwar von seinem putin­freund­lichen Kurs verab­schieden müssen – aber warum komme die Unter­stützung für die Ukraine immer erst sehr spät und aufgrund von Druck? Warte Berlin nicht geradezu darauf, wieder „normale“ Bezie­hungen zu Moskau aufbauen zu können? Offiziell rühmten sich deutsche Politiker zwar ihrer ökolo­gi­schen Politik – aber würden sie Polen nicht ganz einfach klein halten wollen, wenn sie gegen den Ausbau des Hafens Stettin-Swine­münde protes­tierten oder auf die Schließung des Braun­koh­le­abbaus in der Stadt Turów drängten? Reißt der Kohle­konzern RWE in Deutschland seiner­seits nicht Windkraft­an­lagen ein, um den Abbau von Braun­kohle zu erweitern? Und vor allem: Mit welchem Recht mischten sich Deutsche in den polni­schen Wahlkampf ein? Polen drohe bereits eine Gefahr im Osten durch Putin und die „Gruppe Wagner“, nun drohe ihnen auch noch eine Gefahr im Westen durch die „Gruppe Weber“. Manfred Weber, der Chef der Europäi­schen Volks­partei, hat PiS mehrfach als antide­mo­kra­tische Partei gebrand­markt. Einige rechte Medien fühlen sich durch diesen „Feind“ an den Ribbentrop-Molotow-Pakt von 1939 erinnert, in dem Deutschland und Russland vor Beginn des Zweiten Weltkriegs die Aufteilung Polens beschlossen. Dass ausge­rechnet Weber zum Feindbild erklärt wurde, dürfte sich aus der kommenden Europawahl erklären: Der CSU-Politiker versucht, den Einfluss von PiS im rechten Spektrum innerhalb des EU-Parla­ments zu schwächen.

Jaroslaw Klima­szewski, der Stadt­prä­sident von Bielko-Biala, Mitglied der opposi­tio­nellen PO, ist sich zwar genauso sicher wie die PiS-Wählerin aus Istebna, dass die antideutsche Propa­ganda allein dem Wahlkampf geschuldet sei und den Menschen zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus gehe. Aber bleibt bei Teilen nicht doch etwas hängen, wenn es täglich wiederholt wird, demago­gisch entstellt ist und ein altes Muster bedient: Deutschland, der ewige Feind? Der zudem unbelehrbar ist? Zum Gedenken an die polnische Familie Ulma, die Juden vor der deutschen Besat­zungs­macht versteckte und dafür mit ihrem Leben bezahlte, wird die polnische Bahn in Abstimmung mit dem polni­schen Präsi­denten in den nächsten Wochen Intercity-Züge nach Berlin mit der Aufschrift schicken: „Von Deutschen im II. Weltkrieg ermordet für die Rettung von Juden“. Schon im letzten Jahr hat die PiS-Regierung mit den Repara­ti­ons­for­de­rungen gegenüber Deutschland ein Instrument entwi­ckelt, das bei Bedarf nicht nur als Erpres­sungs­mittel einge­setzt werden kann, sondern auch zur Mobili­sierung dienen kann. Den Forde­rungen stimmten nicht nur die meisten Opposi­ti­ons­po­li­tiker zu; auch über die Hälfte der polni­schen Bürger hält sie für berechtigt.

 

Was kann die Opposition anbieten?

Er werde allein schon deswegen für die opposi­tio­nelle Bürger­ko­alition stimmen, sagt der Arzt J. in Thorn, damit all die Lügen, Manipu­la­tionen und Hassbot­schaften aufge­deckt würden, die die staat­lichen Medien und Regie­rungs­ver­treter ungehindert jeden Tag verbrei­teten. Damit Gesetze, Insti­tu­tionen und Perso­nal­ent­schei­dungen rückgängig gemacht würden, mit denen die Unabhän­gigkeit der Justiz aufge­hoben und die Meinungs­freiheit einge­schränkt wurden. Damit das rigide Abtrei­bungs­verbot falle, das dazu führte, dass Frauen starben, weil Ärzte aus Angst vor Strafe bei Schwan­ger­schafts­pro­blemen zu spät eingriffen. Polen brauche einen Regie­rungs­wechsel, ist der Arzt überzeugt, damit Demokratie und Menschen­rechte im Land wieder geachtet würden.

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Ist Populismus für eine „gute Sache“ legitim?

Doch im Übrigen ist der Arzt enttäuscht von der Opposition. Für ihn und etliche andere ist sie nur das kleinere Übel. Zu oppor­tu­nis­tisch und zu unent­schieden, so das Urteil. Müssen dem Hauptziel des Wahlkampfs „Weg mit der PiS-Regierung!“ wirklich alle takti­schen Schritte im Wahlkampf unter­ge­ordnet werden? Ist Populismus für eine „gute Sache“ legitim? Warum gesteht Tusk beispiels­weise einem Bauern­po­li­tiker einen Spitzen­platz auf der Liste der Opposition zu, der in der Vergan­genheit nicht vor gewalt­tä­tigen Straßen­blo­ckaden zurück­schreckte, mehrfach das politische Lager wechselte und durch pro-russische und antieu­ro­päische Kommentare auffiel? Wird das Bündnis mit einem fragwür­digen Politiker der Opposition tatsächlich mehr Stimmen unter den Bauern bringen als es unter Umständen bei anderen Wählern kostet?

Nicht wenige reiben sich auch daran, dass frühere Positionen der Tusk-Partei ohne Debatte aufge­geben oder bewusst unscharf gehalten werden. Vor zwei Jahren beispiels­weise stimmten fast alle PO-Abgeord­neten noch gegen den Bau einer Mauer an der polnisch-belarus­si­schen Grenze, über die der belarus­sische Präsident Lukaschenka gezielt Flücht­linge ins Nachbarland drängte. Heute möchte eine Europa­ab­ge­ordnete der PO die Mauer bei einem Wahlsieg der Opposition einreißen lassen, ein Abgeord­neter der PO im polni­schen Parlament hingegen hält sie inzwi­schen für erfor­derlich. Tusk selbst twitterte sibyl­li­nisch: Da durch den Grenzzaun täglich eine Rekord­anzahl von Menschen gelange, müsste im Referendum eigentlich gefragt werden: „Bist du für den Bau einer wirklichen Barriere an der Grenze zu Belarus?“

 

Auch die Opposition vermeidet heikle Themen im Wahlkampf

Bisher hat sich die Opposition haupt­sächlich darauf konzen­triert, die inhumane Behandlung von Flücht­lingen anzuprangern. Für ihrem Film „Grüne Grenze“, in dem das brutale Vorgehen im polnisch-belarus­si­schem Grenzland aufge­deckt wird, erhielt die polnische Filmre­gis­seurin Agnieszka Holland in Venedig gerade den Spezi­al­preis der Jury. Doch Empathie und Solida­rität ersetzen kein kohärentes Programm. Auch auf Seiten der Opposition gibt es keine Unter­scheidung zwischen Asylbe­werbern und Wirtschafts­flücht­lingen. Auch die Opposition verweist nicht darauf, dass Polen genauso wie Deutschland ein demogra­phi­sches Problem hat und in Zukunft Zehntau­sende von Fachkräften wird aufnehmen müssen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. (Nur durch die Arbeit der vielen ukrai­ni­schen Flücht­linge konnte der Arbeits­kräf­te­mangel bisher verdrängt werden.) Im Wahlkampf sollen heikle Themen lieber nicht berührt und erst recht nicht kontrovers disku­tiert werden. „Im Wahlkampf brauchen wir Hierarchie“, sagt die PO-Senatorin Agnieszka Gordon-Kramer aus Bielsko-Biala, „und ich vertraue Donald Tusk.“

 

Tusk hat eine schwierige Aufgabe

Tusk würde sehr gut navigieren, bescheinigt auch der dem unabhän­gigen linken Spektrum zuzuord­nende Publizist Slawomir Siera­kowski dem Opposi­ti­ons­führer. Er habe eine „super­schwierige Aufgabe”: Einer­seits dürfe er nicht völlig zum Populisten werden, anderer­seits den Populisten aber auch nicht das Feld überlassen. Ohne gewisse populis­tische Versprechen, so ist Siera­kowski überzeugt, werde auch der Opposi­ti­ons­führer nicht auskommen, um die Chance der Macht­über­nahme nicht zu verspielen. „Hier muss man gegen die Rote Armee gewinnen (gemeint ist PiS), und nicht gegen elegante, raffi­nierte Intellektuelle.“

Für viele Frauen­recht­le­rinnen ist der Oppor­tu­nismus der PO aller­dings nicht mehr akzep­tabel. Noch im Sommer 2022 hatte Tusk versprochen, dass auf der Liste der Bürger­plattform PO niemand würde kandi­dieren können, der sich nicht gegen das Abtrei­bungs­verbot einsetze und für die Möglichkeit einer Abtreibung bis zur 12. Woche plädiere. Doch entgegen diesem Versprechen nahm er den Rechts­anwalt Roman Giertych auf, einen ehemals ultra­kon­ser­va­tiven Politiker und Kabinetts­kol­legen von Jaroslaw Kaczynski, der aus seiner Ablehnung von Abtreibung und seiner Antipathie gegenüber Homose­xu­ellen und Trans­se­xu­ellen niemals einen Hehl machte und macht. Aller­dings war er in letzter Zeit in Konflikt zur PiS-Regierung geraten. Reicht es inzwi­schen schon, gegen PiS zu sein, um von der Bürger­ko­alition willkommen geheißen zu werden?

 

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Die Opposition kann nur mit dem „Dritten Weg“ gewinnen

Jenen, die ihr Vertrauen zur Tusk-Partei verloren haben, bleibt noch die Wahl von zwei kleineren Blöcken, der „Linken“ (Lewica) einer­seits und dem „Dritten Weg“ anderer­seits. Scheint der Einzug der Linken ins Parlament mit 8 bis 10 Prozent in den Umfragen als relativ sicher, so könnte der Dritte Weg unter Umständen scheitern. Denn als Bündnis zweier Parteien braucht er mindestens acht Prozent der Stimmen. Bliebe er unter der erfor­der­lichen Prozentzahl würde er die Opposition um ihren Sieg bringen. Denn nur mit dem Dritten Weg kann die Opposition gewinnen. Der ehemalige Staats­prä­sident Bronislaw Komorowski, obwohl selbst Mitglied von PO, forderte deshalb schon zur Wahl des Dritten Weges auf.

 

Überra­schender Aufschwung für die rechts-libertäre „Konfe­deracja“

Im rechten Spektrum gibt es aller­dings ebenfalls einen Unsicher­heits­faktor. Wie stark wird die Konfö­de­ration-Partei (Konfe­deracja) werden, eine Partei, die aus drei verschie­denen Strömungen besteht? Jahrelang bildete sie unter einem eher skurrilen Führer nur eine Rander­scheinung im politi­schen Leben. Mit zwei jungen neuen Vorsit­zenden erfuhr sie in den letzten Monaten aller­dings einen überra­schenden Aufschwung, erhielt in Umfragen bis zu 15 Prozent und pendelt sich inzwi­schen bei 8 bis 10 Prozent ein.

Ihre Anhän­ger­schaft findet die Konfö­de­ration vor allem unter Männern zwischen 18 und 40. Das Programm ist radikal: wirtschaftlich libertär – für einfache und niedrige Steuern, Auflösung der Kranken­ver­si­cherung, Schluss mit dem Kindergeld und der 13. und 14 Rente! Kein Sozia­lismus! Jeder soll selbst entscheiden, wofür er sein Geld ausgibt. Seid selbst­be­wusst und traut euch etwas, lautet die Botschaft. Boleslaw Foltyn, der Kandidat der Konfö­de­ration in Bielsko-Biala, lebt es vor. Er begann mit dem Handel von Handys, inzwi­schen gehören ihm vier große Restau­rants und Klubs in der Stadt: „Jeder ist seines Glückes Schmied!“ Dann ist da aller­dings noch die andere Seite der Konfö­de­ration: zumindest in Teilen sind ihre Mitglieder natio­na­lis­tisch, euroskep­tisch, antiukrai­nisch, prorus­sisch, antise­mi­tisch, frauen­feindlich und fremden­feindlich – mit einem Wort: reaktionär. Wie lange das libertäre Wirtschafts­ver­ständnis als überwöl­bender Programm­punkt kulturell durchaus unter­schied­liche Strömungen zusam­men­halten kann, muss sich erst noch zeigen.

 

„Konfe­deracja“ setzt auf ein Scheitern der Regierungsbildung

Aufgrund des liber­tären Denkens verstehen sich aber alle Strömungen der Konfö­de­ration als Anti-These zu den beiden großen politi­schen Lagern. Auf keinen Fall, erklärt ihr Vorsit­zender Mentzen beharrlich auf jeder Wahlkampf­ver­an­staltung, werde seine Partei eine Koalition mit PiS eingehen. Auch nicht, wenn PiS zum Wahlsieg einen Partner brauche. Statt­dessen setzt die Konfö­de­ration auf das Scheitern der Regie­rungs­bildung, so dass Neuwahlen nötig würden. Dann erhielte die Partei mehr Zeit, um ihre Vorstel­lungen unter das Volk zu bringen und selbst Einfluss auf die Regie­rungs­bildung nehmen zu können.

Es gibt aber noch andere Szenarien: Auch wenn die Konfe­deracja keine Koalition mit PiS bilden würde – es könnte doch einzelne Überläufer geben? Manche imagi­nieren noch radikaler: Könnten einzelne Überläufer der Konfe­deracja nicht auch der Opposition zum Sieg verhelden?

Es wird spannend am 15. Oktober 2023. Für die Opposition ist klar: Wenn PiS weiter regiert, kommt die Demokratie im Lande noch weiter ins Rutschen. PiS hingegen behauptet: Käme die Opposition an die Macht, würde Polen seine nationale Souve­rä­nität an auslän­dische Mächte, vor allem an Deutschland verlieren. So oder so: Deutschland kann der Ausgang nicht gleich­gültig sein, denn er wird in jedem Fall gravie­rende Folgen haben: für Deutschland und für ganz Europa.

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