China macht dicht
Als bevölkerungsreichstes Land der Erde ist China einer der rigorosesten Befürworter einer Zero-Covid-Politik. Doch auch rund zwei Jahre nach dem Ausbruch der Pandemie ändert die Volksrepublik ihren Corona-Kurs nicht. Im Gegenteil: Sie schottet sich immer stärker ab.
An diesem Interview war alles erstaunlich.
Vor wenigen Tagen gab der Forscher Guan Yi einem Hongkonger Fernsehsender ein Interview. Guan ist Virologe, er unterrichtet an der University of Hong Kong. Zudem ist er der Öffentlichkeit wegen seiner Forschung über die Infektionskrankheit SARS bekannt. 2005 nannte ihn das US-Magazin „Time“ einen „Global Health Hero“.
Der Null-Toleranz-Ansatz der chinesischen Führung gegenüber Covid-19 werde nicht erfolgreich sein, sagte Guan in dem Fernsehinterview. Denn das Coronavirus habe sich vollständig an den Menschen angepasst und könne nicht mehr eliminiert werden.
Das Interview war, man kann es nicht anders sagen, für chinesische Verhältnisse eine Sensation. Denn dass ein namhafter Virologe im Fernsehen den Corona-Kurs seines Landes kritisiert, mag in Europa und den USA normal sein. Aber in China ist es das nicht. Guan brach ein Tabu.
Aber nicht nur der Inhalt des Interviews war erstaunlich. Auch dass das Interview ausgerechnet auf Phoenix Television, einem pekingfreundlichen Fernsehsender lief, war bemerkenswert.
Nicht zuletzt ließ auch noch der Zeitpunkt aufhorchen: Denn diese Woche tagte in Peking das sechste Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (KPCh). Das Polit-Treffen gilt als weiterer Meilenstein für den Machtausbau von Staats- und Parteichef Xi Jinping. Höhepunkt des Plenums war die Verabschiedung einer Resolution, die Xi als zentrale Figur für den Aufstieg Chinas würdigt. Normalerweise herrscht um Polit-Treffen dieser Art Totenstille. Die Frage ist also: Gibt es in China eine Gruppe von einflussreichen Kritikern, die den Corona-Kurs ihres Landes falsch finden – und dafür sogar das Risiko auf sich nehmen, mundtot gemacht zu werden?
China ist als bevölkerungsreichstes Land der Erde der größte Befürworter einer Zero-Covid-Politik. Aktuell plagen die politische Führung wieder mehrere lokale Ausbrüche. Aber Zentral- und Provinzregierungen reagieren, wie sie es seit Ausbruch der Pandemie tun: rigoros und ohne jegliche Differenzierung. Die Stadt Heihe in der nordostchinesischen Provinz Heilongjiang startete am Montag das, was im chinesischen Behördenjargon „Volkskrieg“ genannt wird: ein martialisches Ausmerzen des Virus. Was das zu bedeuten hat, mussten Anfang November die Besucher des Freizeitparks Disneyland in Shanghai erleben. Nachdem eine Person, die den Park besucht hatte, positiv getestet worden war, wurden mehr als 30000 Besucher in dem Park eingeschlossen, um dort einen Massentest zu absolvieren.
Damit hat sich der Corona-Kurs der chinesischen Führung seit rund zwei Jahren nicht geändert. Mehr noch: Wo sich andere Länder, darunter Zero-Covid-Befürworter wie Australien, langsam wieder öffnen, schottet sich China immer weiter vom Rest der Welt ab.
Zum einen betrifft das den Tourismus und den Austausch von Menschen: China hat eines der strengsten Grenzkontroll- und Quarantänesysteme der Welt eingerichtet. Ausländer und chinesische Staatsbürger, die in das Land einreisen, müssen für mindestens zwei Wochen (meist mehr) in strengste Quarantäne. Zusätzliche Kontrollen gelten, wenn man nach Peking einreisen will, wo die politische Führung residiert.
Dieses System hat einerseits dazu geführt, dass es für Ausländer unmöglich ist, China zu besuchen, ohne mehrere Monate zu bleiben. Und es hat andererseits dazu geführt, dass die meisten Chinesen in ihrem eigenen Land feststecken.
Ändern wird sich das in naher Zukunft nicht. Erst diese Woche sagte der Virologe und Regierungsberater Zhong Nanshan in einem Fernsehinterview, dass sich China erst frühestens Ende 2022 für internationale Einreisen öffnen werde. Heißt im Klartext: In den kommenden 14 Monaten bleibt das Land abgeschottet.
Aber auch die politische Führung des Landes zieht sich von der internationalen Bühne zurück. Der chinesische Staatschef Xi hat sein Land seit rund 21 Monaten nicht mehr verlassen. Zuletzt reiste er weder zum G20-Gipfel nach Rom noch zur Klimakonferenz nach Glasgow – obwohl China der weltweit größte Emittent von Treibhausgasen ist. Auch den US-Präsidenten Joe Biden hat er noch nicht getroffen. Der US-Polit-Experte Noah Barkin sprach jüngst in der „New York Times“ von einer „Bunker-Mentalität“, die sich in China breitmache.
Nicht zuletzt macht das Land auch wirtschaftlich dicht. Der Leiter der American Chamber of Commerce in Shanghai warnte jüngst in der „Financial Times“ vor einer Abwanderung westlicher Führungskräfte aus der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt. Der Grund: Für internationale Unternehmen ist es derzeit so gut wie unmöglich, ihre Mitarbeiter und deren Familien im Rahmen des bestehenden Grenzkontroll- und Quarantänesystems nach China zu kriegen.
Die Ironie: Der chinesischen Führung könnte diese Entwicklung sogar in die Karten spielen. Denn einer der Eckpfeiler des aktuellen Fünfjahresplans ist die Politik der „zwei Kreisläufe“. Mit diesem Konzept will Peking den Binnenkonsum stärken und das Land weniger abhängig vom Warenaustausch mit den USA machen. Weniger Angewiesenheit auf internationalen Handel ist also ein wirtschaftspolitisches Ziel, das die politische Führung in Peking auch ganz unabhängig von der Pandemie verfolgt.
Chinas Rückzug nach Innen stellt die internationale Politik vor große Probleme. Denn es fehlen Gelegenheiten zum Austausch auf höchster politischer Ebene.
Aber Chinas Abschottung stellt Peking auch vor ein Glaubwürdigkeitsproblem: Die Volksrepublik betont bei jeder Gelegenheit, dass sie ein Land ist, das es in Sachen politische Führung mit den USA aufnehmen kann. Chinas Abwesenheit auf der internationalen Bühne straft diese Behauptung Lügen.
Die USA schickten sowohl zum G20-Gipfel in Rom als auch zur Klimakonferenz in Glasgow nicht irgendeinen Emissär, sondern ihren höchsten Amtsträger: Präsidenten Joe Biden.
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