Wir dürfen die Debatte über den Frieden in der Ukraine nicht an die Populisten verlieren!
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Die Frage, welcher Frieden in der Ukraine anzustreben ist, beinhaltet auch die Frage danach, welche künftige Friedensordnung in ganz Europa verfolgt wird. Manuel Sarrazin warnt in seinem Policy Paper vor einer von Russland angebotenen Friedhofsruhe. In seiner Analyse nennt er 13 konkrete Punkte, die dem Westen als Leitfaden für Verhandlungen dienen sollten und die bei einem Frieden im nationalen deutschen und europäischen Interesse stehen.
Der Krieg in der Ukraine bestimmt die außenpolitische Debatte in Deutschland. Dabei diskutieren wir vor allem Bedingungen für einen Frieden, welche sich an von uns vermuteten Zielen der Kriegsparteien orientieren. Es werden kaum konkrete eigene deutsche oder europäische Interessen für die Ausgestaltung eines Friedens formuliert. In diese Leerstelle des Diskurses gehen die Populisten. Sie bedienen den nachvollziehbaren Wunsch nach Frieden mit Vorschlägen aus der Schublade der Kreml-Propaganda. Nicht nur Angst oder Unwissen führen zunehmend zu einer Haltung in der Gesellschaft, die der militärischen Unterstützung der Ukraine skeptisch oder neutral gegenübersteht. Es ist auch die fehlende politische Debatte über die deutschen und europäischen Interessen in diesem Krieg. Die scheinbare Irrelevanz der Ukraine für die Zukunft des Projekts Europäische Union ist dabei schlicht falsch. Tatsächlich entscheidet sich in der Ukraine, an der Peripherie Europas, die Zukunft der zentralen Gestaltungsinstrumente der EU: des europäischen Binnenmarkts und des Europarechts. Die Europäische Union, mit dem Europarecht und dem Binnenmarkt in ihrem Kern, ist eine mächtige und gleichzeitig sensible Konstruktion. Sie wird nicht nur in Brüssel, Straßburg, Berlin, Rom oder Paris verteidigt. Die Zukunft der EU im globalen Wettbewerb der Systeme entscheidet sich maßgeblich in der Ukraine. In der Ukraine entscheidet sich also, ob Demokratie der Herausforderung durch autoritäre Systeme gewachsen ist.
Ein ehrlicher Diskurs muss versuchen, das tatsächliche Dilemma der ukrainischen Gesellschaft zu erklären und gleichzeitig Alternativen zu dem Friedensdiskurs der kremltreuen Populisten aufzuzeigen. Politik muss den Menschen hier erklären, für welches Ziel und für welchen Frieden wir uns finanziell und politisch in diesem Krieg engagieren. Und wir müssen die Gesellschaft auf die Kosten eines Friedens vorbereiten. Dazu muss Europa darlegen, wie ein Frieden aussieht, der unseren Interessen dient. Denn leider ist nicht jeder Waffenstillstand im Interesse des Friedens, nicht jeder Frieden im Interesse Deutschlands und Europas. Zudem ist zweifelhaft, ob selbst eine Vereinbarung darüber auch real implementiert werden würde. Schon seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 gab es viele Waffenstillstände, aber keiner wurde lange eingehalten, vor allem von der russischen Seite. Und am Ende stand die große russische Invasion vom Februar 2022.
Einleitung und Zusammenfassung
Gegebenheiten eines Waffenstillstands oder einer Friedensvereinbarung
Der Kern des russischen Krieges in der Ukraine ist Putins imperialer Wunsch nach Kontrolle über die Ukraine, ja sogar nach neo-kolonialer demographischer Übernahme des Landes. Folgt ein Waffenstillstand oder eine Friedensvereinbarung auch nur annähernd der derzeitigen Lage an der Front, wird auch deshalb danach nicht alles wieder in Ordnung sein. Es ist realistisch davon auszugehen, dass Moskau einen neuen Krieg vorbereiten und seine hybriden Angriffe auch auf uns verstärkt fortsetzen wird. Zudem birgt ein Verhandlungsergebnis, das die Ukraine gesellschaftlich und politisch spaltet, weil es ihr die Perspektive auf Mitgliedschaft in EU und NATO nimmt, die Gefahr einer dauerhaften Destabilisierung der Ukraine. Eine Regionalisierung oder ein „Syrien-Szenario“ in der Ukraine würde die Nachbarschaft der EU dauerhaft destabilisieren. Es ist aber auch unrealistisch zu glauben, Russland wäre in der Lage, dauerhaft in der Ukraine für Stabilität im Sinne eines „Pax Russki“ („Russkij Mir“) zu sorgen, selbst wenn der Westen dafür politische Gewalt, Unterdrückung, ethnische und politische „Säuberungen“ und die Missachtung des Völkerrechts schweigend in Kauf nähme. Russland wird nicht für Stabilität sorgen. Lassen wir es gewähren, wird nur weitere Destabilisierung die Folge sein. Für Russland geht es in diesem Krieg ohnehin um mehr als nur die Ukraine. Putin greift das Prinzip an, dass die EU durch Annäherung und Mitgliedschaft Stabilität und positive Transformation schafft. Er will eine Eurasische Wirtschaftsunion aufbauen. Dafür braucht er die Ukraine politisch, ideologisch und ökonomisch.
Europa darf nicht erpressbar werden und muss seine Interessen definieren und seine Beiträge entlang dieser konditionieren
Es ist anzunehmen, dass sich ein Frieden in der Ukraine, der von Trump oder Putin bestimmt wird, nicht an europäischen Interessen ausrichten wird. Wenn es glaubwürdige Garantien für die Sicherheit der Ukraine geben soll, dann wird Europa diese nicht allein gewährleisten können. Vielmehr droht ein solcher Frieden, die EU erpressbar zu machen, vor allem gegenüber dem neuen US-Präsidenten. So könnte Trump versuchen, amerikanische Wirtschaftsinteressen im EU-Binnenmarkt mit der Drohung durchzusetzen, dass er Putin nicht erneut stoppen wird. Und er könnte so auch versuchen, den wirtschaftskräftigsten Binnenmarkt der Welt in einen möglichen Handelskrieg mit China zu zwingen. Sollte China zudem wichtig für die nicht-nukleare Gestalt des Krieges sein, kann uns das zudem gegenüber Peking schwächen. Ein Waffenstillstand oder eine Friedensvereinbarung, welche die ganze oder Teile der Ukraine aus der Geltung des Europarechts mit der Anwendung der vertieften Freihandelszone mit der EU (DCFTA) und der Reformagenda des EU-Beitritts herauslösen würden, bedeuten das faktische Ende der EU-Perspektive des Landes. Dies hätte auch direkte Konsequenzen für die Erweiterungspolitik in Georgien, Moldau und auf dem Westbalkan.
Europa und Deutschland müssen ihre möglichen Beiträge zu einem Frieden anhand von eigenen Interessen konditionieren. Europa wird den Frieden, die weitere Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte und den Wiederaufbau finanzieren müssen. Im Gegenzug für diesen Preis muss gesichert sein, dass die Ukraine weiterhin in das Wirtschafts- und Politiksystem der EU und NATO integriert wird. Mit dem ökonomischen Potential des Wiederaufbaus, mit ihrer Landwirtschaft, ihren Rohstoffen, dem Potential für Erneuerbare Energien und dem durch den Krieg weiterentwickelten technischen Knowhow in der Ukraine darf die Ukraine nicht – erst recht nicht finanziert durch uns – in den ökonomischen Einflussbereich Chinas oder sogar Russlands fallen. Das heißt auch, dass Europa von den ökonomischen Chancen eines Friedens profitieren können muss. Zudem darf nicht passieren, dass Russland über eine Kontrolle von Gebieten in der Ukraine mithilfe des DCFTA de facto einen Dumping-Marktzugang zum EU-Binnenmarkt für seine Produkte bekommt, und so als Ergebnis seines Krieges z.B. im Agrarbereich unseren Produzenten ohne Einhaltung von EU-Standards Konkurrenz machen kann.
Ich bin und bleibe der Überzeugung, dass die EU und die NATO die Ukraine mit allen gebotenen Mitteln militärisch unterstützen müssen, um einen nachhaltigen Frieden erreichen zu können. Aus meiner Sicht müssen wir auch die deutsche militärische Unterstützung steigern. Trotzdem bleibt es eine politische Schwäche derer, die wie ich die Ukraine unterstützen wollen, dass die Debatte über die langfristigen und grundsätzlichen Ziele und Perspektiven bisher nur in Expertenzirkeln geführt wird. Wir müssen darüber reden, welchen Frieden wir anstreben, wie die Friedensordnung in Europa nach dem Krieg aussehen soll. Unsere Friedensehnsucht ist zurecht groß und stark. Frieden ist in unserem Interesse, aber nicht jede Art von Frieden würde letztlich unseren Interessen dienen. Wenn wir wollen, dass das Angebot einer russischen Friedhofsruhe in der Ukraine nicht mit einem Frieden verwechselt wird, der deutschen und europäischen Interessen dient, dann müssen wir über den Frieden reden und streiten. Jetzt!
13 ausführliche Punkte: Unsere Interessen in der Ukraine
Auf den folgenden Seiten beschreibe ich in 13 Punkten deutsche und europäische nationale Interessen für einen Frieden in der Ukraine. Natürlich kann ich dabei nicht auf alle wichtigen Fragen umfassende Antworten liefern. Aber ich möchte eine Debatte anstoßen, wie ein Frieden aussehen kann, der sowohl ukrainischen als auch deutschen und europäischen Interessen dient. Ich habe meine Überlegungen unabhängig davon angestellt, wo in der Ostukraine in einem solchen hypothetischen Szenario eine neue mögliche Kontaktlinie oder ähnliches zu lokalisieren wäre. Sollte ein solches Szenario eintreten, wäre diese Frage aber natürlich sehr relevant.
- Der Kern des russischen Krieges in der Ukraine ist Putins imperialer Wunsch nach Kontrolle über die Ukraine, ja sogar nach neo-kolonialer Übernahme der Ukraine. Setzt man voraus, dass russische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in der Lage sind, Strategien über Zeiträume von Jahrzehnten zu formulieren und zu implementieren, sollten wir das genozidale Potential der russischen Politik in der Ukraine sehr ernst nehmen. Geht man davon aus, dass Putin die Ukraine zur Wiederherstellung eines russischen Imperiums zu brauchen glaubt, dann werden Moskaus Maßnahmen in der Ukraine dauerhaft grausamer sein, als die mit denen Moskau in den Jahren 2007–2014 und 2014–2022 in der Ukraine gescheitert ist. Es kann nur um die endgültige Eingliederung des ukrainischen Territoriums gehen. Um eine Ukraine, die also nicht nur russisch kontrolliert wird, sondern auch um das Gefühl „bereinigt“ ist ukrainisch zu sein. Das wird in Russland auch offen formuliert. Deswegen wollte und will Putin die große vollumfängliche Invasion vom Februar 2022, trotz aller Kosten. Schon 2014 annektierte Russland nicht nur die Krim und vertrieb neben den politischen Gegnern auch bekennende Ukrainerinnen und Ukrainer und die krim-tatarische Gemeinde. Auch in den so genannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk setzte der Kreml von Beginn an die bekannten Instrumentarien einer de-facto Annexion in Gang. Pässe wurden verteilt, die politischen und administrativen Strukturen vor Ort wurden Moskau unterstellt, völkerrechtswidrig wurden Männer zum Kriegsdienst gegen ihr eigenes Land gezwungen. Freie politische Meinungsäußerung oder Opposition wurden von Anfang an mit brutaler Gewalt, bis hin zu de facto standrechtlichen Erschießungen, unterdrückt. Kurz vor der Invasion im Februar 2022 folgte die Annexion. Seitdem ist das Vorgehen in der Ukraine noch brutaler. Die russischen Besatzer begannen in den neu besetzten ukrainischen Gebieten umgehend mit Kriegsverbrechen wie in den Städten Butscha oder Irpin, Todeslisten, Folterkammern, so genannten Lustrations- und Umerziehungslagern, Zwangsumsiedlungen und Kinderraub zu arbeiten.
- Folgt ein Waffenstillstand oder eine Friedensvereinbarung auch nur annähernd der derzeitigen Lage an der Front, wird danach nicht alles wieder in Ordnung sein. Es ist realistisch davon auszugehen, dass Moskau einen neuen Krieg vorbereiten und seine hybriden Angriffe auch auf uns verstärkt fortsetzen wird. Mit dem derzeit russisch besetzten Territorium hätte weder Putin seine Ziele vom Februar 2022 in der Ukraine erreicht, noch hätte der Westen ihn erfolgreich abgeschreckt, einen neuen Versuch zu wagen. Moskau wird den Traum eines gemeinsamen Hauses Europa auch in Zukunft nicht mit der EU oder Deutschland träumen. Deswegen müssen auch Deutschland und Europa einen realpolitischen Ansatz verfolgen. Eine intensivere oder vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Russland ist auch nach einem Waffenstillstand oder einer Friedensvereinbarung unrealistisch und nicht im europäischen Interesse. Vielmehr ist eine realistische Option, dass Putin seine durch den Krieg verbesserte militärstrategische Lage zu einem Angriff auf die Zentralukraine, Charkiw, vielleicht auch das Dnipro-Delta, Odessa und die Republik Moldau ausnutzen wird. Auch die sich häufenden Meldungen zu Zwischenfällen im Ostseeraum weisen darauf hin, dass Putin hier die Bereitschaft der NATO, ihre neuen Mitglieder zu verteidigen, ernsthaft testen könnte.
- Ein Frieden, der die Ukraine gesellschaftlich und politisch spaltet, weil er ihr die Perspektive auf Mitgliedschaft in EU und NATO nimmt, birgt die Gefahr einer dauerhaften Destabilisierung der Ukraine, vielleicht sogar des Zerfalls des ukrainischen Staates. Auch das ist ein mögliches Ziel der russischen Agenda. Die Ukraine als instabilen, in sich zerrissenen oder zerfallenen Staat in unserer Nachbarschaft können wir uns nicht leisten (Syrien-Szenario). Neben geostrategischen Gründen sind neue Fluchtbewegungen aus der Ukraine weder im Interesse der EU noch der Ukraine selbst.
- Es ist unrealistisch zu glauben, Russland wäre in der Lage, dauerhaft in der Ukraine für Stabilität im Sinne eines „Pax Russki“ („Russkij Mir“) zu sorgen, selbst wenn der Westen dafür politische Gewalt, Unterdrückung, ethnische und politische „Säuberungen“ und die Missachtung des Völkerrechts schweigend in Kauf nähme. Dass „Russkij Mir“ nicht funktioniert, hat nicht zuletzt die Geschichte der Ukraine bewiesen. Schauen wir zurück: Wenige Jahre nach der „Orangenen Revolution“ des Maidan von 2004 kam in demokratischen Wahlen eine pro-russische Regierung in Kyjiw an die Macht, die ökonomische Assoziation mit der EU versprach und über den EU-Beitritt verhandeln wollte. Selbst Putin sprach damals vom Ziel der Ukraine in der EU. Doch schon bald verband das Regime Janukowitsch seine Herrschaft mit zunehmend autoritären Elementen einer gelenkten Demokratie. Wieder nur wenige Jahre später versuchten dieselben Akteure, die Ukraine in die eurasische Wirtschaftsunion zu drängen und sie finanziell komplett an den Kreml zu binden. Dafür wurden die Verträge mit der EU auf Eis gelegt und eine neue Kreditvereinbarung mit Russland geschlossen, die das Land komplett dem Kreml ausliefern sollte. Um das durchzusetzen, wurde die Demokratie im Januar 2014 bis zur „Revolution der Würde“ auf dem Maidan Ende Februar 2014 abgeschafft. Dass der „Russkij Mir“ schnell auch eine russische Friedhofsruhe ohne Stabilität werden kann, war zuletzt in Syrien mit dem Fall des Kreml-Vasallen Bashar al-Assad deutlich sichtbar.
- In diesem Krieg geht es nicht nur um die Ukraine. Putin greift das Prinzip an, dass die EU durch Annäherung und Mitgliedschaft Stabilität und positive Transformation schafft. Das Fundament dieser Ordnung ist das wertegebundene Europarecht in unserem Binnenmarkt und seine Wirkung auch in unserer Nachbarschaft. Bisher ist der EU-Markt als der größte Binnenmarkt der Welt das wesentliche standardsetzende Instrument auf dem europäischen Kontinent. Das hat seit 1955 die Stabilität zunächst in Westeuropa gesichert. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde dieses Erfolgsprinzip mit den Erweiterungen der EU auch in den Osten übertragen. Immer wurde die Superiorität des Europarechts gewahrt. Voraussetzung für diese Erfolgsgeschichte waren dabei die Sicherheitsgarantien der NATO.
- Putin dagegen will eine Eurasische Wirtschaftsunion aufbauen. Dafür braucht er die Ukraine politisch, ideologisch und ökonomisch. Sein Modell basiert auf dem Prinzip eines ökonomischen Imperialismus, wie ihn Moskau jahrhundertelang genutzt hat. Mit dem Zugriff auf strategische Infrastruktur, Rohstoffe, Wirtschaft, Handelspolitik und Militär soll die Abhängigkeit der Vasallen erreicht werden. Russland will das sowjetische Imperium auf unserem Kontinent ökonomisch und politisch wieder aufbauen, mithilfe eines russisch dominierten supranationalen Binnenmarkts im Rahmen einer Eurasischen Wirtschaftsunion. Dazu muss Moskau die Rolle des EU-Binnenmarkts an den Rändern des europäischen Kontinents dauerhaft schwächen. Zunächst vielleicht nur in Osteuropa, aber mit dem Ziel, diese Ordnung grundsätzlich zu zerstören. Das russische Modell widerspricht diametral den zentralen politischen und wirtschaftlichen Prinzipien, auf denen die Grundpfeiler der EU ruhen. Diese Modelle können Handel miteinander treiben, aber sie können nicht miteinander verschmelzen. Die Ukraine hat sich aber für den Weg in Richtung EU entschieden. Deswegen ist es auch ein Krieg um die Vorherrschaft der europäischen Werte, des Europarechts und der Assoziierung mit unserem Binnenmarkt. Dazu kommt, dass das russische Modell im Gegensatz zur sowjetischen Zeit heute unter wachsendem Einfluss Chinas steht. Wenn wir sehen, wie sehr China der EU in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft (Westbalkan, Nahost, Sub-Sahara) geostrategischen und ökonomischen Einfluss streitig macht, hätte eine solche Entwicklung fatale Konsequenzen für die EU. Darüber hinaus hätte dieser Einflussverlust der EU auf dem europäischen Kontinent auch massive Konsequenzen für die europäische Rolle in der Welt, nicht zuletzt bei der global so wichtigen Frage der Agrarexporte aus der Ukraine, die bisher federführend von der EU organisiert werden.
- Ein Waffenstillstand oder eine Friedensvereinbarung, die ganze oder Teile der Ukraine aus der Geltung des Europarechts durch die Anwendung im Rahmen der vertieften Freihandelszone mit der EU (DCFTA) und der Reformagenda des EU-Beitritts herauslösen, bedeuten das faktische Ende der EU-Perspektive des Landes. Dieses hätte auch direkte Konsequenzen für die Erweiterungspolitik in Georgien, Moldau und auf dem Westbalkan. Seit dem Maidan 2004 ist klar, dass die Ukraine sich dem Europarecht und dem EU-Binnenmarkts nicht nur als Ziel des eigenen Reformprozesses annähern will, sondern auch unsere Regeln und Standards schon jetzt weitgehend intern und für den Handel mit der EU akzeptiert. Der Pfad Richtung EU wurde seit 2004 mit der Entwicklung der europäischen Nachbarschaftspolitik, mit der Einführung der Östlichen Partnerschaft der EU und letztlich mit dem Abschluss der vertieften und umfassenden Freihandelszone (DCFTA) mit der EU nach dem Maidan 2014 eingeschlagen. Die inzwischen begonnenen EU-Beitrittsverhandlungen haben diesen Pfad bestätigt. Die EU kann, auch wegen des mutigen Kampfes der Ukrainerinnen und Ukrainer gegen die russische Invasion, die Integration der Ukraine nicht aufgeben. Gibt die EU die Integration der Ukraine auf, zeigt sie allen Beitrittskandidaten, dass diese im Krisenfall nicht auf die EU zählen können. Gerade die Angst davor, ähnlich wie im Kalten Krieg vom Westen aufgegeben zu werden (Budapest 1956, Prag 1968 etc.), ist aber die Grundlage für eine Akzeptanz und zum Teil auch die Wahlerfolge pro-russischer Kräfte in der Region.
- Europa darf nicht zulassen, dass Russland über eine Kontrolle von Gebieten in der Ostukraine de facto die Möglichkeit eines Dumping-Marktzugangs zum EU-Binnenmarkt für seine Produkte bekommt. Im Gegensatz zur Situation in den von Russland illegal besetzten Gebieten Abchasien (in Georgien), Transnistrien (in Moldau) oder dem nördlichen Teil Zyperns ist eine Teilnahme von durch Russland besetzter – und laut seiner Verfassung inzwischen annektierter – Gebiete an den derzeitigen Freihandelsabkommen der EU mit Ukraine, Georgien und Moldau (DCFTA) absolut illusorisch und politisch, völkerrechtlich wie auch wirtschaftlich schädlich für unsere Interessen. Es ist ausgeschlossen, dass Russland auf dem aus seiner Sicht russischen Territorium europäische Standards einführen, geschweige denn kontrollieren lassen würde. Putin hätte so einen Marktzugang für russische Produkte in den EU-Binnenmarkt erreicht, der frei von der Einhaltung der EU-Standards funktionieren würde. Gleichzeitig besteht für die EU das Dilemma, dass die Nicht-Teilnahme von nach einem Waffenstillstand oder Friedensvertrag weiterhin russisch kontrollierten Gebieten am DCFTA eine faktische Teilung des Landes und damit de facto ein russisches Veto für einen EU-Beitritt des ganzen Landes akzeptiert.
- Wenn es glaubwürdige Garantien für die Sicherheit der Ukraine geben soll, dann wird Europa diese nicht allein gewährleisten können. 1994 garantierten im Budapester Memorandum die Vereinigten Staaten von Amerika, das Vereinigte Königreich und Russland die territoriale Integrität der Ukraine. Nur diese Garantie konnte die Ukraine damals dazu bewegen, ihre Atomwaffen aufzugeben. Schon in den 1990er-Jahren schürte Russland immer wieder Angst vor einer Übernahme der Krim. 2014 verstieß es mit dem Angriff auf die Ukraine und der Annexion der Krim gegen diese Garantie, ohne ernsthafte Folgen von Seiten der anderen Signatarstaaten. Auch die im so genannten Normandie-Format ausgehandelten Minsker Vereinbarungen für den Umgang mit dem russischen Krieg im Donbass seit 2014 wurden von Russland schon vor Februar 2022 zu keinem Zeitpunkt eingehalten, sahen sie doch unter anderem immer einen Abzug russischer Truppen und die Wiedereingliederung der Gebiete in die Ukraine vor. All diese Vereinbarungen und Garantien der territorialen Integrität der Ukraine konnten die großangelegte Invasion der gesamten Ukraine im Februar 2022 nicht verhindern. Vor diesem Hintergrund ist selbst bei einer Beteiligung europäischer NATO-Staaten an einer internationalen Friedenssicherungsmission in der Ukraine nach einem Waffenstillstand oder einer Friedensvereinbarung klar, dass nur die Konsequenz eines Eintritts von Garantiemächten mit Nuklearpotential in einen möglichen neuen Konflikt auf Seiten der Ukraine eine effektivere Sicherheitsgarantie als in der Vergangenheit bedeuten kann. Gleichzeitig ist vor dem Hintergrund der konventionellen und nuklearen Überlegenheit Russlands gegenüber den europäischen NATO-Staaten aber auch klar, dass diese Garantie nur mit der verlässlichen Bereitschaft der USA, sich ebenfalls in diesem Szenario entschlossen zu engagieren, wirkmächtig werden kann. Dabei wird wahrscheinlich nur eine Vereinbarung, das von der Ukraine kontrollierte ukrainische Territorium genauso zu verteidigen wie NATO-Gebiet, eine größere abschreckende Wirkung entfalten als die Garantien der letzten 30 Jahre.
- Ein Friedensschluss in der Ukraine, der von Trump oder Putin bestimmt wird, wird sich über europäische Interessen hinwegsetzen. Ein solcher Frieden droht die EU erpressbar zu machen, vor allem gegenüber dem neuen US-Präsidenten. Wenn Putin und Trump in der Lage sind, uns einen Frieden in der Ukraine zu diktieren, wie lange noch wird die EU-Kommission dann großen amerikanischen IT-Konzernen wie „X“ oder Meta Zügel anlegen können? Schließlich entscheidet in Washington der Präsident über die Frage, ob ein möglicher Verstoß Russlands gegen einen vereinbarten Waffenstillstand oder eine Friedensvereinbarung auch als solcher erkannt wird und was die Konsequenzen sind. Vor dem Hintergrund des transaktionalen Politikansatzes des neuen US-Präsidenten ist das Szenario, dass die EU sich abhängig von einer US-Garantie über eine eingefrorene Front macht, tatsächlich erschreckend. Putin würde seine ursprünglichen Kriegsziele in einem solchen Friedensszenario nicht erreichen, so dass der russische Appetit auf Mehr bleiben würde. Europas Frieden läge so in der Hand der Glaubwürdigkeit der US-amerikanischen Abschreckung, konkret der Abschreckung durch die Drohung eines nuklearen Erstschlags bei einem neuen konventionellen Angriff Putins auf den garantierten Teil der Ukraine. Oder kurz gesagt: Zumindest für die nächsten vier Jahre wäre der Frieden in Europa abhängig von Trump. Kaum vorstellbar, dass Trump, Musk und andere eine solche Machtposition nicht nutzen werden, um ihre ökonomischen und politischen Interessen in Europa durchzusetzen. Und viel mehr noch mit Hilfe ihres Einflusses auf den EU-Binnenmarkt ihre Interessen auch global zu forcieren. Seit vielen Jahren ist klar, dass die USA die Konkurrenz durch China ernst nehmen und sich ökonomisch und politisch zunehmend positionieren. Nach dem Scheitern einer regelgebunden ökonomischen Integration des so genannten Westens in einen mehr oder weniger eng gestalteten gemeinsamen Markt (TTIP) wird dennoch für die USA unter Donald Trump die Rolle des EU-Binnenmarkts beim Ausbau der eigenen Marktposition, auch in Bezug auf den Druck auf China, relevant sein. Das kann für die EU gefährlich werden.
- Sollte China zu einer Garantiemacht für eine Friedensvereinbarung in der Ukraine befördert werden, kann das die EU und den EU-Binnenmarkt zudem durch China erpressbar machen. Wenn China über den Weg der verdeckten militärischen Unterstützung Russlands nicht nur seine ökonomische Kontrolle in Russland ausbaut, sondern scheinbar ein Garant einer Nicht-Eskalation mit Atomwaffen in Europa wird, wie lange noch werden wir die Produktsicherheit gegen die Flut von subventionierten Waren durchsetzen können? Seit vielen Jahren ist der chinesische Wunsch klar formuliert, über die sogenannte Seidenstraße und wachsenden globalen ökonomischen Einfluss letztlich auch eine global hegemoniale politische Rolle einzunehmen.
- Wir brauchen einen Friedensplan, also einen Plan welchen Frieden wir wollen. Davon hängt ab, wie man dorthin kommt. Letzteres hängt jedoch vor allem von der Lage auf dem Schlachtfeld ab. Es unrealistisch zu glauben, dass Moskau oder Kyjiw mit der derzeitigen Lage der Front als mögliches dauerhaftes Ergebnis eines Krieges zufrieden sind oder es für die jeweilige Seite politisch vertretbar wäre, dies dauerhaft zu akzeptieren. Deswegen wird der Wille zum Frieden abhängig sein von der Lage auf dem Schlachtfeld. Russland wird erst dann gesprächsbereit sein, wenn es realistisch erscheint, dass es militärisch ins Hintertreffen gerät und eroberte Gebiete aufgeben muss. Es ist nicht davon auszugehen, dass eine Rückgabe von Territorium durch Russland auf dem Verhandlungsweg ohne militärischen Druck erreichbar ist. Eine solcher Ansatz hat seit 1991 weder in Georgien, Moldau, Belarus, der Ukraine oder Aserbaidschan funktioniert. Deshalb ist klar, dass mit mehr militärischer Unterstützung der Ukraine aus der EU, und damit natürlich auch aus Deutschland, die Chancen für einen besseren Frieden im Sinne europäischer Interessen steigen. Putin wird nur mit der Aussicht auf eine deutlich gesteigerte militärische Unterstützung der Ukraine dazu bereit sein, überhaupt über einen für die Ukraine – aber auch für die EU – akzeptablen Frieden zu verhandeln.
- Europa und Deutschland müssen ihre Interessen für den Fall eines Friedens in der Ukraine definieren und ihre möglichen Beiträge anhand ihrer Interessen konditionieren. Europa wird den Frieden, vor allem aber auch den Wiederaufbau, finanzieren müssen. Das heißt auch, dass Europa von den ökonomischen Chancen eines Friedens profitieren können muss. Es ist davon auszugehen, dass ein Waffenstillstand oder so genannter Frieden in der Ukraine entlang einer wie auch immer verlaufenden und bezeichneten neuen Kontaktlinie mit großen finanziellen und politischen Kosten verbunden sein wird. Es wird der Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur im ganzen Land, der Wiederaufbau der unter ukrainischer Kontrolle verbliebenen Städte und Industrie in der Nähe der Kontaktlinie, der Wiederaufbau der Landwirtschaft (inklusive Entminung), die Rückkehr und Wiedereingliederung der Flüchtlinge, der Ausbau des ukrainischen Militärs für den Fall eines neuen Angriffs und der Bau viel größerer und längerer Verteidigungsstellungen und vieles mehr bezahlt werden müssen. Weder Russland noch China werden die finanzielle Hauptverantwortung für den Wiederaufbau übernehmen, zumal in einem Szenario einer Friedensvereinbarung Reparationszahlungen von russischer Seite zwar wünschenswert, aber wenig realistisch sind. Auch die USA werden, nicht nur unter einem Präsidenten Trump, die Europäer in der finanziellen Hauptverantwortung sehen. Im Gegenzug für diesen Preis muss die EU dafür sorgen, dass die Ukraine weiterhin in das Wirtschafts- und Politiksystem der EU und NATO integriert wird. Mit dem ökonomischen Potential des Wiederaufbaus, mit ihrem Agrarpotential, den Rohstoffen und dem durch den Krieg weiterentwickelten technischen Knowhow der Ukraine darf sie nicht – erst recht nicht finanziert durch uns – in den ökonomischen Einflussbereich Chinas oder sogar Russlands fallen. Die begonnene Anbindung der Ukraine an EU und NATO muss deshalb auch nach einem Ende des Krieges fortgesetzt werden. Das ist auch der Weg, für den eine demokratische Mehrheit in der Ukraine steht und an der Front kämpft. Ohne eine Fortsetzung der Westbindung ist zudem fraglich, wie attraktiv eine Rückkehr in die Ukraine für die Millionen aus den heute russisch besetzten Gebieten Geflüchteten in der EU sein wird. Gleichzeitig werden die europäischen NATO-Staaten ihre eigenen Verteidigungsausgaben deutlich steigern müssen, und das alles in Zeiten teurerer Rohstoffe und enger werdender finanzieller Spielräume in der EU. Sicherlich werden weder Trump noch Putin oder Xi für die europäische Wirtschaft die Zeiten billiger fossiler Rohstoffe zurückkehren lassen. Die EU darf die ökonomischen Chancen eines Friedens, der die europäische Integration der Ukraine sichert, nicht an sich vorbeiziehen lassen.
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