Frankreich debattiert
Als er unbeliebt war wie nie zuvor, begann Emmanuel Macron das Experiment der „großen nationalen Debatte“. Sind die landesweiten Diskussionen ein sinnloser Stuhlkreis? Oder der Geniestreich eines in höchste Bedrängnis geratenen Präsidenten? Eine vorläufige Bilanz.
Am Tiefpunkt der Unbeliebtheit angelangt, zauberte Emmanuel Macron im Dezember die „große nationale Debatte“ aus dem Ärmel. Eine riskante Antwort auf die immer lauter werdende, von den Gelbwesten verkörperte Kritik an der Politik der Regierung, aber auch an seinem persönlichen Stil. Nach dem Abschluss der ersten Phase dieses Experiments lässt sich festhalten, dass sich das Wagnis auszuzahlen scheint. Zwar kann noch einiges schiefgehen, aber es ist ihm gelungen, die Initiative wieder an sich zu reißen.
Natürlich wurde die Idee der „grand débat“ sofort aus allen Ecken kritisiert. Als inhaltlose Schaumschlägerei, als sinnloser Gruppentherapie-Stuhlkreis, als zynische Volksmanipulation. Diese Kritiken sind zwar nicht verstummt, hören sich aber drei Monate nach der Ankündigung dieses landesweiten „Brainstorming“ hohl und reflexhaft an.
Wenn 88 Prozent der Bevölkerung über ein in kürzester Zeit aufgesetztes, komplexes und präzedenzloses Demokratie-Experiment Bescheid wissen, 61 Prozent sogar über die verschiedenen Themenfelder informiert sind, und sich 79 Prozent ähnliche Debattenrunden auch in der Zukunft wünschen (Link auf Französisch), dann muss man doch von einem spektakulären Erfolg sprechen.
Einen Staatspräsidenten, der sich die Leviten lesen lässt, das gab’s noch nie
Ob die grand débat nun als verzweifelter Befreiungsschlag oder cleveres Ablenkungsmanöver initiiert wurde, dem renommierten Meinungsforscher Gaël Sliman zufolge ist die Rechnung auf jeden Fall aufgegangen: „Macron ist der große Gewinner des Ganzen. Vom Präsidenten, der alles besser weiß und keinem zuhört, ist er zum einfühlsamen Moderator der Diskussion geworden. Und siehe da: Der Fokus hat sich auf die Inhalte verlagert, nicht mehr auf Fragen des Stils.“
Tatsächlich hat sich Macron Hals über Kopf in die Arena gestürzt. Einen Staatspräsidenten, der sich mehrmals stundenlang von den Bürgermeistern kleinster Kommunen höflich, aber bestimmt die Leviten lesen lässt, das gab’s noch nie. Die allerorten von Politikern vielbeschworene, aber selten gelebte Demut – da war sie plötzlich, unerwartet, aber nicht unglaubwürdig. Im ganzen Land tauchte Macron – manchmal angekündigt, manchmal unangemeldet – bei den Debatten auf. Nicht zu vergessen die vierzehn (!) Stunden am Stück auf der jährlichen Landwirtschaftsmesse, im Dauer-Gespräch mit Landwirten und Besuchern aus dem ganzen Land.
Es war die richtige Taktik. Bei einer abstiegsbedrohten Fußballmannschaft hätte man die Floskel „über den Kampf ins Spiel finden“ bemüht. Die grand débat stellte sich als verschleierter Dauer-Wahlkampf heraus, in dem er mit all seinen Stärken punkten konnte. Seine unglaubliche Ausdauer im kontroversen Meinungsaustauch, sein enormes Fachwissen in erstaunlich vielen Bereichen, und seine angedeutete (wenn auch noch unbewiesene) Einsicht, dass sich in der zweiten Hälfte seines Mandats einiges ändern muss, sowohl inhaltlich als auch im Stil – all das hat ihm neuen Respekt verschafft.
Den Sinneswandel des Präsidenten können die Gelbwesten als Erfolg verbuchen
Diesen sich abzeichnenden Sinneswandel können die Gelbwesten –neben den im Dezember gewährten zehn Milliarden Euro an Sofortmaßnahmen – als Erfolg ihrer Proteste verbuchen. Im Gegensatz zu etablierten Parteien ist es ihnen in den Worten von Gaël Sliman gelungen, der „alternativlosen Politik eines unpopulären Präsidenten eine echte Opposition entgegenzustellen“. Das könnten sie eigentlich zum Anlass nehmen, um sich erhobenen Hauptes aus der selbst gestellten Argwohnfalle zu befreien. Leider deutet im Moment nichts darauf hin, dass es ihnen gelingt, diese Kurve zu kriegen.
Als taktischer Schachzug eines in höchste Bedrängnis geratenen Präsidenten war die grand débat sicherlich ein Geniestreich. Und wie gesehen, rechnen ihm die Franzosen sowohl die Initiative selbst als auch seinen persönlichen Einsatz hoch an. Was allerdings an ihrer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der erhofften Generalüberholung ihrer Demokratie nichts ändert.
In einer Umfrage des Instituts Elabe von Mitte März zeigen sich lediglich 45 Prozent der Befragten davon überzeugt, dass die grand débat „die Teilnahme der Bürger an der Entscheidungsfindung verbessern“ wird. Nur 37 Prozent glauben daran, dass „Emmanuel Macron und seine Regierung die in der Debatte geäußerten Ansichten in Betracht ziehen“ werden.
Eine Debatte innerhalb der ideologischen Bandbreite von La République en Marche
Diese Skepsis liegt auch darin begründet, dass die Regierung, insbesondere auf der (ausgesprochen benutzerfreundlich gestalteten) Internet-Seite www.granddebat.fr, vielleicht ein bisschen zu pädagogisch vorgegangen ist – ein Wort, das französische Politiker gerne benutzen, wenn sie ihre Kommunikationsbemühungen beschreiben, das aber mittlerweile nur noch als „bevormundend“ und „herablassend“ wahrgenommen wird.
Die Art der Fragestellungen sowie die zur Verfügung gestellten Informationsblätter und Hintergrund-Unterlagen legen jedenfalls nahe, dass es der Regierung in erster Linie darum ging, die teilnehmenden Bürger mit der Nase auf ihr eigenen Widersprüche zu stoßen. Weniger Steuern? Aber gerne! Sagt uns einfach, wo genau wir mit dem Sparen anfangen sollen. Und hier als Denkhilfe gleich noch mal die Aufschlüsselung der augenblicklichen Staatsausgaben.
So positionierte die Regierung die Debatte doch deutlich innerhalb der ideologischen Bandbreite von La République en Marche. Radikalere Alternativen – wie beispielsweise spürbare Steuererhöhungen für die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung oder unilaterale Aufkündigung der Maastricht-Kriterien mit anschließendem EU-Austritt – kamen in diesem Spektrum nicht vor. Immerhin: die Teilnehmer wurden explizit dazu aufgefordert, auch außerhalb der vorgegebenen Hauptthemen – ökologischer Wandel, Steuern und Staatsausgaben, Demokratie und Bürgersinn, Staatsreform und öffentliche Dienstleistungen – ohne Tabus Vorschläge zu formulieren. Und sie kamen dieser Aufforderung nach.
Frankreichs Bürger sind weit davon entfernt, der Demokratie den Rücken zuzukehren
Die grand débat war mehr als nur eine halbherzige Antwort auf gängigen Polit-Frust. In einem nach wie vor extrem zentralisierten, technokratisch regierten Land gab sie einem weitverbreiteten Bedürfnis der Bürger nach Teilhabe im demokratischen Entscheidungsprozess eine Ausdrucksmöglichkeit. In grade mal zwei Monaten stellten Kommunen und Bürgervereinigungen mehr als zehntausend Diskussionen in den entlegensten Winkeln der Republik auf die Beine, an denen insgesamt eine halbe Million Bürger teilgenommen hat. Dazu anderthalb Millionen Wortmeldungen auf der Website, von denen mehrere Hunderttausend die Gelegenheit ergriffen, zu den vier angebotenen Hauptthemen anspruchsvolle Wortbeiträge zu formulieren. Nicht zu vergessen: Die mobilen Info-Stände in Bahnhöfen und Postämtern jedes einzelnen Departements, mit denen die Debatte auch zu denjenigen gebracht wurde, die anderweitig keine Gelegenheit zur Teilnahme gehabt hätten.
Wenn das mal angesichts der augenblicklichen Belagerung der liberalen Demokratie keine gute Nachricht ist: Frankreichs Bürger sind weit davon entfernt, ihr den Rücken zuzudrehen. Im Gegenteil: Sie dürsten nach neuen Formen der Partizipation. Und die Regierung geht darauf ein und versucht, die Demokratie neu zu erfinden. Auf die erste, am 18. März abgeschlossene Mega-Konsultation folgt nun die zweite Phase der insgesamt 19 „Regionalen Bürger-Konferenzen“, bei denen eine repräsentative Auswahl von 70 bis 100 durchs Los bestimmte Bürger in zweitägigen Arbeitsgruppen erste Prioritäts-Listen erstellen sollen. Und komplettiert wird das Ganze durch vier große thematische Konferenzen auf nationaler Ebene mit den Vertretern von Sozialpartnern und zivilgesellschaftlichen Vereinigungen.
Abgesehen von dem geradezu kathartischen Effekt auf eine Bevölkerung, die sich zum „Wahlvieh“ abgestempelt sah, wird die grand débat so zur zweiten Chance für den Präsidenten. Eine Gelegenheit, all den Bindegliedern der Republik – von den Bürgermeistern bis zu den Gewerkschaften – einen neuen Pakt anzubieten. Ob er die Grenzen seines zentralistisch-jakobinistischen Eifers anerkennen und eine neue Etappe intelligenter Dezentralisierung und erneuerten Sozialdialogs einläuten wird? Er täte gut daran. Eine dritte Chance wird er nicht bekommen.
Es lohnt sich, das Experiment genau zu verfolgen
Nun hängt alles davon ab, ob der Ausstieg aus der grand débat gelingt. Misslungen ist schon mal der Plan, durch das Dialogangebot den allsamstäglichen gelben Unruhen in Paris ein Ende zu bereiten. Im Gegenteil, die Unterwanderung der Bewegung durch lautstarke rechtsradikale Agitatoren und gewaltaffine linksautonome Gruppen hat jüngst eine neue Intensität erreicht.
Dennoch ist die Erwartungshaltung allerorten, sogar unter den ewigen Skeptikern, sehr hoch. Es gilt jetzt, in der für Ende April angekündigten „Synthese“ den Bürgern das Gefühl zu geben, dass ihre Prioritäten erkannt wurden. Des Weiteren geht es darum, unter allen Umständen den Eindruck zu vermeiden, dass die Regierung sich die Antworten nach eigenem Belieben zurechtbiegt und ihre Linie wie gehabt durchzieht. Und schließlich muss auf die Evaluierung der Debatte auch eine Reihe konkreter Maßnahmen folgen. Letztere sind für die Zeit vor der Sommerpause vorgesehen. Nicht ausgeschlossen, dass es eine Art Referendums-Sonntag mit mehreren Volksentscheiden zu Schlüssel-Fragen geben wird. Wie genau das ursprüngliche Programm Macrons – insbesondere der signifikante Abbau der Staatsausgaben und der Zahl der Beamten – mit der Forderung nach mehr Umverteilung und einem besseren öffentlichen Dienst in Einklang gebracht werden kann, ist unklar.
Das ist alles nicht unproblematisch, und das große Experiment kann noch böse schiefgehen. Und natürlich gibt es nicht nur (nachvollziehbare) Zweifel an der Aufrichtigkeit der Pariser Technokraten, sondern auch (berechtigte) Kritik an der Methode. Unbestreitbar ist, dass der Organisationsmodus der grand débat bestimmte demographische Kategorien gegenüber anderen favorisiert hat, insbesondere, was die Altersgruppen betrifft. Dieses Ungleichgewicht konnte auch durch gezielte Aktionen wie die Durchführung einer elfstündigen Debatte auf einer populären Gamer-Plattform nicht beseitigt werden.
Beauftragt mit der Auswertung des gigantischen Korpus an Wortbeiträgen ist das Marktforschungsinstitut OpinionWay, unterstützt von dem KI-Unternehmen QWAM, das unter anderem auf die semantische Analyse umfangreicher Texte spezialisiert ist. Man darf gespannt sein, ob und wie der Algorithmus der Vielfalt der Standpunkte und Ausdrucksweisen gerecht wird.
Man kann die grand débat als halbseidenes Politmanöver belächeln oder als populistisches Anbiedern abtun. Gut möglich, dass sie auf der Zielgeraden scheitert. Dennoch: Es lohnt sich, diesen Versuch, die liberale Demokratie zu erneuern und den destruktiv-autoritären Kräften die Diskurshoheit zu entreißen, genau zu verfolgen.
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