Bedingt wehrhafte Demokratie: Warum liberale Demokratien sich mit Kriegen schwertun
Warum reagieren Deutschland und andere westeuropäische Demokratien so behäbig auf den russischen Angriff auf die Ukraine?
Die Empörung ist enorm. Aber der richtige Umgang mit der systematischen Zerbombung ukrainischer Städte wird auch Wochen nach Kriegsbeginn gesucht. Waffenlieferung ja oder nein, und, wenn ja, in welchem Umfang? Energieembargo, jetzt, später oder lieber doch nicht? Dies und anderes wird hitzig diskutiert. Die einen wittern Kriegstreiberei, die anderen unterlassene Hilfeleistung. Diese Beispiele zeigen, dass es Demokratien – insbesondere denen im europäischen Westen – schwerfällt, mit bewaffneten Konflikten in ihrer Nähe umzugehen. Das hat, so unsere These, etwas mit der Regierungsform selbst zu tun: Sind Demokratien in Friedenszeiten überlegen, haben es Autokratien im Krieg leichter, zumindest beim Kriegseintritt.
Wäre die Welt eine demokratische, würde es kaum oder keinen Krieg geben, so die bereits von Immanuel Kant formulierte Idee des ‚Demokratischen Friedens‘. In einer Welt, in der illiberale und autoritäre Kräfte existieren, ist aber nicht die Frage, ob Demokratien mehr oder weniger Kriege führen, entscheidend. Entscheidend ist, wie gut sie sich gegen die Aggressionen ihrer Feinde zur Wehr setzen können. Dabei besteht ein Dilemma: Einerseits haben Demokratien die uns bekannten Vorzüge von Freiheiten der Lebensgestaltung, Debattenkultur und Vielfältigkeit. Zugleich führen diese dazu, dass sie nur bedingt wehrhaft sind. Warum? Drei Gründe dafür sind unseres Erachtens zentral.
Demokratien können nicht so leicht über Körper verfügen
Ein wichtiger Grund dafür, warum sich Demokratien im Umgang mit Kriegen so schwertun, ist, dass sie – anders als Autokratien – nicht ohne Weiteres über die Körper ihrer Bevölkerung bestimmen können. Die Gewöhnung an autokratische Herrschaftstechniken macht dies leichter, es ist auch weniger Protest zu erwarten, wenn etwa junge Männer für den Wehrdienst eingezogen werden, eine Generalmobilmachung erfolgt oder Nahrungsmittel knapper werden. Gewalt ist ein gewohntes Mittel, Straflosigkeit tut ihr Übriges. Und dass die Informationslage (nicht nur) in Kriegszeiten einseitig ist, dass nationalistische Narrative die Kritik überwiegen, hilft dabei, Massen zu mobilisieren. Autokratien müssen weniger Rücksicht auf das Wohl der Einzelnen nehmen, es ist in ihrer Ideologie auch nicht angelegt: Es zählt das Kollektiv. Der Liberalismus mit seiner starken Stellung des Individuums gilt von Putin bis Xi Xinping deshalb als größter Feind.
Natürlich gibt es individuelle Desertationen und Sabotageakte. Nach allem, was man weiß, ist die russische Armee auch wenig motiviert und unorganisiert. Aber in Zahlen übersteigt das Potential an Körpern, an „Kanonenfutter“, das, was liberale Demokratien aufbieten können. Diese Schwierigkeit für Demokratien, ihre Bürger:innen in den Krieg zu schicken oder auf Verzicht einzustellen, ist auch eine Schwäche. Autokraten wissen diese Zurückhaltung auszunutzen, etwa, indem sie mit Gasembargo und kalten Wohnzimmern drohen.
Wählbarkeit mäßigt
Demokratien basieren, zweitens, (auch) auf regelmäßigen Wahlen. Das führt dazu, dass Politiker:innen sich mäßigen, dass harte Entscheidungen schwer fallen – sie wollen ja wiedergewählt werden. Und auch, wenn im Kriegsfalle keine Wahlen auf Bundesebene stattfinden – irgendwo wird immer gewählt. Wie sonst lässt sich das Bestehen der FDP auf einen Freedom Day (Corona) und Tankrabatt erklären?
Die Notwendigkeit einer Wiederwahl zur Durchsetzung von Politikideen führt dazu, dass ein imaginierter oder echter „Wählerwille“ eine große Rolle im politischen Tagesgeschäft spielt. Zeitnahe Umfragen zu allen möglichen Themen tun ihr übriges: Zu oft orientiert sich politisches Handeln nicht am Notwendigen, sondern an Fokusgruppen und Umfragewerten. Seltsamerweise zeigt sich diese Vorsicht auch, wenn es eine Umfragemehrheit für bestimmte Politiken gibt. Beispielsweise befürwortet eine Mehrheit momentan ein Öl- und Gasembargo gegen Russland, trotz zu erwartender hoher Kosten. Es wird aber nicht umgesetzt. Über die „Demokratiefähigkeit“ von Sanktionen wird viel diskutiert, was genau das bedeutet, bleibt schwammig.
Demokratische Willensbildung ist komplex
Drittens: Demokratische Willensbildung ist komplex. Da, wo schnelles und entschlossenes Entscheiden nötig wäre, mischen viele mit: Parteien, Interessenverbände, zivilgesellschaftliche Akteure, Wissenschaftler:innen, Aktivist:innen. Die Massenmedien vervielfachen die unterschiedlichen Stimmen zudem, soziale Medien erzeugen ein konstantes Rauschen, das oft eher ein Knirschen ist. Zu einer Entscheidung zu kommen, die – jenseits von ihrer Durchführbarkeit – auch breit getragen wird, braucht Zeit. Ideen müssen lanciert, Mehrheiten organisiert, Gespräche geführt werden. Im Krieg hat man diese Zeit nicht. Langsames Entscheiden bedeutet mehr Tod, mehr Leid, und im Zweifelsfall, die Niederlage des attackierten Staates und damit Unfreiheit für die Bevölkerung.
In Autokratien dagegen bestimmt ein kleiner Machtzirkel. Der kann schnell reagieren, die Entscheidungen basieren aber oft auf schlechten Informationen. Die Entscheider:innen vertrauen nur wenigen und umgeben sich mit Gleichgesinnten. Entscheidungen können schnell erfolgen. Wobei Schnelligkeit nichts über die Qualität der Entscheidung aussagt – im Gegenteil.
Demokratien: erfolgreicher und innovativer
Autokratien haben es also mindestens im Kriegsfall leichter, ihre Bevölkerung zu mobilisieren, für Kämpfe, für Einschränkungen, für den Glauben an ihre Führung. Und doch sind Demokratien am längeren Hebel: Sie setzen auf freiwillige Folgebereitschaft, sie sind innovativer. Die Menschen in der Ukraine beweisen dies täglich. Demokratien ermöglichen Freiheit, sie unterdrücken sie nicht. Ihre Wirtschaften sind aufgrund der gesellschaftlichen Vielfalt und Offenheit kreativer und damit erfolgreicher.
Das zu Beginn beschriebene Dilemma von bedingt wehrhaften Demokratien müssen wir jetzt und in Zukunft aktiv bearbeiten, wollen wir die demokratischen Vorzüge zukünftig weiterhin genießen. Demokratien müssen handlungsfähig sein, auch über den Kriegsfall hinaus. Ein gutes Verhältnis zwischen Mitbestimmung und guter Politik, eine funktionierende und ansprechbare Verwaltung und transparente und funktionierende Institutionen sind einige Grundbedingungen dafür. Nur handlungsfähige Demokratien führen langfristig sowohl zu hoher Zustimmung zu dieser Staatsform wie auch zu Wehrhaftigkeit nach innen wie außen.
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