„Ein unruhiger Freigeist und ruhender Pol in einer Person“ – Zu Joachim Gaucks 85. Geburtstag

Dieser Tage feierte Joachim Gauck, eine der heraus­ra­genden politi­schen Persön­lich­keiten der Bundes­re­publik, seinen 85. Geburtstag. Wir dokumen­tieren die Rede, die Ralf Fücks auf einer Veran­staltung zu Ehren des Jubilars am 25. Januar hielt. Kein Staatsakt, sondern ein Zusam­men­kommen zahlreicher Freunde, Wegge­fährten und der Familie. Eine Referenz an Joachim Gauck und seine Liebe zur Freiheit und ein Rückblick auf eine Zeitspanne deutscher Geschichte mit aktuellen Bezügen.

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Ralf Fücks

Bürger Gauck

Rede zu Joachim Gaucks 85. Geburtstag 

Verehrte Gäste, liebe Freun­dinnen und Freunde des Jubilars, liebe Familie, liebe Daniela, lieber Jochen!

als ich gefragt wurde, zu Deinem 85. Geburtstag zu reden, sagte ich freudig und spontan zu: Eine Ehre, die man nicht ausschlagen kann. Als ich aber erfuhr, dass ich nicht in einer bunten Reihe von Gratu­lanten sprechen, sondern die Laudatio auf Dich halten soll, begann ein nervöses Kribbeln. Das ist dann doch eine späte Reife­prüfung mit erheb­licher Fallhöhe. Nun denn – versuchen wir es also.

Ich werde von Dir als öffent­liche Person sprechen. Das ist erstens mehr als genug Stoff, zweitens ist das der Joachim Gauck, den ich besser kenne, und drittens halte ich die Unter­scheidung zwischen privat und öffentlich nach wie vor für eine kultu­relle Errun­gen­schaft, die es gegen die Tyrannei der Intimität zu vertei­digen gilt – eine treffende Metapher des Sozio­logen Richard Sennett.

Wenn man sich Deine Biografie vor Augen ruft, scheint es fast so, als sei Deine Zeit als Bundes­prä­sident die logische Vollendung Deines Lebenswegs. Das ist natürlich eine Konstruktion vom Ende her. Joachim Gauck als Hausherr im Bellevue, das war ja eine äußerst unwahr­schein­liche Fügung der Dinge.

Aber man kann Dich und Deinen wunder­samen Lebensweg wohl nur verstehen, wenn man ihn als die Summe der Prägungen liest, die Du vor und nach dem Fall der Mauer erworben hast: Deine Abneigung gegen autoritäre Beglü­ckungs­systeme, Deine Liebe zur Freiheit, Deine Wertschätzung für den Rechts­staat, Deine Antenne für die Bedro­hungen der Demokratie und Dein Sinn für eine aktive Bürger­ge­sell­schaft. All das sitzt bei Dir tiefer als bei vielen, die allen­falls vom Hören­sagen wissen, was es bedeutet, in einem Unrechts­staat zu leben – und wieviel Anstand und Mut es braucht, sich nicht mit ihm gemein zu machen. Man spricht anders über die Freiheit, wenn man sich aus der Unfreiheit befreit hat.

Dass der Vater, ein Gegner des SED-Regimes, im Sommer 1951 plötzlich spurlos verschwand, war eine solche Prägung fürs Leben. Die Familie erfuhr erst zwei Jahre später, dass er von einem geheimen sowje­ti­schen Militär­ge­richt zu zweimal 25 Jahren Straf­lager wegen „Spionage und antiso­wje­ti­scher Hetze“ verur­teilt worden war.

Du warst damals ein elfjäh­riger Junge. Die Mutter schärfte den Kindern ein: „Wenn euch jemand fragt, wann ihr in die Pioniere eintretet, dann antwortet ihr: Ihr könnt wieder fragen, wenn wir wissen, wo unser Vater ist und wann er wieder­kommt.“ Am Ende war es Konrad Adenauer und seiner Initiative zur Freilassung Tausender Kriegs­ge­fan­gener und politi­scher Häftlinge zu verdanken, dass auch der Vater zurück­kehren konnte. 

Zu den jungen Pionieren und zur FDJ bist Du dennoch nicht gegangen. Dein Wunsch, Germa­nistik zu studieren, wurde Dir verweigert. Also wähltest Du die Theologie. Keine schlechte Entscheidung – die Kirche war einer der wenigen Flucht­räume für kritische Geister.

Auch die Landschaft des Fisch­lands mit ihrer Weite, ihrem hohen Himmel und den am Horizont vorüber­zie­henden Schiffen hat Dich geprägt. Wer an der Küste gelebt hat, kennt diese Sehnsucht, die der Anblick der großen Schiffe weckt: „Hinaus ins Offene“. In der DDR blieb Dir die äußere Welt versperrt. Eine andere Art von Steuermann bist Du doch geworden, und ein Menschen­fi­scher dazu.

Wenn Joachim Gauck in seinem Vorwort zur Neuausgabe von Heinrich Heines „Winter­märchen“ vom „geistigen Exil“ spricht, in das Heine schon früh gedrängt wurde, von einem Leben im „halb-drinnen, halb-draußen“, klingen seine eigenen Erfah­rungen an. Als Kirchenmann hielt er kriti­schen Abstand zum Regime. Die Stasi hatte ihn im Visier. Er blieb standhaft, anders als jene falschen Freunde der Dissi­denten, die sich nach dem Fall der Mauer als troja­ni­sches Pferd der Mielke-Truppe entpuppten – auch in der Kirche.

Vom Pfarrhaus in die Politik

Als sich die histo­rische Chance auf Verän­derung bot, griff Jochen mit beiden Händen zu. Es muss eine glück­liche Zeit gewesen sein. Die Faszi­nation dieses Aufbruchs erfasste auch mich. Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich den anschwel­lenden Ruf „Wir sind das Volk!“ von damals höre. Du fasstest den Zauber des Augen­blicks in die Worte: „Wir sagen unserer Angst Auf Wieder­sehen“. Vielleicht ist das die Quint­essenz der Demokratie: die Freiheit von Furcht. Erst sie macht wirklich frei.

Freiheit ist ja Glück und Bürde zugleich, Chance auf Selbst­be­stimmung und Last der Verant­wortung für das eigene Leben, für die eigenen Entschei­dungen und Irrtümer. Freiheit braucht Mut und Selbstvertrauen.

Von heute aus betrachtet, mag unser Bild von der „fried­lichen Revolution“ allzu ideali­sierend sein. Aber zumindest für eine relevante Minderheit ging es tatsächlich um Freiheit. Und diese Minderheit war geschichts­mächtig, weil „die da oben nicht mehr konnten und die da unten nicht mehr wollten“, um einen bekannten Revolu­tionär des letzten Jahrhun­derts zu zitieren.

Auch die geopo­li­tische Konstel­lation war günstig. Marko Martin hat jüngst im Bellevue daran erinnert, dass es die Polen, Tschechen und Ungarn waren, die den Weg zu Demokratie und Einheit in Deutschland bahnten.

Mit der „Wende“ begann auch für Joachim Gauck ein neues Leben. Bei den Wahlen im März 1990 zog er als Kandidat des „Neuen Forum“ Rostock in die Volks­kammer ein. Im September wurde er „Sonder­be­auf­tragter für die perso­nen­be­zo­genen Unter­lagen des ehema­ligen Staats­si­cher­heits­diensts der DDR.“ Kurz darauf, nach dem Beitritt zur Bundes­re­publik, bestä­tigte ihn der Bundestag in dieser Funktion.

Du führtest die Stasi-Unter­la­gen­be­hörde so souverän, dass alle Welt von der „Gauck-Behörde“ sprach. Das Interesse war riesig. In den ersten 100 Tagen Deiner Amtszeit wurden sage und schreibe 420.000 Anträge auf Akten­ein­sicht gestellt.

Aber die Wirkung der Behörde – die dann von Marianne Birthler weiter­ge­führt wurde – musste begrenzt bleiben. Sie konnte die politische und recht­liche Aufar­beitung der SED-Diktatur nicht ersetzen. Wir unter­schätzen leicht, welche Prägungen 63 Jahre autori­tärer Herrschaft im Denken und Fühlen hinter­lassen und wie schwer es ist, sie loszuwerden.

Die „autoritäre Dispo­sition“, von der Du sprichst – gepaart mit einer aggres­siven Opfer­men­ta­lität -, ist kein ostdeut­sches Privileg. Verun­si­cherung über den perma­nenten Wandel und Furcht vor Kontroll­verlust greifen auch im Westen um sich. Sie sind der Resonanz­boden für den Aufstieg des Populismus und den anschwel­lenden „Ruf der Horde“, wie Karl Popper den archai­schen Impuls nennt, Sicherheit in geschlos­senen Gemein­schaften mit einem autori­tären Rudel­führer zu suchen.

Als er nach zwei Amtspe­rioden die Stasi-Unter­la­gen­be­hörde verließ, war Joachim Gauck eine feste Größe der deutschen Öffent­lichkeit, sprach­mächtig und meinungs­freudig. Er lernte schnell auf der Klaviatur von Politik und Medien zu spielen und folgte doch seiner eigenen Partitur, schrieb seine Erinne­rungen[1], hielt Vorträge und war irgendwie immer präsent.

Du verfügst über eine erstaun­liche Fähigkeit, zwischen allen politi­schen Stühlen zu sitzen und zugleich anschluss­fähig an alle demokra­ti­schen Richtungen zu sein. In einem Gespräch mit dem „Spiegel“ hast Du Dich als „linken, liberalen Konser­va­tiven“ bezeichnet. Ein bisschen Grün gehört wohl auch ins Farbspektrum.

Es war deshalb keine Überra­schung, dass SPD und Grüne Dich nach dem Rücktritt Horst Köhlers im Frühjahr 2010 als Kandi­daten für das Amt des Bundes­prä­si­denten aufs Schild hoben. Überra­schend war eher, dass Angela Merkel und die Union einen eigenen Kandi­daten gegen Dich aufboten. Als aber auch Christian Wulff seinen vorzei­tigen Rücktritt einreichte, führte kein Weg mehr an Dir vorbei.

Am 18. März 2012 wurdest Du mit großer Mehrheit gewählt. Die Republik hatte ihr erstes wahrhaft gesamt­deut­sches Staats­ober­haupt. Und siehe da: Der Mann passte zum Amt und das Amt zum Mann. Du warst nicht – wie andere ehemalige Bürger­rechtler – auf der Suche nach einem „dritten Weg“ zwischen Kapita­lismus und Sozia­lismus. Die Kombi­nation aus liberaler Demokratie und sozialer Markt­wirt­schaft war Dir auf den Leib geschnitten. Sie galt es zu vertei­digen und zu erneuern.

Freiheit und Verantwortung

Lieber Jochen,

Rüdiger Safranski hat in einer schönen Rezension Deines Freiheits­buchs[2] geschrieben, dass man Dir „das Vergnügen an der Freiheit anmerkt.“ Für Dich waren und sind all die Kostbar­keiten einer freien Gesell­schaft nicht selbst­ver­ständlich – die Meinungs­freiheit und die freie Berufswahl, die Religi­ons­freiheit, die Freiheit, sich in Parteien und Initia­tiven seiner Wahl zu engagieren, die Reise­freiheit wie die Freiheit zu entscheiden, wie und wo man leben will.

Mit Hannah Arendt gilt Dir die Freiheit als Sinn und Ziel aller Politik. Sie ist Dir aller­dings mehr als bloße Abwesenheit von Zwang. In Deinem Verständnis sind Ermäch­tigung zur Freiheit und Aufruf zur Verant­wortung nicht zu trennen: Verant­wortung für das eigene Tun und Lassen wie gegenüber dem Gemein­wesen, das diese Freiheit erst ermög­licht. Wer die eigene Freiheit schätzt, muss zugleich die Freiheit aller wollen. Freiheit ist eine Gemeinschaftsproduktion.

Du hast auch die Freiheits­grade, die das Amt des Staats­ober­haupts lässt, bis zum Rand ausge­schöpft. In der Bundes­re­gierung und den Parteien löste das nicht immer ungeteilte Freude aus. Ich will zwei Beispiele hervor­heben, in denen Du politi­schen Mut und Weitblick bewiesen hast. Beide sind immer noch aktuell.

Neue Wehrhaf­tigkeit

Das erste Beispiel steht für Deinen geschärften Sinn für die Bedrohung der Freiheit durch Russlands Rückfall in autoritäre und imperiale Tradi­tionen. Im Juni 2014 – nach der russi­schen Invasion in der Ostukraine und der Annexion der Krim – sagtest Du auf einer Gedenk­ver­an­staltung zum Beginn des 1. Weltkriegs: „Der Wider­stand Russlands gegen eine Annäherung der Ukraine an die Europäische Union hat uns mit Denkmustern konfron­tiert, die wir auf unserem Kontinent für längst überwunden hielten. Was wir heute erleben, ist altes Denken in Macht- und Einfluss­sphären – bis hin zur Desta­bi­li­sierung fremder Staaten und zur Annexion fremder Terri­torien.

In Deiner Danziger Rede zum 75. Jahrestag des deutschen Angriffs auf Polen hast Du nochmal nachgelegt: Russland habe die Partner­schaft mit dem Westen faktisch aufge­kündigt. Und Du fügtest hinzu: „Die Geschichte lehrt uns, dass terri­to­riale Zugeständ­nisse den Appetit von Aggres­soren oft nur vergrößern.“

Wie wahr, und wie aktuell! Man möchte es allen ins Stammbuch schreiben, die heute wieder der Illusion huldigen, die imperialen Ambitionen Putins seien zu befrieden, indem man ihm die eroberten Gebiete der Ukraine zum Fraß vorwirft.

Schon bei der Eröffnung der Münchner Sicher­heits­kon­ferenz am 31. Januar 2014 hattest Du ungewohnte Töne angeschlagen. Deine Rede zielte auf eine Neuaus­richtung der deutschen Außen- und Sicher­heits­po­litik. Die deutsche histo­rische Schuld begründe kein „Recht auf Wegsehen“. Die Kultur militä­ri­scher Zurück­haltung dürfe nicht dazu führen, Hilfe zu versagen, wenn „Völkermord, Kriegs­ver­brechen, ethnische Säube­rungen oder Verbrechen gegen die Mensch­lichkeit“ drohen. Dann sei als „äußerstes Mittel“ auch der Einsatz von Militär gerecht­fertigt. Die Bundes­re­publik müsse „bereit sein, mehr zu tun für die Sicherheit, die ihr über Jahrzehnte von anderen gewährt wurde“.

Das war eine vorweg­ge­nommene Zeiten­wende-Rede. Du hast schon früh den Umbruch der inter­na­tio­nalen Lage erfasst. Von der deutschen Politik kann man das nicht sagen. Sie folgte weiterhin dem Mantra, dass es Sicherheit nur mit Russland geben könne. 2015, ein Jahr nach dem ersten Überfall auf die Ukraine, wurden die Nord Stream 2‑Verträge unter­schrieben. Die Bewaffnung der Ukraine blieb tabu. Abschre­ckung schien von gestern. Der Vertei­di­gungsetat wurde auf Sparflamme gedrosselt, eine Politik der Stärke gegenüber Russland als Säbel­rasseln abgetan.

Im Rückblick sind das verlorene Jahre, um Europas Sicherheit zu befes­tigen. Die Dinge hätten einen anderen Verlauf nehmen können. Warnende Stimmen gab es genug. Das böse Erwachen kam erst mit dem 24. Februar 2022. Ganz ist die Zeiten­wende immer noch nicht vollzogen. Sie ist sogar von einem akuten Rückfall bedroht.

Deutsch­lands Unter­stützung der Ukraine bleibt bis heute unent­schlossen. Dabei ist militä­ri­scher Druck auf Russland unerlässlich, wenn der Krieg nicht mit einem Diktat­frieden enden soll. Weshalb sollte Putin ernsthaft verhandeln, wenn er abwarten kann, bis die Ukraine zu Tode erschöpft ist?

Mehr noch: Erst ein Scheitern der russi­schen Aggression in der Ukraine eröffnet die Chance auf ein anderes Russland, vor dem sich andere Nationen nicht länger fürchten müssen. Du hast dieser Tage daran erinnert, dass Deutschland letztlich nur durch die Niederlage im 2. Weltkrieg zur Vernunft gekommen ist. Daraus könnte man Lehren ziehen.

Humanis­ti­scher Realismus

Das zweite Beispiel fällt in die Zeit der großen Flucht, die 2015 mehr als eine Million Menschen nach Deutschland führte – Kriegs­flücht­linge aus Syrien, aber auch viele, die sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben auf den Weg nach Westeuropa gemacht hatten. Es war die Zeit einer berüh­renden, fast märchen­haften „Willkom­mens­kultur“ in Deutschland.

Die Bundes­re­gierung tat ihr Bestes, um gemeinsam mit Ländern und Gemeinden die Situation zu bewäl­tigen. Aber außer dem berühmten „Wir schaffen das!“ gab es wenig Kommu­ni­kation mit der Gesell­schaft. Dafür umso mehr offene Fragen: Wie sollte es weiter­gehen? Es zeichnete sich schon bald ab, dass die Flücht­lings­frage ein heftiges Konflikt­po­tential barg.

In dieser Situation ergriff Jochen Gauck Ende September 2015 das Wort. Er dankte den vielen Freiwil­ligen und verwies auf die histo­rische Verant­wortung Deutsch­lands, Zuflucht vor Verfolgung und Krieg zu gewähren. Dann kamen Sätze, die ans Einge­machte gingen: „Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglich­keiten sind endlich.“ Um die Bereit­schaft zur Aufnahme von Flücht­lingen zu wahren, müssten „Staaten und ein Staaten­verbund wie die Europäische Union ihre äußeren Grenzen schützen.“

Das ist heute so aktuell wie damals. Richtig bleibt: Wer vor politi­scher Verfolgung und Krieg flieht, muss einen sicheren Ort finden. Und auch das: Die Einwan­derung leistungs­be­reiter Menschen ist ein Gewinn. Aber ohne effektive Steuerung, wer in welcher Zahl ins Land kommt, verlieren wir die Akzeptanz großer Teile der Gesell­schaft. Wer das Asylrecht schützen will, muss auch bereit sein, Menschen ab- und auszu­weisen, die keinen Schutz­status beanspruchen können; erst recht, wenn sie eine Gefahr für die Allge­meinheit bilden. Sonst geben wir denen Auftrieb, die Tabula Rasa machen wollen und ihr trübes Süppchen auf dem Feuer der Fremden­feind­lichkeit kochen.

Beunru­hi­gende Fragen

Lieber Jochen, Du hast es Dir nie in der Rolle des morali­schen Mahners bequem gemacht. Bloße Gesin­nungs­ethik ist allzu wohlfeil. Für Dich geht es um politi­sches Handeln, das die Gebote der Mensch­lichkeit und der prakti­schen Vernunft zur Deckung bringt.

Aller Ämter ledig, bist Du heute wieder ein Bürger im besten Sinn. Einer, der sich in die öffent­lichen Angele­gen­heiten einmischt – mit der Zurück­haltung, die einem ehema­ligen Bundes­prä­si­denten ziemt, aber mit dem Gewicht Deiner Erfahrung und Urteilskraft.

Dein jüngstes Buch trägt den Titel „Erschüt­te­rungen. Was unsere Demokratie von innen und außen bedroht.[3] Du hast es gemeinsam mit Helga Hirsch verfasst, mit der Dich eine langjährige produktive Freund­schaft verbindet. Von den vielen Fragen, die ihr aufwerft, finde ich eine besonders beunru­higend: „Wäre unsere Gesell­schaft überhaupt bereit, die liberale Demokratie mit Entschlos­senheit zu vertei­digen?“.

Die Zweifel kommen nicht von ungefähr. Das Gefähr­liche an unserer Lage ist ja weniger die Stärke der Feinde der Freiheit, sondern die Willens- und Handlungs­schwäche der liberalen Demokratien. Dabei wäre demokra­tische Entschlos­senheit dringend nötig.  Eine autoritäre Inter­na­tionale ist angetreten, die liberale Weltordnung umzustoßen. Die USA sind nicht länger die verläss­liche Anker­macht des Westens. Die demokra­tische Mitte zerbröselt, die Gegner der liberalen Demokratie wittern Morgenluft.Die Zeiten erinnern an die Zeilen des irischen Dichters William Butler Yeats aus seinem berühmten Poem „The Second Coming“: „Die Dinge fallen ausein­ander /​ Das Zentrum hält nicht mehr /​ Den Besten fehlt‘s an Überzeugung /​ Die Schlimmsten sind voll inten­siver Leidenschaft.“

Woher also Zuver­sicht nehmen, trotz alledem?
Vaclav Havel hat darauf eine Antwort gegeben: Man muss das für richtig Erachtete tun, unabhängig von den Erfolgs­aus­sichten. Und darauf hoffen, dass der Geist der Freiheit immer wieder aufbricht, an unerwar­teten Orten und in unerwar­teten Momenten. In den Worten von Joachim Gauck: „Es gibt keinen Still­stand. Nicht einmal für Menschen, die am Abend ihres Lebens stehen. (..) Ich weiß, wie viel Kraft dem Menschen innewohnt und wie er Dinge zum Guten zu wenden mag.[4]

Lieber Jochen,

Du hast das Kunst­stück fertig­ge­bracht, ein unruhiger Freigeist und ruhender Pol in einer Person zu sein, ein Suchender, der Orien­tierung gibt, ein Humanist und Realist zugleich. Du bist der beste Beweis, dass eine Position der demokra­ti­schen Mitte nicht langweilig sein muss. Langweilig war und ist es mit Dir nie.

Nun bist Du 85. Ein bibli­sches Alter.
Unser Leben, so heißt es im 90. Psalm, „währet siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre – und was daran köstlich erscheint, ist doch nur vergeb­liche Mühe; denn es fahret schnell dahin, als flögen wir davon.“

Wie wahr: Die Jahre sind rasch vergangen. Aber vergeblich war Deine Mühe nicht. Viel Glück und viel Segen! Bleib gesund und guter Dinge. Und flieg uns bitte noch nicht davon. Wir brauchen Dich!

[1] „Winter im Sommer, Frühling im Herbst“, München 2009

[2] Joachim Gauck, Freiheit. Ein Plädoyer. München 2012

[3] Erschüt­te­rungen. Was unsere Demokratie von innen und außen bedroht. München 2023

[4] Erschüt­te­rungen,  S.9

Textende

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