Frank­reich: Wie sich Emmanuel Macron neu erfindet

In Frank­reich hat der Begriff des Progres­si­vismus Einzug in die poli­ti­sche Debatte gehalten. Emmanuel Macron will sich damit sowohl vom Konser­va­tismus als auch vom Neoli­be­ra­lismus abgrenzen. Aber taugt das neue Lieb­lings­wort des Präsi­denten auch als Motto für die Europawahl?

Das neue Zauber­wort der fran­zö­si­schen Politik heißt „Progres­sisme“, auf Deutsch: Progres­si­vismus. Seit einigen Wochen taucht es in Reden von Emmanuel Macrons Verbün­deten immer wieder auf. Zum Beispiel in der Pres­se­kon­fe­renz des – bis vor Kurzem – Partei­vor­sit­zenden der Répu­blique en marche und inzwi­schen neuen Innen­mi­nis­ters Chris­tophe Castaner. Kaum war die Sommer­pause vorbei, appel­lierte er, „die Identität des Progres­si­vismus zu erneuern, um den ideo­lo­gi­schen Korpus (der Partei) zu entwi­ckeln“. Und auch der fran­zö­si­sche Präsident, der sich in seinem Buch „Revo­lu­tion“ als Progres­si­vist darstellt, scheint das Wort inzwi­schen wieder­ent­deckt zu haben. 

Portrait von Claire Demesmay

Claire Demesmay leitet das Programm „Deutsch-fran­zö­si­sche Bezie­hungen“ der Deutschen Gesell­schaft für Auswär­tige Politik (DGAP) in Berlin und ist Associate Fellow im Centre Marc Bloch.

Der Progres­si­vismus ist ein Begriff mit Doppel­funk­tion. Zum einen soll er signa­li­sieren, dass die Kampagne für die Euro­pa­wahl im kommenden Jahr begonnen hat. Macron strebt – in Oppo­si­tion zu rechts­na­tio­nalen Europa­ent­würfen – einen breiten Zusam­men­schluss von proeu­ro­päi­schen „Demo­kraten und Progres­si­visten“ an. Zum anderen soll der Begriff der Regierung in Paris neuen Elan geben. In den letzten Monaten häuften sich innen­po­li­ti­sche Schwie­rig­keiten. Ein großer Teil der Bevöl­ke­rung zweifelt an der Rich­tig­keit der Reformen, die Beliebt­heits­werte des Präsi­denten sind im Umfra­ge­tief. Der Rücktritt von zwei Star-Ministern mit symbo­li­scher Strahl­kraft, Umwelt­mi­nister Nicolas Hulot und Innen­mi­nister Gérard Collomb, sowie die lang­wie­rige und mühsame Kabi­netts­um­bil­dung, unter­mi­nieren die poli­ti­sche Autorität Emmanuel Macrons. Für ihn und sein Team geht es nun darum, Glaub­wür­dig­keit zurück­zu­ge­winnen –sowohl innen­po­li­tisch, als auch auf euro­päi­scher Ebene.

Eine neue Polarisierung

Ehrgeiz, Volun­t­a­rismus und Trans­gres­sion von poli­ti­schen Regeln: Mit diesen Botschaften ist Macron an die Macht gekommen. Seit Jahren herrscht in Frank­reich Miss­trauen gegenüber den etablierten Parteien und der poli­ti­schen Elite, die sich nicht allein mit der perso­nellen, sondern vor allem mit der ideellen Erneue­rung schwertut. Im Laufe der Zeit verlor die Regie­rungs­ar­beit Legi­ti­mität und die öffent­liche Hand büßte an Hand­lungs­fä­hig­keit ein. Davon profi­tiert seit den achtziger Jahren der Front National, der sich vor Kurzem in Rassem­blement National unbe­nannte. In diesem Kontext versprach Macron, die tradi­tio­nelle Links-Rechts-Trenn­linie der fran­zö­si­schen Partei­en­land­schaft zu über­winden und Politik wieder hand­lungs­fähig zu machen.

Hier setzt der Progres­si­vismus an. Der Begriff klingt nach Reform und Fort­schritt, bleibt aber allgemein genug, um Inter­pre­ta­tionen über den gewählten Poli­tik­kurs offen zu lassen. Zudem verkör­pert er in unter­schied­li­chen Poli­tik­fel­dern einen Gegenpol zum Konser­va­tismus und führt somit eine neue poli­ti­sche Pola­ri­sie­rung ein. Doch im Gegensatz zum Libe­ra­lismus, wie er in Frank­reich oft verstanden wird, hat er nicht den Beiklang vom Abbau des Wohl­fahrts­staats und zuneh­mender sozialer Ungleich­heit. Nicht zuletzt soll der Begriff dazu beitragen, die Arbeit der Répu­blique en Marche inhalt­lich zu unter­füt­tern, also ihre Zukunft jenseits der Person Macron zu sichern.

Es geht nicht nur um Wirtschaft

Obwohl mehrere Minister einen sozia­lis­ti­schen Hinter­grund haben, gilt Macron inzwi­schen als „Präsident der Reichen“, der mit dem linken Lager wenig zu tun hat. Dazu trägt eine Wirt­schafts­po­litik bei, die auf Libe­ra­li­sie­rung setzt, sowie eine Fiskal­po­litik, die Vermö­gende und Unter­nehmen begüns­tigt. Kein Wunder also, dass er seit seiner Wahl die Unter­stüt­zung von vielen Wähle­rinnen aus dem Mitte-Links-Lager verloren hat. Im Juni dieses Jahres haben drei Ökonomen, die das Wirt­schafts­pro­gramm des Kandi­daten Macron prägten, Alarm geschlagen. In einem Schreiben an den Elysée-Palast warnten sie vor dem „Bild von Macht­ha­bern, denen die soziale Frage gleich­gültig ist“, und plädierten für eine Neuaus­rich­tung des Wirt­schafts- und Sozi­al­kurses. Die Botschaft scheint ange­kommen zu sein. Um dieses Bild zu korri­gieren, setzt die Regierung nun stärker als bisher auf sozi­al­po­li­ti­sche Maßnahmen und poliert damit ihr Image auf. Als guter Kommu­ni­kator kündigte Macron die Strategie gegen Armut selber an.

Bis jetzt wurde seine Politik haupt­säch­lich durch die Brille der wirt­schaft­li­chen Reformen wahr­ge­nommen. Der Begriff des Progres­si­vismus soll helfen, diese Perspek­tive zu erweitern und auf andere Themen aufmerksam zu machen. Dazu gehört die ökolo­gi­sche Wende, die Gleich­stel­lung der Geschlechter sowie die Chan­cen­gleich­heit von Migran­ten­kin­dern und das gesell­schaft­liche Zusam­men­leben. Das Problem dabei: In diesen Fragen ist die Bilanz der Regierung bis jetzt bescheiden. Die Ernennung des beliebten Akti­visten Nicolat Hulot zum Umwelt­mi­nister, der in der proto­kol­la­ri­schen Rang­ord­nung gleich nach dem Premier­mi­nister kommt, sollte in Umwelt- und Ener­gie­fragen den Willen zur Erneue­rung signa­li­sieren. Doch als Begrün­dung für seinen Rücktritt gab Hulot eine „Anhäufung von Enttäu­schungen“ an. Was die desas­tröse Lage der Banlieues angeht, wurde im Feld der Stadt- und der Bildungs­po­litik zwar einiges avisiert, aber aus Kosten­gründen nur wenig umgesetzt. Armut, soziale Ungleich­heit und Krimi­na­lität sind nach wie vor ungelöst, und auch die poli­ti­sche Reprä­sen­ta­tion des Islams bleibt eine Baustelle. Es sind heikle Fragen, die spätes­tens bei der Kommu­nal­wahl im Frühling 2020 eine Rolle spielen werden.

Innen- und Außen­po­litik sind nicht zu trennen

Vorher findet aber die Wahl des Euro­pa­par­la­ments statt. Auch diesen Wahlkampf will Emmanuel Macron unter dem Motto des Progres­si­vismus führen. Er wünscht sich eine Euro­päi­sche Union, die auf Rechts­staat­lich­keit achtet – so hat er sich für die Einlei­tung des Artikel-7-Verfah­rens gegen Ungarn einge­setzt – und Soli­da­rität zwischen den Mitglieds­staaten pflegt. Eine EU, die stärker inte­griert ist, um besser auf die Heraus­for­de­rungen der globa­li­sierten Welt reagieren zu können. Dazu gehören die Vertie­fung der Eurozone mit Trans­fer­me­cha­nismen und einem Budget der Eurozone, sowie die Stärkung gemein­samer Instru­mente, wie eine euro­päi­sche Asyl­be­hörde oder eine EU-Staats­an­walt­schaft zur Terro­ris­mus­be­kämp­fung. Der Progres­si­vismus ist insofern auch eine Kampf­an­sage an die rechts­po­pu­lis­ti­schen Euro­pa­feinde wie Marine Le Pen, Viktor Orban und Matteo Salvini. Eine gewagte Wette. Denn Macron muss Alliierte aus unter­schied­li­chen Partei­fa­mi­lien in der ganzen EU von seiner Strategie über­zeugen. Geht das schief, könnte das Gegenteil eintreten: die Einigung des auto­ri­tären Lagers könnte sich beschleu­nigen und der Block der Proeu­ro­päer (darunter EVP und PSE) auseinanderbrechen.

Nicht zu vergessen: Für Macrons Strategie sind Innen- und Euro­pa­po­litik nicht zu trennen. Seine Autorität als Ideen­geber und Anführer des proeu­ro­päi­schen Lagers hängt zum großen Teil von seiner Glaub­wür­dig­keit im eigenen Land ab. Umgekehrt braucht er Erfolg in der EU, um in Frank­reich als glaub­würdig und hand­lungs­fähig wahr­ge­nommen zu werden. Die Heraus­for­de­rung ist groß und die Zeit knapp. Ein Zauber­wort kann sicher­lich nicht schaden. Die Frage ist, ob Progres­si­vismus das richtige ist.

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