Wenn der Wille des Volkes zur Gefahr wird

In seinem neuen Buch analysiert Mark Schieritz die populistischen Gefahren für unsere liberale Demokratie und fragt: Was, wenn nicht die Eliten, sondern der Wille des Volkes zur Gefahr wird? Alexander Schwitteck hat das Buch für uns gelesen.
Die liberale Demokratie ist in Gefahr durch den Populismus – eine Warnung, die in Dauerschleife läuft, allgegenwärtig und doch zunehmend bloße Hintergrundmusik. Angesichts der übersättigten Populismusdebatte drängt sich die Frage auf, ob sie überhaupt noch neue Erkenntnisse produziert oder lediglich altbekannte Argumente variiert. Es scheint, als wäre längst alles gesagt – nur noch nicht von allen.
Der ZEIT-Journalist und Leiter des Politikressorts, Mark Schieritz, begibt sich in seinem Buch „Zu dumm für die Demokratie?“ auf das vertraute Terrain des Populismusdiskurses. Seiner Analyse zufolge führt der populistische Anspruch auf Demokratisierung nicht zu einer Stärkung demokratischer Institutionen, sondern bewirkt im Gegenteil eine Entkernung der liberalen Demokratie. Unter dem Vorwand, dem Mehrheitswillen direkter und ungefiltert Ausdruck zu verleihen, werden zentrale Institutionen der liberalen Demokratie sukzessive geschwächt – so die Grundthese seines Buches. Dabei wirft er aber auch ein Thema auf, das oft stiefmütterlich behandelt wird: Liegt das Problem womöglich nicht nur bei „denen da oben“, sondern bei „uns hier unten“?
Hat das Volk immer Recht?
Schieritz nimmt eine Grundannahme des Populismus ins Visier: das unbedingte Vertrauen in die Weisheit der Mehrheit. Demokratie, so die landläufige Vorstellung, sei vor allem ein Verfahren, um Mehrheiten zu organisieren – und Mehrheiten hätten, so der populistische Kurzschluss, immer recht. Dass dies eine gefährliche Verkürzung ist, zeigt Schieritz eindrücklich.
Dieser Verabsolutierung der Mehrheit steht nämlich im Widerspruch zu dem besonderen Kennzeichen unserer „liberalen“ Spielart der Demokratie, nämlich dass nicht alles demokratisch entschieden wird. Dies arbeitet Schieritz am Beispiel der liberalen Grundrechte aus. Das deutsche Grundgesetz ist da eindeutig. Es belegt die ersten 20 Artikel, welche die Grundrechte und Freiheiten bestimmt mit einer Ewigkeitsklausel. Sie sind jeder demokratischen Mehrheit entzogen und unantastbar. Wenn man Demokratie nur auf das Entscheidungsverfahren reduzieren, dann wäre auch ein demokratischer Despotismus legitim in der eine Mehrheit immer eine Minderheit diskriminieren könnte.
Auch praktisch ist das Mehrheitsprinzip nicht so eindeutig, wie es scheint. Schieritz verweist auf das sogenannte „Allgemeine Unmöglichkeitstheorem“, das der Ökonom und Nobelpreisträger Kenneth Arrow bereits in den 1950er-Jahren formulierte. Mit Mitteln der Spieltheorie demonstriert Arrow, dass Wahlen die Präferenzen der Wähler nie perfekt in einen klaren „Volkswillen“ übersetzen können. Dieses Dilemma hat weitreichende Implikationen für unser demokratisches Selbstverständnis. Die Vorstellung eines klaren, homogenen „Volkswillens“ ist weniger Realität als demokratischer Mythos. Demokratie ist deshalb mehr als das bloße Zählen von Stimmen.
Einfach zu dumm für Demokratie?
Im titelgebenden Kapitel seines Buches benennt Schieritz einen Kerngedanken: Die wachsende Komplexität der Politik trifft auf ein mangelndes Wissen in der Bevölkerung. Diese Kluft gefährdet das demokratische Ideal von Freiheit und Gleichheit. Selbst ein minimalistisches Demokratieverständnis erfordert, dass Bürger unfähige Regierungen abwählen können. Das Problem liegt laut Schieritz jedoch weniger in fehlender Intelligenz als in einem rationalen Desinteresse an politischer Information – denn der Aufwand für fundierte Entscheidungen steht in keinem Verhältnis zum individuellen Einfluss. Eine alte Erkenntnis der politischen Ökonomie. Um dem entgegenzuwirken, fordert Schieritz mehr Bildung und eine strengere Regulierung sozialer Medien zur Eindämmung von Desinformation.
Diese Lösungsvorschläge greifen jedoch zu kurz, weil sie die strukturelle Tiefe des Problems unterschätzen. Die LEO-Studie der Universität Hamburg zeigt: 6,2 Millionen Menschen in Deutschland können kaum zusammenhängende Texte verstehen und bleiben auf Grundschulniveau. Dies sind immerhin 12,1 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. Politische Partizipation setzt nicht nur formale Möglichkeiten, sondern auch kommunikative und kognitive Kompetenzen voraus: Wer politische Sachverhalte nicht erfassen kann, wird kaum in der Lage sein, sich auf argumentativen Austausch, wechselseitiges Zuhören und Überzeugungsprozesse einzulassen und autonome politische Urteile zu fällen. Diese Einsicht mag drastisch erscheinen. Die oft gefeierte Ausweitung politischer Teilhabe gilt als Garant für Gerechtigkeit und Legitimität, doch sie droht durch das eklatante Wissensgefälle und die zunehmende Komplexität des politischen Systems konterkariert zu werden.
Der Politikwissenschaftler Veith Selk spricht angesichts dieser Befunde von einer „Kognitionsasymmetrie“, die große Teile der Bevölkerung faktisch von politischer Teilhabe ausschließt und damit eine undemokratische Machtasymmetrie perpetuiert. Diese strukturelle Ungleichheit trägt zur Entfremdung vieler Menschen des politischen Systems bei. Sie treten diesem nicht mehr als aktive Bürger mit legitimen Teilhabeansprüchen entgegen, sondern nehmen es nur noch als undurchschaubares Gebilde wahr, dem sie passiv unterworfen sind. Lebenskontexte, die weder Zeit noch Ressourcen für Informationsbeschaffung erlauben, treffen auf das epistemische Abgehängt-sein. Vom republikanischen Ideal des Bürgers als Adressat und Autor der Gesetze ist dies denkbar weit entfernt. Eine undemokratische Mischung, die in erster Linie eine Frage der Ungleichheit ist, nicht der Dummheit.
Was tun, wenn die Bevölkerung das Falsche wählt?
Jürgen Habermas sprach im Zuge der EU-Vertiefung der Nullerjahre Jahre von einem „Sog der Technokratie“. Es war eine Integration, die in erster Linie durch ihr Ergebnis legitimiert wurde, nicht durch den Willen der Bürger. Angesichts der geringen Qualität des gegenwärtigen demokratischen Diskurses erscheint eine verstärkte Verwissenschaftlichung der Politik als eine mögliche Antwort. Good Governance erreicht man am besten durch die ungehinderte Anwendung von Expertenwissen – dies ist das Credo der Technokratie. In den nicht-majoritären Arenen des politischen Entscheidens in etwa Zentralbanken, Verfassungsgerichten oder Expertenkommissionen ist dies längst gängige Praxis. Gerade in Hinblick auf das Krisenmanagement während der Corona Pandemie konnte man diesen Politikmodus beobachten. Politische Teilhabe kann aus dieser Perspektive nur noch als Störung oder Hintergrundrauschen registriert werden. Darin liegt der postdemokratische Kern der Technokratie. Die Bürgerschaft wird zum bloßen Publikum degradiert.
Jenseits der Selbstvergewisserungsformeln
Schieritz widersteht jedoch der technokratischen Versuchung. Ausdrücklich sieht er es als „Irrweg“ an, „das Volk wieder in den vorpolitischen Raum zu verbannen“. Mit Patentrezepten hält er sich auch zurück. Statt einer Auflistung politischer Forderungen beschränkt er sich darauf, auf Ideen zu verweisen, die er jedoch im Ungefähren belässt – wie dem Schmieden von demokratischen Allianzen, dem Ausschöpfen von Verboten verfassungsfeindlicher Parteien oder die Regulierung von sozialen Medien und Plattformen. Gerade dieses Fehlen einer expliziten Lösungsperspektive entpuppt sich als Stärke seines Buches, im Kontrast zu den großspurigen Anleitungen, die in der Literatur kursieren. In diesem Zusammenhang wäre deshalb vielleicht bereits viel gewonnen, wenn die strukturelle Tiefe der Problematik anerkannt würde, anstatt reflexartig nach mehr politischer Bildung zu rufen oder, wie mittlerweile üblich, zur rituellen Beschwörung von Bürgerräten zu greifen. Solche Maßnahmen, die kaum als „Gamechanger“ taugen, drohen zunehmend veraltet zu wirken, weil sie die Herausforderungen eher kosmetisch behandeln wollen als substanziell adressieren. Demokratische Folklore ist angesichts der Probleme, vor denen wir stehen ein Luxus, den wir uns nicht leisten können.
Mark Schieritz: „Zu dumm für die Demokratie?“ Wie wir die liberale Ordnung schützen, wenn der Wille des Volkes gefährlich wird. Droemer TB, München 2025. 160 S., br., 14,– €.
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