Buchrezension: die „Shoa durch Kugeln“
Der ukrainische Historiker Boris Zabarko hat Berichte von Überlebenden des Holocaust auf dem Gebiet der heutigen Ukraine gesammelt und veröffentlicht. „Leben und Tod in der Epoche des Holocaust“ ist nun endlich auch auf Deutsch erschienen. Mehr als 200 überlebende Zeugen erzählen vom unvorstellbaren Grauen.
Man braucht starke Nerven, um dieses Buch zu lesen.
„An einem ‚wunderschönen‘ Tag kamen Deutsche mit zwei Maschinengewehren, stellten uns in Reihen auf und teilten uns mit, dass wir nicht lange warten müssten, sie würden uns schnell erschießen. Nachdem sie acht Personen erschossen hatten, bekamen sie den Befehl, uns am Leben zu lassen.“
So lapidar erzählt beispielsweise Rachil Abelis-Fridman (geb. 1927) aus der Stadt Bar von ihrem zufälligen Überleben. Fira Belfer (geb. 1920) aus der gleichen Stadt wurde von dem ukrainischen Polizisten Wassili Krajewski vor der Erschießung gerettet.
„Er holte uns aus der Menschenmasse, die zur Erschießung bestimmt war. Während dieses Pogroms wurden mein Vater Ioil Belfer und meine ältere Schwester zusammen mit ihrem Säugling erschossen. (Krajewski hatte ihr angeboten, das Baby meinem Vater zu übergeben, aber sie lehnte es ab.) Nach dieser Erschießung nahm uns über Nacht die Freundin meiner Mutter, die Ukrainerin Sina Rywatschenko, in ihrem Haus auf. 1933, während der Hungersnot in der Ukraine, hatten meine Eltern die Familie dieser Frau vor dem Hungertod bewahrt.“
Wenige Sätze nur, doch Geschichte in konzentriertester Form, so dass einem beim Lesen oft der Atem stockt. Während der stalinistischen Hungersnot hatte eine jüdische Mutter mit einer ukrainischen Mutter ihr Brot geteilt, nun erklärte sich diese ukrainische Familie bereit, die bedrohten jüdische Freunde bei sich aufzunehmen.
Für den Moment und an diesen Tag überlebt zu haben, bedeutete jedoch nicht das Ende des Schreckens. „Danach schickten uns die Nazis zu den Gräbern, in denen unsere Familienmitglieder, Verwandte und Freunde lagen, und wir mussten sie zuschütten“, erzählt Fira Belfer. „Sehr viele Verletzte wurden lebendig begraben. Von ihren Wunden bildeten sich an der Oberfläche der Gräber große Blutpfützen.“
Das Andenken an das Vergangene – ein Akt des Widerstandes gegen den heutigen Nazismus
Etwa 1,6 Millionen jüdische Menschen wurden in der Ukraine zwischen 1941 und 1944 an über 600 Vernichtungsorten ermordet. Grauenhafte, trockene Zahlen. Weil die ukrainischen Juden nicht wie in den deutschen Vernichtungslagern in Polen vergast, sondern erschossen, erschlagen, verbrannt, durch Hunger und Krankheiten vernichtet wurden, spricht man vom „Holocaust durch Kugeln“.
Boris Zabarko begann im Jahre 1996, systematisch Berichte von Überlebenden der Ghettos zu sammeln und in Kyjiw auf Russisch zu veröffentlichen. Geboren im Jahre 1935, ist er selbst ein Überlebender eines Ghettos und heute Präsident der Allukrainischen Assoziation der Jüdischen KZ- und Ghettoüberlebenden.
2004 erschien im Berliner Dittrich Verlag eine erste Sammlung mit Berichten von 86 Zeitzeugen auf Deutsch, damals unter dem Titel „Nur wir haben überlebt“. Der jetzt vorliegende neue Band enthält die Berichte von mehr als zweihundert überlebenden Zeugen.
Die Herausgeber Margret Müller und Werner Müller haben in der deutschen Ausgabe die Erzählungen der Überlebenden den jeweiligen ukrainischen Gebieten und Orten zugeordnet, in der Reihenfolge der Besetzung durch die Wehrmacht. So entstand das überzeugende Konzept einer „Geografie des Holocaust in der Ukraine“. Im russischsprachigen Original waren die Berichte alphabetisch geordnet. Die Übersetzung aus dem Russischen besorgten Natalia Blum-Barth und Christian Ganzer.
Allen Mitarbeitern an diesem Buch ist höchster Respekt zu zollen. Schon die Lektüre ist, wie eingangs erwähnt, oft schwer zu ertragen. Um wie viel schwerer muss da die akribische Arbeit an den Texten gewesen sein. Doch Margret Müller und Werner Müller schreiben im Geleitwort, „wir spürten die Verpflichtung, als Deutsche dazu beizutragen, dass die Verbrechen benannt und die Opfer nicht vergessen werden“. Das Bestreben der Überlebenden, das Andenken an das Vergangene zu bewahren, ist auch ein Akt des Widerstandes gegen den Nazismus, so die Herausgeber. „Es ist ein Akt des Widerstandes gegen heutige Neonazis und Holocaustleugner.“
Dass diese beklemmenden Berichte so spät erscheinen, viele Jahrzehnte nach den Massenmorden, liegt auch daran, dass in der Sowjetunion der Holocaust verschwiegen wurde. Über den Genozid an den sowjetischen Juden wurde weder gesondert berichtet noch geforscht. Auf den Denkmälern und Mahnmalen aus jener Zeit war immer nur zu lesen, dass dort friedliche Sowjetbürger von den Faschisten ermordet wurden, ohne Hinweise darauf, dass es sich um Juden handelte. Sowohl in der Ukraine als auch in Deutschland ist über den „Holocaust durch Kugeln“ viel zu wenig bekannt. Deshalb unterstützt das Auswärtige Amt seit dem vorigen Jahr mit knapp zwei Millionen Euro das Projekt „Erinnerung Bewahren“, wodurch neue Denkmäler gebaut und Bildungsprogramme unterstützt werden können.
Der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrej Melnyk, schlug anlässlich der Ausstellung im Auswärtigen Amt vor, dass auch in Deutschland ein Denkmal für die ermordeten Ukrainer errichtet werden sollte. Immerhin habe jeder dritte jüdische Mitbürger, der vom dritten Reich ausgerottet wurde, auf dem Gebiet der heutigen Ukraine gelebt. Man kann nur hoffen, dass dieser Vorschlag bald umgesetzt wird.
Auch Ukrainer waren Helden
Denn die weitaus meisten Morde an jüdischen Menschen in der Ukraine wurden von Deutschen organisiert und begangen, von der SS und von Polizeibataillonen. Aber auch rumänische Einheiten und Mitglieder der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) beteiligten sich an den Mordaktionen. Man schätzt, dass etwa 10 Prozent der jüdischen Opfer in der Ukraine von rumänischen Mördern getötet wurden.
Ukrainer, die sich weigerten jüdische Menschen zu erschießen, riskierten selbst erschossen zu werden. So berichtet es beispielsweise der 1925 geborene Josif Entin aus dem Rayon Priluki, Oblast Tschernigow.
„Nackt wurden die Menschen in die Schlucht zum im Vorfeld ausgehobenen Graben geführt. Die Deutschen des Sonderkommandos begannen mit ihrer gewöhnlichen ‚Arbeit‘. Die (ukrainischen Polizisten) dagegen zögerten. Als sie aber die Drohungen der Faschisten vernahmen, schossen auch sie auf Schutzlose. Aus der Schlucht dröhnte chaotische Schießerei, hörte man herzzerreißende Schreie der Frauen und Kinder, das Stöhnen der Verwundeten und Sterbenden. Unter den Erschießungspolizisten gab es auch Jugendliche, halbe Kinder. Als sie das Inferno sahen, das sie sich nicht einmal vorstellen konnten, ließen sie ihre Gewehre sinken und weigerten sich zu schießen. Die Deutschen trieben sie an mit den Rufen: ‚Schießen, schießen, schnell!‘. Die Jungs aber weigerten sich zu schießen. Einer von ihnen schaute direkt in die Augen des deutschen Offiziers und sagte: »Nein, ich kann es nicht, ich tue es nicht.« Der Offizier nahm ihnen die Waffen ab. Dafür bekamen sie Spaten und sollten sich damit ein Grab ausheben. Als die erste Gruppe der Todgeweihten erledigt war, trieben die Polizisten die nächste Gruppe auf die verfluchte Wiese. Diese Massenvernichtung dauerte den ganzen Tag. Wie die Faschisten versprochen hatten, bekamen alle Behinderten eine Hilfe: Sie wurden auf Lastwagen verladen, die so eingerichtet waren, dass die Abgase in das Innere der Wagen gelangten. Diese Gaswagen kamen von der oberen Schluchthälfte, um die Leichen loszuwerden. Die Jugendlichen und die Polizisten, die sich geweigert hatten zu schießen, wurden von Faschisten erschossen. Ihnen wurde insofern Ehre erwiesen, als dass sie sich nicht entkleiden mussten und sie in einem anderen Grab, separat von den Juden, verscharrt wurden. Sie hätten ihr Leben retten können, wenn sie die Grenze zwischen Mensch und Unmensch überschritten hätten. Aber sie konnten und wollten es nicht. Sie bevorzugten als Menschen zu sterben, anstatt mit dem Blut der Unschuldigen auf ihren Händen zu leben.“
Aus vielen der Berichte geht hervor, dass nicht-jüdische Ukrainer den gefährdeten Juden halfen, obwohl sie damit selbst ihre Leben riskierten. 2624 Ukrainer wurden bis zum heutigen Tag für die Rettung von Juden mit dem israelischen Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet.
Das Buch „Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine“ dürfte zu den künftigen Standardwerken der Holocaust-Literatur gehören. Seine Aktualität kann leider nicht bestritten werden.
Boris Zabarko · Margret Müller · Werner Müller (Hrsg.)
Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine – Zeugnisse von Überlebenden
Erschienen bei Metropol-Verlag, € 49.00
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.