Kalt erwischt
Ein Präsident, der sich vor der Nation für seine Wortwahl entschuldigt: Die Proteste der „Gelbwesten“ erschüttern Frankreich. Ob Emmanuel Macron mit seiner Fernsehansprache und den angekündigten Sofortmaßnahmen zu den tiefer liegenden Ursachen der Wut vordringt, ist offen.
Viel ist in den vergangenen Wochen über die französische „Gelbwesten-Bewegung“ geschrieben worden. Den zahlreichen Erklärungsversuchen gemein ist die Schwierigkeit, den vielfältigen Bestandteilen der Wut dieser amorphen, sich der Strukturierung verweigernden Protestbewegung gerecht zu werden. Ganz offensichtlich hat sich da ein explosives Gemisch der Enttäuschungen, Ängste und Erbitterungen über mehrere Jahrzehnte angestaut, das aus mindestens vier Grundstoffen besteht: einem wirtschaftlichen und einem sozialen, aber auch einem politischen und einem kulturellen. Alle gleichzeitig zu entgiften, wird dem Präsidenten kaum gelingen.
Dass ein erstaunlich hoher Prozentsatz der Gesamtbevölkerung prinzipielle Sympathien für die relativ kleine Gruppe der protestierenden „Gelbwesten“ hegt, liegt nicht an typisch französischer revolutionärer Romantik, sondern am für fast alle Franzosen nachvollziehbaren Aufhänger des Protests: der jahrelangen Kaufkraft-Stagnation bei gefühltem Anstieg der Lebenshaltungskosten und ungeminderter Steuerlast. Wenig verdienen in einem teuren Land – auf Dauer schleicht sich da unweigerlich das Gefühl eines unaufhaltsamen wirtschaftlichen Abstiegs ein. Macron hatte dieses Problem durchaus identifiziert, aber angesichts der strukturellen Probleme der französischen Wirtschaft stand ihm nicht genug Zeit zur Verfügung, um die angestrebte „Output-Legitimation“ zu erreichen. Die Geduld vieler war bereits aufgebraucht, als er sein Amt antrat. Die Gefahr besteht, dass die finanziellen Trostpflaster, die er in seiner Ansprache angekündigt hat (und die den Staats-Haushalt schwer belasten werden), lediglich als Brosamen wahrgenommen werden.
Geographie spielt eine Rolle
Gleichzeitig stellt die Sorge um die individuelle Kaufkraft erneut die Mutter aller sozialen Fragen: Wie viel Ungleichheit verträgt eine Gesellschaft? Noch dazu eine, in der die égalité als Grundwert auf allen öffentlichen Gebäuden eingemeißelt ist. Die Franzosen sind sich natürlich bewusst, dass in der liberalen, kapitalistischen Marktwirtschaft, zu der sie sich in ihrer großen Mehrheit bekennen, Ungleichheiten unvermeidlich sind. Aber das Versprechen der Republik, sie im Zaum zu halten und wenigstens teilweise abzumildern, wird trotz eines großzügigen Sozialstaats nicht in dem Maße eingehalten wie es der französischen Erwartung entspricht.
Oft zitiert wird dieser Tage der Geograph Christophe Guilluy und sein Schlagwort von der abgehängten „France périphérique“. Tatsächlich spielt die Geographie eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Herausbildung der Wahrnehmung einer inakzeptablen Ungleichheit. In den weißen Flecken dieses weiträumigen Flächenlandes, die nicht mit den wirtschaftlichen Lokomotiven der Ballungsräume um die dynamischen, attraktiven Regionalmetropolen vernetzt sind, in den deindustrialisierten Städten mittlerer Größe und den kleineren Gemeinden in abgelegenen Gegenden wird der Abbau nicht mehr rentabler öffentlicher Dienste (Postämter, Bahnstrecken, Krankenhäuser usw.) verständlicherweise als Degradierung zu einem Frankreich zweiter Klasse empfunden.
Der zumutbare Grad sozialer Ungleichheit wurde von Emmanuel Macron ganz offensichtlich falsch eingeschätzt (wobei es an Warnungen aus dem eigenen Lager nicht gemangelt hat). Auf die Dynamik bestimmter Metropolen und Sektoren als Wirtschaftsmotor zu setzen, ist legitim. Wenn sich dabei aber das Gefühl festsetzt, der republikanische Umverteilungs-Pakt sei aufgekündigt, wird auch eine rasch beschlossene Anhebung des Mindestlohns dem Zorn über die Chancenungleichheit kaum Einhalt gebieten können. Zumal sich der Eindruck, wonach die privilegierten Eliten aus Wirtschaft, Politik und Medien die Gewinne der Globalisierung absaugen und die Kosten auf die sozial Schwachen abladen, seit der Finanzkrise 2008 noch verstärkt hat. Das vielzitierte Schimpfwort vom „Präsident der Reichen“ mag unfair sein, festgesetzt in der öffentlichen Wahrnehmung hat es sich allemal.
Der Autoritätsverlust des Präsidenten wird zelebriert
Genauso ungerecht ist aber auch die Pauschalverurteilung der politischen Klasse. Wurde doch insbesondere die Volksvertretung in der Assemblée Nationale von En Marche! mit Menschen aus der Mitte der Gesellschaft sehr erfolgreich und vielversprechend runderneuert. Auch wurde – endlich! – die Zahl und Häufung der Mandate begrenzt und eine Gesundschrumpfung des Parlaments (Assemblée und Sénat) in Angriff genommen. Indes, die Glaubwürdigkeit der repräsentativen Demokratie war schon nachhaltig beschädigt und die angestrebte Erneuerung des politischen Lebens stellte sich innerhalb der Zwangsjacke der Fünften Republik als schwierig heraus. Auch muss man Macron ankreiden, dass die in der Folge des „großen Marsches“ vom Frühjahr 2016 angedachten neuen Formen der Partizipation seit Regierungsantritt nicht mehr vorangetrieben wurden. Statt horizontaler Grassroots-Politik gab es eben doch nur vertikales, technokratisches Durchregieren.
Der von Macron theorisierte und nach den enttäuschenden Mandaten von Sarkozy und Hollande durchaus glaubhaft verkörperte Neustart der Präsidial-Republik gaullistischer Prägung kommt zu spät. In Zeiten einer fortschreitenden Hysterisierung der öffentlichen Debatte durch polarisierende soziale Netzwerke und vier (!) konkurrierenden TV-Nachrichtensendern wird der Autoritätsverlust des Präsidenten geradezu täglich zelebriert.
Immerhin: das Mehrheitswahlrecht und das Szenario des Präsidentschafts-Wahlkampfes haben – bei allen berechtigten Bedenken – Frankreich vor Unregierbarkeit oder gar einer rechtsextrem geführten Regierung bewahrt. Um die Demokratie jedoch nachhaltig zu erneuern und den Wutbürgern in den gelben Westen eine Stimme zu verleihen, muss En Marche! so bald wie möglich innovative Lösungen anbieten. Im Losverfahren erstellte, repräsentative „Bürgerkammern“ könnten ein Ansatz sein. Die Stärkung der lokalen Ebene – anders gesagt: mehr Gehör für die Bürgermeister von Seiten der Pariser Exekutive – wäre sicherlich hilfreich. Einfach wird das bei dem von Dogmen eingekerkerten, von Grund auf zentralistischen Demokratieverständnis der französischen Republik nicht werden.
Das mea culpa kommt zu spät
Dass diese wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ursachen der Wut eben auch von einer tiefer liegenden, oft unbewussten, kulturellen Problematik untermauert werden, zeigte sich schon im Frühjahr beim Machtkampf der Regierung mit den Eisenbahnern. Es geht gar nicht mehr nur um soziale Ungerechtigkeit, die es gezielt zu bekämpfen gilt, sondern um fundamentale Fragen der Würde. Anders als beim Brexit-Referendum oder beim Wahlkampf Trumpscher Prägung hat die Auflehnung der sich als benachteiligt Empfindenden zwar keinen anti-intellektualistischen Anstrich. Aber die Schamlosigkeit, die sich in den Gehältern der Spitzenmanager ausdrückt oder in der Unfähigkeit der politischen Klasse, Privilegien abzubauen und sich auch nur ansatzweise mehr Bescheidenheit aufzuerlegen, nähren permanent eine Empörung gegen die als zynische Geringschätzung empfundene Missachtung für ein Frankreich, das früh aufsteht, hart arbeitet, und doch nichts vom Wohlstand abkriegt.
Der Präsident, seine Regierung und seine Partei, die ausgezogen waren, die Franzosen zu versöhnen, wurden von der aufgestauten Wut der selbst-deklarierten working poor der gelben Westen kalt erwischt. Die wirtschaftlichen und sozialen Missständen mögen ihnen bewusst gewesen sein, aber ob sie den kulturellen Unterbau der Demokratieverdrossenheit und die Verbitterung gegenüber ihresgleichen wirklich verstanden haben, ist fraglich. Immerhin ist selbst Emmanuel Macron mittlerweile klar geworden, dass einige seiner Ausdrucksweisen nicht nur als abgehoben, sondern als zutiefst demütigend aufgefasst worden sind. Dass sich ein Präsident im Fernsehen dafür entschuldigt, einige seiner Landsleute verletzt zu haben, ist ein Novum.
Dennoch darf man befürchten, dass das mea culpa zu spät kommt. Allem Anschein nach ist die Regierung in die Falle der selektiven Wahrnehmung geraten, wo alles, was sie sagt und tut, gegen sie ausgelegt wird. So werden beispielsweise die durchaus fürsorglich gedachten, auf mehr Chancengleichheit abzielenden Reformen des Abiturs, des Übergangs zur Hochschule und der Verteilung der Studienplätze von den Betroffenen als skandalöse Stigmatisierung und Zwei-Klassen-Bildung denunziert. Wenn nicht alles täuscht, steht der Regierung bald schon der nächste, ähnlich unberechenbare Aufstand ins Haus, bei dem die Ordnungskräfte handgreiflich gegen die Jugend des Landes werden vorgehen müssen. Welche Wirkung diese Bilder in den sozialen Netzwerken und auf den TV-Bildschirmen haben werden, lässt sich leicht ausmalen.
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