Kultu­reller Relati­vismus und Macht­ver­ges­senheit: Kritische Anmer­kungen zur deutschen China-Debatte

Foto: Shutter­stock

Seit Jahrzehnten dominieren China­wis­sen­schaftler den poli­ti­schen Bera­ter­zir­kel Deutsch­lands, die blind sind für die expansive Macht­po­litik der kommu­nis­ti­schen Führung. Sie kul­ti­vieren ein China-Bild, das unsere Autorin „Spä­t­o­ri­en­ta­lis­mus“ nennt: Es ist von Exotismus verstellt und vermeidet die Frage einer politi­schen Strategie gegenüber der neuen Supermacht.

Peking, April 1986: Als der Tscher­nobyl-Kernre­aktor in der Ukraine schmilzt, erleben die russi­schen Studenten an unserer chine­si­schen Univer­sität einen großen Autori­täts­verlust. Plötzlich gehen sie ihren Kommi­li­tonen aus den sowje­ti­schen Satel­li­ten­staaten Osteu­ropas aus dem Weg. Gegenüber Studenten aus kapita­lis­ti­schen Gesell­schaften wie Hongkong, wo ich herkomme, schämen sie sich.  Ich frage einen ungari­schen Freund, Balazs, nach einer Erklärung. „Sie können uns nicht mehr sagen, wo es langgeht“, sagt er. Bis zum Tag des Reaktor­un­falls stehen die Russen an der Spitze der kommu­nis­ti­schen Studen­ten­hier­archie, die für Außen­seiter kaum zu durch­schauen ist. Jetzt beginnt ihr Abstieg.

Balazs glaubt aber nicht, dass die Sowjet­union das Problem ist. Seine Sorge gilt dem Land, in dem er studiert. Die Kommu­nis­tische Partei (KP) Chinas habe eine rasante wirtschaft­liche Öffnung in Gang gesetzt – ohne eine politische Reform. „Ein Optimist ist jemand, der denkt, dass die Russen kommen,“ sagt er: „Ein Pessimist ist jemand, der denkt, dass die Chinesen kommen.“

Balasz, der Pessimist, weiß, wovon er redet. 1956 marschierten sowje­tische Truppen in sein Land ein. Und er sollte Recht behalten. Die 1949 gegründete Volks­re­publik besteht heute länger als die Sowjet­union, die fünf Jahre nach Tscher­nobyl zerbrach. Aus einem rückstän­digen Land ist eine neue Super­macht geworden, die ihren Einfluss syste­ma­tisch ausbaut.

Der Späto­ri­en­ta­lismus führt koloniale Arroganz fort

Im Gegensatz zu Balazs hingen Studenten aus Westdeutschland, die mit uns am Beijing Language Institute (heute Beijing Language and Culture University) studierten, einem anderen, verträum­teren China-Bild an, das sich aus der philo­so­phisch-idealis­ti­schen Tradition der Aufklärung speist: Sie studierten Literatur, Philo­sophie oder chine­sische Medizin, nicht Technik, Handel oder Schul­me­dizin, wie unsere Kommi­li­tonen aus Osteuropa und den Entwicklungsländern.

Es ist diese Generation von Sinologen, die seit Jahrzehnten den politi­schen Berater­zirkel in Deutschland dominiert und Einfluss auf die Entschei­dungen von Unter­nehmen, Landes­re­gie­rungen und der Bundes­re­gierung nimmt. Sie kulti­viert ein China-Bild, das ich Späto­ri­en­ta­lismus nenne: Es ist strate­gisch blind, weil sein Exotismus und Roman­ti­zismus den Blick auf Macht­po­litik verstellt.

Späto­ri­en­ta­listen verstehen nicht, dass ein partei­ge­führtes China so stark werden kann, vielleicht schon geworden ist, dass es auf der ganzen Welt demokra­tische Normen in Frage stellt, zum Beispiel indem es sich auf umtrans­pa­rente Art in offene Gesell­schaften einmischt, inter­na­tionale Organi­sa­tionen in seinem Interesse verändert, oder – wie in den Fällen Taiwan, Tibet und Xinjiang – ganze Staaten und Regionen politisch isoliert. 

Portrait von Didi Kirsten Tatlow Sonntag

Didi Kirsten Tatlow ist Journa­listin und berichtet für die New York Times.

Das Argument der Späto­ri­en­ta­listen geht so: Ja, es gibt Probleme, mit China, aber die Kritik ist das Ergebnis westlicher Stereotype. China unter­wandere den Westen gar nicht, das sei nur eine Wahrneh­mungs­täu­schung. Mit der Warnung vor der „gelben Gefahr“ seien schon einmal Ressen­ti­ments gegen ostasia­tische Völker geschürt worden. Kultu­relle Unter­schiede – egal, wie vorsichtig formu­liert – solle man nicht benennen, das sei rassis­tisch. Auch die Sorge um die offene Gesell­schaft sei vorur­teils­be­haftet und übertrieben. Die schärfere Kritik, die etwa in den USA oder in Australien wächst, sei nicht auf Deutschland und Europa übertragbar, hier seien die Umstände – irgendwie – anders.

Der Späto­ri­en­ta­lismus will westliche Unwis­senheit und koloniale Arroganz reflek­tieren. Aber in Wirklichkeit führt er sie fort, indem er China unter­schätzt und dem Land mangelnden Macht­willen unter­stellt. Und er macht sich blind für das Inter­es­senspiel der KP. Diese nutzt das aus: Wer den wachsenden Einfluss chine­si­scher Studen­ten­or­ga­ni­sa­tionen in westlichen Univer­si­täten disku­tiert, muss damit rechnen, von der Partei­zen­trale in Peking als fremden­feindlich und rassis­tisch denun­ziert zu werden.

Ganz wichtig: Nichts von dem, was ich hier schreibe, bezieht sich auf das chine­sische Volk. Ich spreche vom Partei­staat und seinen Funktio­nären und wie diese die Menschen manipu­lieren und dominieren.

Die Mao-Begeis­terung der 68er: Eine Erfindung des Verfassungsschutzes?

Die Wurzeln des Späto­ri­en­ta­lismus liegen zum Teil in den persön­lichen Biogra­phien der heutigen Sinologen. Die ersten Begeg­nungen mit China entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg aus großer räumlicher Distanz. So waren es zum Teil ganz banale Dinge, die auf die heutigen China­wis­sen­schaftler eine exotische Faszi­nation ausübten und ihr Interesse an der Sinologie weckten. Etwa eine Landkarte des Reichs der Mitte, eines Landes, das so anders zu sein schien. Oder ein Paar Essstäbchen, das von einem reisenden Verwandten mitge­bracht worden war.

Wieder andere dachten im chine­si­schen Kommu­nismus eine Alter­native zum sowje­ti­schen und osteu­ro­päi­schen Kommu­nismus gefunden zu haben. In Wirklichkeit war der chine­sische Kommu­nismus aber mindestens genauso brutal wie seine europäi­schen Spiel­arten. Er war für Nicht­chi­nesen nur weniger zugänglich. Aber Mao Zedong übte auf die angehenden Sinologen der 68er-Generation, die eine Alter­native zum Kapita­lismus der USA suchten, einen starken Reiz aus. Erst später stellte sich heraus, dass die Begeis­terung für den Maoismus zum Teil vom Verfas­sungs­schutz geschaffen worden war, um den Einfluss der Sowjet­union einzu­dämmen – eine riesige histo­rische Ironie.

Deutschland müsste jetzt schmerz­hafte Debatten über die – techno­lo­gische, wirtschaft­liche und militä­rische – Strategie der chine­si­schen KP führen. Es müsste selbst so etwas wie eine Strategie entwi­ckeln. Aber hier beginnt das Problem. Strate­gi­sches Denken steht seit dem Ende des Natio­nal­so­zia­lismus unter General­ver­dacht, Sinologen inter­es­sieren sich schon gar nicht dafür. James Bindenagel und Philip Ackermann von der Univer­sität Bonn schreiben über strate­gi­sches Denken im Nachkriegs­deutschland: „Ohne volle Souve­rä­nität während des Kalten Krieges und im Kampf mit seiner Geschichte von Natio­na­lismus, Milita­rismus und Nazismus entwi­ckelte Deutschland eine strate­gische Kultur, die passiv, schüchtern, moralisch kompro­misslos und von Schuld­ge­fühlen geprägt war.“

Zwar haben Nachwuchs­for­scher die Heraus­for­derung mittler­weile erkannt. Aber ihr Einfluss ist beschränkt. Sie stehen in den Hierar­chien noch am Anfang und in der kleinen Berliner Thinktank-Landschaft sind öffent­lich­keits­wirksame Posten rar. Nicht zuletzt leidet die nachkom­mende Generation von Forschern an der Hyper­spe­zia­li­sierung der Wissen­schaften – kaum jemand versteht sie noch.

Die Realität: Chine­sische Inter­essen sitzen am EU-Verhandlungstisch

Die KP hingegen hat eine Strategie. Sie nutzt den globalen Handel und den freien Markt – Errun­gen­schaften der liberalen Moderne – schamlos aus und ist nach Medien­be­richten sogar in der Lage, mit manipu­lierten Mikro­chips und Smart­phones millio­nenfach souveräne Staaten auszu­spio­nieren. Heute ist China der größte Handels­partner Deutsch­lands. Aber Deutschland ist nur die Nummer sechs auf Chinas Liste. Andere Länder – etwa Indien – sind in einer ähnlichen Situation. Dort disku­tiert man die politi­schen Folgen wirtschaft­licher Abhän­gigkeit heftig. In Deutschland dringt die Erkenntnis nur langsam in die Öffent­lichkeit, obwohl die Abhän­gigkeit vom chine­si­schen Markt zum Himmel schreit. Volks­wagen, zum Beispiel, verkauft fast jedes zweite Auto in China.

Doch das Problem rückt näher und verkleinert den Spielraum, der bleibt, um unsere demokra­ti­schen Werte in einer vernetzten Welt durch­zu­setzen. Ein Beispiel: Bis 2021 soll China 67 Prozent des Hafens von Piräus in Griechenland gehören. Und bereits im vergan­genen Jahr blockierte mit Griechenland zum ersten Mal ein EU-Land ein kriti­sches Statement der Vereinten Nationen zu Chinas Menschen­rechts­si­tuation. Dieser Trend wird sich fortsetzen. Heute besitzen chine­sische Staats­kon­zerne Anteile an 13 Häfen Europas und zehn Prozent der Kapazität der europäi­schen Contai­ner­häfen. Vor zehn Jahren war es knapp ein Prozent.

Kurz: Europa besteht aus offenen Gesell­schaften – und wir müssen damit rechnen, dass eines Tages in Brüssel chine­sische Inter­essen am Tisch sitzen.

Ich denke, Balazs hätte sich das alles sehr gut vorstellen können. Aber irgendwie scheint er sehr weit weg zu sein, hier in Deutschland, wo wohl nur wenige China-Experten bereit sind, die Schluss­fol­gerung zu ziehen: dass die Vertei­digung liberaler Werte mehr erfordert als Verständnis.

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