China strebt eine Pax Sinica, eine chine­sische Weltordnung an

Der gebürtige Hongkonger Politik­wis­sen­schaftler und Histo­riker Steve Tsang leitet das SOAS China Institute der London University und hat sich ausgiebig mit Regie­rungs­führung und Sicher­heits­po­litik in China, Taiwan und Hongkong befasst. In seinem jüngsten Buch erklärt er das System Xi Jinping. Interview: Till Schmidt.

Der chine­sische Staats­prä­sident Xi Jinping gilt in Europa und im Westen als äußerst mächtiger und ehrgei­ziger, aber auch als etwas myste­riöser Führer. Steve Tsang, in Ihrem neuen Buch mit dem Titel „The Political Thought of Xi Jinping“ gehen Sie und Ihre Co-Autorin Olivia Cheung der Frage nach, was Chinas Staatschef will, wie er denkt und was er sich für Chinas Zukunft vorstellt. Lässt sich das in einem Kanon von Texten finden oder sogar in einem einzigen kanoni­schen Buch, vergleichbar mit der berüch­tigten „Mao-Bibel“? Dort sind ja Zitate des damaligen „Großen Vorsit­zenden“ zusammengestellt.

Das politische Denken von Xi Jinping ist nicht in einem einzigen Band zusam­men­ge­fasst. Es handelt sich um eine Sammlung von Reden, Schriften und in einigen Fällen auch um Anwei­sungen, die Xi Jinping nach seinem Amtsan­tritt als chine­si­scher Staatschef im Jahr 2012 heraus­ge­geben hat. Ein Team unter der Leitung des Mitglieds des Ständigen Ausschusses des Polit­büros, Wang Huning, unter­stützt Xi Jinping bei der Abfassung vieler dieser Dokumente, vielleicht sogar der meisten. Unser Buch versammelt im Grunde alle öffentlich zugäng­lichen Texte und rekon­struiert Xis Gedan­kengut entlang der folgenden Frage: Was sind die wichtigsten Ideen, die Xi Jinping in Bezug auf die Regie­rungs­führung, das Management und die Außen- und Sicher­heits­po­litik vertritt?

Auf welche Weise und über welche Kommu­ni­ka­ti­ons­kanäle versuchen die staat­lichen Behörden, Xis politi­sches Denken in die Herzen und Köpfe der Chinesen zu pflanzen? 

Das politische Denken von Xi Jinping wurde in alle Bereiche des Lebens integriert – von den Lehrplänen der Kinder­gärten bis hin zum Hochschul­studium, von Film-Produk­tionen oder sozialen Medien bis hin zu praktisch jeder Art von Instru­menten, die von der allmäch­tigen Propa­gan­da­ab­teilung der Kommu­nis­ti­schen Partei einge­setzt werden. Es ist für alle Chinesen zur Pflicht geworden, Xis politi­sches Gedan­kengut zu lernen. Chine­sinnen und Chinesen im Ausland werden dazu ermutigt, dies zu tun.

Kurz nach dem 19. Parteitag 2017 gab die Kommu­nis­tische Partei eine App namens „Xuexi qiangguo“ heraus. Alle Partei­mit­glieder müssen diese App auf ihre Mobil­geräte herun­ter­laden. Diese App versorgt sie nicht nur mit Inhalten, sondern überwacht auch, ob und wie sie täglich das politische Denken von Xi lernen. Als die Covid-Pandemie ausbrach, erhielt man über die App Geneh­mi­gungen für das Verlassen der Wohnung, wenn man irgend­wohin reisen musste. Das Herun­ter­laden der App war eine der einfachsten Möglich­keiten dafür.

Wenn ich diesen Ansatz mit früheren sozia­lis­ti­schen Agita­tions- und Propa­gan­da­me­thoden vergleiche, denke ich an Partei­kader, die in Dörfer und Fabriken gehen und versuchen, Flugblätter und Plakate zu verteilen und mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Spielt diese Art der Propa­ganda und Agitation im China von heute überhaupt noch eine Rolle?

Das China im 21. Jahrhundert und insbe­sondere das der letzten zehn bis zwölf Jahre unter­scheidet sich stark vom China der 1960er Jahre. Heute werden zwar Studi­en­treffen zu den Xi-Gedanken organi­siert. Aber es werden keine Partei­kader und Einheiten ausge­sendet, um die Lehren des Großen Vorsit­zenden zu verbreiten, so wie es noch während der Kultur­re­vo­lution der Fall war. Damals verlangte Mao, dass die Menschen sein Rotes Buch bei sich trugen und täglich darin lasen. Die Menschen akzep­tierten das und befolgten die Anweisungen.

Von 1979 bis 2012, während der verlän­gerten Ära von Deng Xiaoping, zu der auch die Herrschaft von Hu Jintao gehörte, erlebte China jedoch Jahrzehnte der Reform und Öffnung. Das chine­sische Volk hat damals ein Gefühl für indivi­duelle Freiheit entwi­ckelt. Daher nutzen heute viele Menschen – von der breiten Öffent­lichkeit bis hin zu einigen Kadern der Kommu­nis­ti­schen Partei – die App nur auf eine formale Art und Weise, ohne sich wirklich ernsthaft damit zu befassen. Aber jeder weiß, dass man Probleme mit seiner Karriere oder anderen Formen des Fortkommens bekommen wird, wenn man diese Tests nicht besteht. Es besteht also kaum eine Wahl.

Schauen wir uns die verschie­denen Bestand­teile des politi­schen Denkens von Xi Jinping an. Offiziell wird es als sozia­lis­tisch bezeichnet. Was sind die wichtigsten ideolo­gi­schen Unterströmungen?

Bei Xis Gedanken geht es darum, die Idee von einem Land, einem Volk, einer Ideologie, einer Partei und einem Führer zu schmieden. In unserem Buch charak­te­ri­sieren wir das politische Denken von Xi Jinping als sino-zentri­schen, konsul­ta­tiven Leninismus. Was bedeutet das konkret? Zu seinen charak­te­ris­ti­schen Merkmalen gehört der absolute Fokus auf die Sicherheit des Partei­staates und des obersten Führers. Er steht an erster Stelle.

Das zweit­wich­tigste Merkmal besteht darin, dass unentwegt und jedem gesagt wird: China wird wieder groß gemacht. Ohne die Kommu­nis­tische Partei sei China schwach, arm, unter­ent­wi­ckelt gewesen und Gegen­stand von Schikanen durch westliche Länder. Die Kommu­nis­tische Partei jedoch habe China wieder ein Gefühl von Größe und Errun­gen­schaften gegeben. Es gebe also allen Grund, China zu unter­stützen. Politi­scher Dissens oder religiöse und ethnische Grund­lagen werden nicht akzeptiert.

Wie bezieht Xis Gedan­ken­gerüst die allge­meine Bevöl­kerung oder „die Massen“ mit ein, wie das der Sozia­lismus klassi­scher­weise ausdrücken würde?

Bei der Verbes­serung der Regie­rungs­führung im Rahmen des chine­sisch geprägten Konsul­tativ-Leninismus geht es darum, der Kommu­nis­ti­schen Partei die Verant­wortung für alles zu übertragen. Das Credo: Wenn die Kommu­nis­tische Partei alles auf diese leninis­tische Weise leitet, ist China gut regiert. Wenn die Partei dazu aber nicht in der Lage ist, werde sie sich auf ihre Weise selbst überwachen. Xi Jinping nennt das die „Selbst­re­vo­lution“ der Kommu­nis­ti­schen Partei.

Die Konsul­tation ist das vierte Merkmal des politi­schen Denkens von Xi Jinping. In China bedeutet Konsul­tation die Wieder­be­lebung des von Mao Zedong entwi­ckelten Konzepts der „Massen­linie“. Es funktio­niert folgen­der­maßen: Die Partei wendet sich an die Bevöl­kerung – die bereits von der gesamten staat­lichen Propa­gan­da­ma­schi­nerie indok­tri­niert ist – und fragt sie, was sie möchte. Wenn die Partei ihre Politik formu­liert hat, versucht sie, diese Politik so zu verpacken, dass sie so aussieht, als hätte sie Elemente aus den Konsul­ta­tionen mit einbezogen.

Wie stellt sich Xi die Rolle Chinas in der Welt und in der derzei­tigen Weltordnung vor?

Xis Außen­po­litik zielt darauf ab, China wieder groß zu machen, als Teil der Erfüllung des chine­si­schen Traums der natio­nalen Verjüngung. Das müsste bis Ende 2049, dem hundertsten Jahr der Gründung der Volks­re­publik China, erreicht werden. In diesem Fall würde China vom Rest der Welt als die fortschritt­lichste, am weitesten entwi­ckelte, reichste, mächtigste und zivili­sier­teste Nation der Welt anerkannt werden. Damit wäre China eine Nation, die man respek­tiert und bewundert und deren Führung man deshalb folgen muss. Es geht darum, die liberale inter­na­tionale Ordnung der Nachkriegszeit in eine chine­sisch geprägte Weltordnung umzuwandeln. Dafür wird sich auch auf mythische Vorstel­lungen der mittel­al­ter­lichen Vergan­genheit bezogen.

Ein klassi­scher natio­na­lis­ti­scher Schachzug: Geschichte wird äußerst selektiv nach den eigenen politi­schen Bedürf­nissen konstruiert.

In der Tat. Im zweiten Jahr seiner Herrschaft führte Xi Jinping ein Konzept namens „histo­ri­scher Nihilismus“ ein. Das bedeutet im Grunde, dass jede andere Geschichts-Inter­pre­tation als die der Partei nihilis­tisch und daher verboten und strafbar ist. Es gibt nur ein einziges legitimes Geschichtsbild, das da lautet: Die beste Zeit in der mensch­lichen Geschichte war, als China das mächtigste, fortschritt­lichste, stärkste und reichste Land der Welt war und sich Chinas Nachbarn dem Land gebeugt haben.

Dieser Zustand wird nicht als Utopie angesehen, die in einer fernen Zukunft verwirk­licht werden soll, denn so etwas ist in der Geschichte tatsächlich immer wieder passiert. Xi sieht diese Wieder­her­stellung als Chinas positiven Beitrag zur Weltordnung. Sie würde eine Pax Sinica schaffen, in der alle wüssten, wo sie hinge­hören. Die Führungs­macht würde respek­tiert und bewundert, so dass die anderen Länder nicht mit Gewalt zu unter­worfen werden müssten. Daher wäre eine Pax Sinica besser als die liberale inter­na­tionale Ordnung. Der globale Hegemon hätte es nicht nötig, ständig „inter­na­tionale Polizei­ein­sätze“ durch­zu­führen und Gewalt gegen andere Länder anzuwenden.

Das klingt bizarr etwa vor dem Hinter­grund des Konflikts um Taiwan. Wie charak­te­ri­sieren Sie die Rolle dieses Konflikts in Xis Bestreben, China wieder groß zu machen?

Taiwan ist im Gesamt­konzept des Xi Jinping-Gedankens äußerst wichtig, wenn nicht sogar entscheidend. Ohne das „heilige Terri­torium Taiwan“ als Teil der Volks­re­publik China macht die ganze Idee von einem Land, einem Volk, einer Ideologie, einer Partei und einem Führer keinen Sinn. China würde dann nicht wieder groß gemacht werden. Darüber hinaus kann die oben beschriebene Ersetzung der liberalen inter­na­tio­nalen Ordnung durch die chine­sisch geprägte Ordnung nicht erreicht werden, ohne der einzigen existie­renden Super­macht sichtbar und effektiv in die Augen zu schauen und diese zum Rückzug zu zwingen.

Wenn China also Taiwan einnehmen kann – vorzugs­weise ohne eine blutige Schlacht, sondern indem es Taiwan zur Kapitu­lation zwingt – wo würde Amerika dann im Indopa­zifik stehen? Würden die europäi­schen NATO-Länder immer noch davon ausgehen, dass die USA ihnen im Rahmen des NATO-Vertrags im Ernstfall zu Hilfe kommt? Der gesamte Status der USA würde also grund­sätzlich in Frage gestellt werden. Wenn China einen Krieg mit den Verei­nigten Staaten führen und dann Taiwan einnehmen würde, wären die Auswir­kungen noch drama­ti­scher. Die Folgen der Demütigung der Ameri­kaner wäre für den Rest der Welt schwer absehbar.

Kommen wir zurück zum chine­si­schen Festland. Was bedeutet Xis Vorstellung von einem Land, einem Volk, einer Ideologie, einer Partei und einem Führer für die Rechte von Minderheiten?

Um als patrio­ti­scher Chinese zu gelten, muss man sich der chine­si­schen Mainstream-Kultur auf der Grundlage der Han-Zivili­sation anschließen und der Kommu­nis­ti­schen Partei und dem Obersten Führer gegenüber absolut loyal sein. Aus der Sicht des Xi Jinping-Gedankens sind die Minder­heiten in Xinjiang, Tibet oder Hongkong allesamt Menschen, die von falschen ethni­schen, religiösen oder politi­schen Überzeu­gungen in die Irre geführt werden.  Daher sei es die Pflicht der Kommu­nis­ti­schen Partei, diese Minder­heiten zu erziehen und ihnen klarzu­machen, was wirklich gut für sie ist: nämlich patrio­tische Chinesen zu werden. Sie können zwar Uiguren, Hongkonger oder Tibeter bleiben, müssen aber die Führung der Kommu­nis­ti­schen Partei ohne Frage unter­stützen und die Führung von Xi Jinping bewundern. Wenn sie das tun, können sie weiterhin ihre ethnische Kleidung tragen oder ihre ethni­schen Lieder singen, in die Moschee gehen oder sogar ihren Legis­la­tivrat behalten, wie in Hongkong. Letzt­endlich geht es um politische und soziale Kontrolle. 

Inwieweit ist das Bestreben, den politi­schen Gedanken von Xi Jinping in den Herzen und Köpfen der Chinesen zu verankern, erfolgreich?

Es gibt Unter­schiede zwischen den vielen verschie­denen Aspekten. Gegen politische Maßnahmen, die den täglichen Lebens­be­din­gungen der Menschen wirklich schaden, wird Wider­stand geleistet, wo es nur geht. Man hat das etwa gesehen, als die Menschen sich nicht an die Covid-Beschrän­kungen hielten und zu Protesten aufriefen. Aber wenn es beispiels­weise um die nationale Größe Chinas geht, dann ist die Indok­tri­nation eindeutig wirksamer. In den letzten fünf Jahren hat die chine­sische Regierung einen grund­sätzlich sehr aggres­siven Ansatz in der Diplo­matie prakti­ziert, der das unter­gräbt, worum es in der Diplo­matie eigentlich geht. Die Öffent­lichkeit macht sich das zu eigen. In China gibt es keine ernst­hafte Kritik daran, außer von einigen wenigen Akade­mikern im privaten Rahmen.

Das zeigt, dass Propa­ganda und Indok­tri­nation in Bereichen, die die Menschen nicht unmit­telbar betreffen, gut funktio­nieren. Die überwäl­ti­gende Mehrheit der Han-Chinesen glaubt nicht an Menschen­rechte und den Libera­lismus und hat keine ernst­haften Probleme mit dem, was in Xinjiang oder in Tibet geschieht. Ebenso akzep­tieren die meisten Chinesen Xis Rhetorik, dass Taiwan „heiliges Terri­torium“ ist und „wieder­ein­ge­gliedert“ werden müsse.

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