Gaza: Unabhängige humanitäre Hilfe schnell ermöglichen, UNWRA reformieren

Was ist nötig, um schnell und unabhängig Versorgung für die Menschen in Gaza bereit zu stellen? Und was soll aus der UNWRA werden? Kerstin Müller, Senior Fellow am Zentrum für Liberale Moderne, zur aktuellen Situation in Gaza und den Debatten des von LibMod koordinierten „Netzwerk Nahost – Wege aus Krieg, Terror und Besatzung“.
Seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober mit rund 1200 ermordeten israelischen Zivilisten, zahlreichen Verwundeten und traumatisierten Opfern dauert der längste Krieg Israels gegen die Hamas in Gaza inzwischen mehr als 600 Tage. Noch immer hält die Terrororganisation 55 der 251 am 7. Oktober entführten Geiseln gefangen, wobei vermutlich nur noch 20 von ihnen am Leben sind. Der Krieg in Gaza wurde bisher nur durch einen Waffenstillstand vom 19. Januar bis 2. März 2025 unterbrochen, der die Freilassung von 33 israelischen Geiseln sowie Hunderter palästinensischer Häftlinge aus israelischen Gefängnissen zur Folge hatte. Die USA, Katar und Ägypten verhandeln zurzeit einen neuen Waffenstilstand und Geisel-Abkommen. Bisher allerdings erfolglos.
Als Folge des Krieges spricht die UN von bisher mehr als 54 000 Toten sowie ca. 123 000 Verletzten auf der palästinensischen Seite. Mehr als 770 israelische Soldaten wurden getötet.
Akute Hungerkrise in Gaza
Nachdem die Hamas einer Verlängerung dieses Waffenstillstandes am 1. März nicht zustimmte, blockierte Israel seit dem 2. März die Einfuhr von Lebensmitteln in den Gazastreifen und verweigert internationalem Personal den Zugang. Hintergründe sind zum einen die Verstrickung der Hamas mit dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge, UNWRA, sowie zum anderen, laut israelischer Regierung, dass die Hamas sich durch den Diebstahl und Verkauf von internationaler Nahrungsmittelhilfe nach wie vor finanzieren soll. Während Ersteres durch zwei UN-Untersuchungskommissionen nachgewiesen wurde, ist das Ausmaß des Letzteren bislang nicht belegt.
Eine Folge des andauernden Krieges und der wochenlangen Blockade von Nahrungsmittel-Lieferungen ist eine akute Hungerkrise in Gaza. Laut einem aktuellen IPC Bericht (Bericht zur Integrierten Klassifikation zur Ernährungssicherheit) ist die gesamte Bevölkerung von 2,2, Millionen von Ernährungsunsicherheit betroffen und jeder 4. von Hungersnot bedroht, bereits 9 000 Kinder wurden wegen Unterernährung behandelt, viele sind bereits an Mangelernährung gestorben.
Chaos bei Versorgung der Menschen durch die private Stiftung GHF
Unter internationalem und wohl auch amerikanischem Druck hat der israelische Regierungschef Netanjahu am 19. Mai beschlossen, die Versorgung mit Nahrungsmitteln durch eine privates israelisch-amerikanische Organisation, die Gaza Humanitarian Foundation (GHF), wieder aufzunehmen, allerdings unter Protest des national-extremistischen Flügels seiner Regierung. Die GHF hat zunächst über 3 zentrale Verteilungszentren im Süden und sodann im Zentrum von Gaza die Verteilung mit Lebensmittelpaketen begonnen. Eine gravierende Änderung im System, denn bisher wurde die Hilfe dezentral verteilt, um einen möglichen Ansturm tausender Menschen zu verhindern. Auch die Versorgung der Menschen im Norden ist damit nicht gesichert. Bisher konnten laut GHF nur bis zu 25 LKW-Ladungen pro Tag ausgeben und damit nur ein Bruchteil der 2,2 Millionen Bewohner des Gazastreifens versorgt werden. Zudem handelt es sich um Trockennahrungsmittel, die mit Wasser und auf Kochstellen aufbereitet werden müssen, wozu auch Treibstoff erforderlich ist. Beides steht nur noch wenigen Menschen zur Verfügung, da auch die Gemeinschaftsküchen alle geschlossen wurden. In der Zeit vor der Blockade kamen demgegenüber circa 500–600 LKW Ladungen pro Tag in den Gazastreifen. Durch die neue Zentralisierung der Verteilung und den großen Hunger der Menschen wurden die Zentren daher bereits in den ersten Tagen völlig überrannt. Es herrschte Chaos und es gab Tote und Verletzte, so dass die GHF Anfang Juni die Verteilung vorerst für einige Tage einstellte.
Humanitäre Hilfe muss neutral, unparteilich und unabhängig sein
Abgesehen davon sieht das Konzept eine Versorgung von nicht mehr als 1,2 Millionen, d.h. nur 60 % der Menschen in Gaza vor. Was mit den übrigen mehr als 1 Millionen Menschen passieren soll, bleibt unklar. Angesichts dessen, dass Teile der Netanjahu-Regierung offen davon sprechen, dass sie den „Gazastreifen mit voller Kraft einnehmen, besetzen und besiedeln“, sowie „keine humanitäre Hilfe reinlassen“ wollen (so Finanzminister Smotrich), bleiben Zweifel, ob die angestrebte eingeschränkte Versorgung nicht Teil eines Wiederbesiedlungsplans der Regierung ist und die Nahrungsmittelblockade als Kriegswaffe eingesetzt wird. Auch die Art und Weise der Verteilung der humanitären Hilfe durch ein privates Unternehmen, unterstützt durch das israelische Militär, wird von UN-Organisationen scharf kritisiert, weil humanitäre Hilfe den Grundsätzen der „Neutralität, der Unparteilichkeit und der Unabhängigkeit“ folgen sollte. Diese Grundsätze werden durch die Verteilung durch ein privates Unternehmen, das wiederum durch private Sicherheitsunternehmen geschützt wird, die ihrerseits eng mit der IDF zusammenarbeiten müssen, missachtet.
Zugleich ist klar, dass die UN-Organisation UNWRA, die zuvor in Gaza mit der Versorgung der Flüchtlinge betraut war, durch ihre Unterwanderung und Verwicklung mit der Hamas ihre Glaubwürdigkeit verloren hat und keinesfalls mehr als „neutral“ bezeichnet werden kann. Mitarbeiter der UNWRA waren an den Verbrechen des 7. Oktober beteiligt. Allerdings lehnen auch andere internationale Organisationen wie das Rote Kreuz und das World Food Programm eine Zusammenarbeit mit dem privaten Unternehmen GHF in Gaza ab.
Es braucht eine schnelle und unabhängige Lösung
Es muss deshalb eine schnelle Lösung gefunden werden, die eine unparteiliche Versorgung der Menschen in Gaza mit den notwendigen Nahrungsmitteln ermöglicht. Dabei muss sichergestellt werden, dass die Hilfe direkt und sicher bei den Menschen ankommt und nicht in die Hände der Hamas gelangt. Internationale Hilfsorganisationen wie das World Food Program, das Rote Kreuz und auch OCHA sind glaubwürdig und haben jahrzehntelange Erfahrung in der Versorgung von hilfsbedürftigen Menschen in Krisen- und Kriegsregionen. Sie sind daher besser geeignet, die Versorgung der Menschen in Gaza anstelle der UNWRA durchzuführen als ein privates Unternehmen wie die GHF.
Aufgrund der zugespitzten Situation in Gaza hat sich das vom Zentrum Liberale Moderne koordinierte „Netzwerk Nahost – Israel und Palästina: Wege aus Krieg, Terror und Besatzung“ mit Perspektiven zur Beendigung des Krieges und der Hungerkrise in Gaza sowie mit aktuellen Problemen der UNWRA befasst. Das Netzwerk besteht aus Israelis, Palästinensern sowie weiteren Expert/innen aus der Region.
Probleme mit UNWRA
Aus Sicht des Netzwerkes steht das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten vor zahlreichen strukturellen Problemen. Dazu gehört zum einen eine ungewöhnliche Flüchtlingsdefinition, die – im Gegensatz zu Definitionen anderer UN-Organisationen, wie z.B. der des UNHCR – den Flüchtlingsstatus der 1948 geflohenen Palästinenser über Generationen hinweg fortschreibt. Das führt zu 5,9 Millionen heute registrierten palästinensischen Flüchtlingen. Die Fixierung des Flüchtlingsstatus für Kinder und Kindeskinder verhindert eine Integration der Flüchtlinge in den Aufnahmestaaten wie z.B. dem Libanon; es politisiert das Recht auf Rückkehr und erschwert damit bis heute eine dauerhafte Verhandlungslösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt.
Darüber hinaus hat UNWRA neben der unmittelbaren humanitären Versorgung der Flüchtlinge zahlreiche darüber hinaus gehende Aufgaben übernommen. Dazu gehören eigene Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, Müllentsorgung und die Vergabe von Mikrokrediten, was zu unnötigen Doppelstrukturen in diesen Bereichen führte. Die Bundesregierung hat diese Praxis als zweitgrößter Beitragszahler viele Jahrzehnte lang unterstützt.
Wie tief ist UNRWA mit Hamas verstrickt?
Nach den Terroranschlägen des 7. Oktobers 2023 wurde bekannt, dass UNWRA Mitarbeiter aus Gaza in die Terroranschläge involviert waren. Mithilfe des „Colonna Reports“ – benannt nach Catherine Colonna, der früheren französischen Außenministerin, die diese Untersuchung leitete – hat die UN zwar etliche notwendige Strukturreformen aufgelistet. Der Bericht beschäftigt sich allerdings nicht mit den Verstrickungen der Hamas mit der UNWRA. Ein weiterer interner Bericht der UN, der OIOS-Report (UN Office of Internal Oversight Services), hatte demgegenüber die Verstrickung einzelner Mitglieder zum Gegenstand. In dessen Folge wurden allerdings nur 18 Mitarbeiter wegen Beteiligung am Terrorakt des 7. Oktober sowie Verbindungen mit der Hamas entlassen. Es bleibt daher bis heute offen, wie tief die Hamas tatsächlich mit der UNWRA auf den einzelnen Ebenen verstrickt ist. Dennoch haben zahlreiche Staaten nach Vorlage der ersten Berichte die Auszahlung der Gelder an UNWRA bereits im Oktober 2024 wieder aufgenommen. Dazu gehört auch Deutschland, das der zweitgrößte Beitragszahler von UNWRA ist und die Organisation seit Jahrzehnten unterstützt.
Die schnelle Wiederaufnahme der Zuwendungen an UNWRA unmittelbar nach Vorlage der UN-Berichte ist zwar vor allem der äußerst schwierigen humanitären Lage in Gaza geschuldet. Dennoch hält das Netzwerk Nahost dies für eine verpasste Chance und fordert von der neuen Bundesregierung die notwendige Aufklärung voranzutreiben und Strukturreformen durchzusetzen. Die dazu getroffenen Vereinbarungen im Koalitionsvertrag sollten umgesetzt werden.
Die Teilnehmer des Netzwerkes sind der Ansicht, dass zunächst umfassende Untersuchungen der UNWRA und ihrer Verstrickung mit der Hamas stattfinden sollten. Darüber hinaus müssen dringend notwendige Reformen angegangen werden. Dazu ist es erforderlich, dass die jetzigen leitenden Verantwortlichen, d.h. Lazzarini und sein Team, die seit Jahren die zunehmende Unterwanderung der Organisation durch die Hamas nicht verhindert haben, zurücktreten und den Weg für eine Erneuerung freimachen. Eine umfassende Aufklärung und die notwendigen Reformen können nur mit einem neuen Team glaubwürdig angepackt werden.
Zahlung an UNRWA von Reformen abhängig machen
Deshalb sollte auch die neue Bundesregierung, wie im Koalitionsvertrag angekündigt, die Zahlungen an die UNWRA ganz oder teilweise davon abhängig machen, dass ein neues Team den Weg für umfassende Untersuchungen und Reformen freimacht. Zugleich steht für das Netzwerk fest, dass gleichzeitig die Versorgung der Menschen in Gaza mit humanitärer Hilfe sichergestellt werden muss. Die israelische Regierung muss die Lebensmittelblockade vollständig aufheben und dem WFP (World Food Program) und anderen internationalen Organisationen erlauben, humanitäre Hilfe an die Bevölkerung in Gaza zu verteilen.
Im Einzelnen werden folgende kurz- mittel- und langfristige Maßnahmen zur Reform der UNWRA vorgeschlagen:
■ Kurzfristig sollte in Gaza nach einem Waffenstillstand und während des künftigen Wiederaufbauprozesses der Grundstein dafür gelegt werden, die Aufgaben des UNRWA auf andere Organisationen zu übertragen. Schon jetzt sollte die humanitäre Hilfe wo immer möglich durch andere Organisationen wie das World Food Program übernommen werden.
Dagegen ist es im Westjordanland nicht realistisch, große Teile der vom UNRWA erbrachten quasi-staatlichen Leistungen kurzfristig durch andere Organisationen zu ersetzen. So hat etwa das World Food Program keine Erfahrung im Bildungs- und Gesundheitsbereich. UNRWA muss daher einen grundlegenden Reformprozess durchlaufen, bei dem klare Kriterien für den Einsatz von Finanzmitteln und die internationale Aufsicht eine zentrale Rolle spielen.
■ Mittelfristig sollten andere internationale Organisationen durch strukturelle und organisatorische Reformen in die Lage versetzt werden, Teile der derzeit vom UNRWA im Westjordanland erbrachten Leistungen zu übernehmen. Dies betrifft vor allem die zusätzlichen Funktionen, die UNWRA inzwischen übernommen hat, wie den Betrieb von Schulen und zentrale Aufgaben im Gesundheits- und Sozialsystem, aber auch sachfremde Aufgaben wie Müllentsorgung und Mikrokreditvergabe (UNWRA unterhält u.a. 706 Schulen und 140 medizinische Einrichtungen). Dies wird allerdings erhebliche Investitionen erfordern.
■ Langfristig sollten die UNRWA-Dienste im Gazastreifen und im Westjordanland an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) übertragen werden. Im Libanon, in Syrien und in Jordanien sollten die jeweiligen Zentralregierungen die Aufgaben übernehmen. Im Zuge einer politischen Lösung des Konfliktes – einer wie auch immer ausgestalteten Zwei-Staaten Regelung – muss die Flüchtlingsfrage generell gelöst werden. Damit wird sich perspektivisch auch die Rolle von UNWRA erübrigen. Sie muss von anderen internationalen oder örtlichen Organisationen übernommen werden.
* Der Artikel fasst die Diskussionen über Auswege aus der dramatischen humanitären Notlage im Gaza-Streifen zusammen, die in einem Kreis von Israelis, Palästinensern und Expert/innen aus anderen Ländern geführt wurden. („Netzwerk Nahost – Optionen für eine politische Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts“) Das Projekt wird von LibMod koordiniert und von Kerstin Müller, ehemalige Staatsministerin im Auswärtigen Amt, geleitet. Die von UN-Agenturen genannten Zahlen zu den Todesopfern im Gazastreifen beruhen überwiegend auf Angaben des von der Hamas kontrollierten „Gesundheitsministeriums“. Sie differenzieren nicht zwischen getöteten Hamas-Kämpfern und zivilen Opfern. Auch die Angaben der israelisch-amerikanischen Hilfsorganisation GHF über die verteilten Lebensmittelpakete lassen sich nicht verifizieren. Das alles unterstreicht die Notwendigkeit, die humanitäre Versorgung der Bevölkerung in Gaza möglichst rasch in unabhängige internationale Hände zu legen und einen politischen Ausweg aus diesem Krieg zu finden. (Red)
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