China ist kein Sieger im Systemvergleich
Peking bemüht sich, den Erfolg Chinas bei der Pandemiebekämpfung als systemischen Vorteil zu vermarkten. Doch schon ein Blick auf Taiwan zeigt, dass autoritäre Staaten keineswegs besser aufgestellt sind, um Krisen zu begegnen, als liberale Demokratien, erklärt Prof. Sandra Heep.
„Never let a good crisis go to waste.” Ganz im Sinne dieses Churchillschen Diktums verfährt der chinesische Parteistaat bei der propagandistischen Vermarktung seiner erfolgreichen Bekämpfung der Corona-Pandemie. So war bereits im Mai im Parteiorgan „People’s Daily“ ein Loblied auf das chinesische Regierungssystem zu lesen, das die Welt angesichts der Pandemie mit „Weisheit” und „Kraft” versorge und internationale Beobachter neugierig auf die „Geheimnisse hinter Chinas Erfolg” gemacht habe. Dass dieses Regierungssystem durch seine fehlende Transparenz, seine strikten Hierarchien und seine Priorisierung der Interessen der Kommunistischen Partei gegenüber denen der Bevölkerung über Wochen hinweg ein entschiedenes Vorgehen gegen das Corona-Virus verhindert und damit die Weichen für die globale Ausbreitung des Virus gestellt hatte, durfte in diesem Zusammenhang selbstverständlich nicht thematisiert werden. In den darauffolgenden Monaten wurden die Sprachrohre der Kommunistischen Partei nicht müde, Chinas vermeintlichen Sieg im Systemwettbewerb zu zelebrieren. So verkündete die für ihre nationalistischen Töne bekannte Global Times Anfang dieses Jahres, dass Chinas „effizientes politisches System” es ermöglicht habe, „korrekte Entscheidungen zur Priorisierung des Lebens der Menschen” zu treffen, wohingegen einige westliche Regierungen den Fehler gemacht hätten, sich auf wirtschaftliche Interessen oder „‚sogenannte ‚Menschenrechte oder Freiheit’” zu konzentrieren und damit bei der Viruseindämmung ins Hintertreffen geraten seien.
Keine deutsche Selbstblockade
Während die Volksrepublik ihre Erfolge feiert, setzt in Deutschland angesichts des Scheiterns bei der Pandemiebekämpfung sowie der zunehmend als bedrohlich empfundenen wirtschaftlichen Entwicklung Chinas eine selbstkritische Diskussion über die globale Wettbewerbsfähigkeit liberaler Demokratien ein.
Doch während es dringend geboten ist, den Ursachen für das klägliche Abschneiden Deutschlands in der zweiten Viruswelle nachzugehen, schießt über das Ziel hinaus, wer die Ursachen für die Probleme in den Artikeln des Grundgesetzes sucht. Zwar eilt liberalen Demokratien der Ruf voraus, dass sie aufgrund von Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit selbst in Krisenzeiten nur im Schneckentempo Entscheidungen von begrenzter Reichweite treffen können.
Doch hat sich im Ausnahmezustand des vergangenen Jahres gezeigt, dass die Bundesregierung durchaus dazu in der Lage ist, weitreichende Entscheidungen innerhalb kürzester Zeit zu treffen, ohne sich dabei vom Bundestag oder von der Justiz ausbremsen zu lassen. Ein Jahr nach dem Ergreifen der ersten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in Deutschland hält die Exekutive nach wie vor das Heft fest in der Hand, das Parlament spielt weiterhin die zweite Geige, und die Gerichte lassen bei der Ausübung ihrer Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive große Zurückhaltung walten, wie bereits der Rechtswissenschaftler Josef Franz Lindner feststellte. Zu beklagen ist hier also eher ein Defizit in der demokratischen und rechtsstaatlichen Praxis, das mitunter zu Problemen hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit und Legitimität einzelner Maßnahmen führt, als eine Selbstblockade des demokratischen Systems durch sich in die Quere kommende Gewalten.
Wer sich auf die Suche nach den Ursachen für das Scheitern der deutschen Strategie zur Pandemiebekämpfung macht, wird neben einzelnen politischen Fehlentscheidungen auf zwei grundlegende Probleme stoßen: einen als sakrosankt verstandenen Datenschutz, der zu einer unzureichenden Durchsetzung bestehender Quarantäne- und Isolationsbestimmungen führt, sowie ein in Teilen der Bevölkerung verbreitetes Misstrauen gegenüber der Regierung, das sich in Verstößen gegen Vorschriften zur Viruseindämmung manifestiert. Eine Überlegenheit autoritärer Systeme lässt sich aus diesen Hindernissen bei der Virusbekämpfung allerdings nicht ableiten. Zwar kommt dem Schutz persönlicher Daten in einer freiheitlichen Ordnung eine größere Bedeutung zu als in einem autoritären Regime. Doch wie bereits die Sozialwissenschaftler Jürgen Gerhards und Michael Zürn betonten, wäre es auch in einer Demokratie möglich, eine differenzierte Debatte über die Abwägung zwischen Datenschutz und Freiheitsrechten im Kontext einer globalen Ausnahmesituation zu führen und sich auf eine vorübergehende Ausweitung staatlicher Überwachungsbefugnisse in einem klar definierten rechtlichen Rahmen zu verständigen.
Vorbild Taiwan
Eine größere Hürde stellt das mangelnde Vertrauen in die Regierung dar, zumal hier die paradoxe Situation vorliegt, dass die transparent agierende Bundesregierung weniger Vertrauen genießt als der auf Informationsrepression und Propaganda setzende chinesische Parteistaat. Vor diesem Hintergrund erscheint es dringend notwendig, insbesondere für Krisenzeiten neue Wege der politischen Kommunikation zu entwickeln und gleichzeitig der Ausbildung von Medienkompetenz und kritischer Reflexionsfähigkeit im Bildungswesen höhere Priorität einzuräumen. Orientierung bietet in diesem Zusammenhang die taiwanesische Regierung, die unter Präsidentin Tsai Ing-wen nicht zuletzt angesichts gezielter Desinformationskampagnen seitens der Volksrepublik China eine auf digitale Partizipation und Transparenz setzende Kampagne zur Förderung des Vertrauens in die Regierung lancierte und damit zeigte, dass es nicht unumgänglich ist, vor dem autoritären Vertrauensvorteil zu kapitulieren. Wie schon die amerikanische Asien-Kennerin Rorry Daniels feststellte, ist es nicht zuletzt dieser Vorarbeit zu verdanken, dass Taiwan die Corona-Pandemie weitestgehend unbeschadet überstanden hat.
Mangelnde Effizienz der chinesischen Strategie
Ohnehin ist ein Blick nach Taiwan dazu geeignet, sich davon zu überzeugen, dass eine erfolgreiche Pandemiebekämpfung auch in einer liberalen Demokratie möglich ist. Denn trotz der geographischen Nähe zu China ist es in Taiwan gelungen, durch weitreichende Einreiseverbote und konsequent durchgesetzte Quarantäne- und Isolationsvorschriften die Ausbreitung des Virus zu stoppen, ohne auf einen Lockdown zu setzen. Im Gegensatz zur chinesischen Regierung, die auf lokale Virusausbrüche nach wie vor mit drastischen Maßnahmen wie der Abriegelung ganzer Städte reagiert und auch nicht davor zurückschreckt, Bewohner in ihren Wohnungen einzuschließen, hat es die taiwanesische Regierung damit geschafft, das Virus nicht nur effektiv, sondern auch effizient einzudämmen. Dabei kann die mangelnde Effizienz in der chinesischen Strategie zur Virus-Bekämpfung durchaus auf Chinas autoritäres Regierungssystem zurückgeführt werden. Denn das Prinzip der Gewaltenkonzentration und die damit einhergehende Abwesenheit von Kontrollmechanismen führt in Kombination mit nicht nur im Krisenfall gegebenen umfassenden Eingriffsmöglichkeiten in Wirtschaft und Gesellschaft häufig dazu, dass eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit ausbleibt. Zu beobachten war dies bereits während der Globalen Finanzkrise, auf die Beijing mit einem ohne Zaudern verabschiedeten gigantischen Stimulusprogramm reagierte, das die Wirtschaft zwar effektiv stabilisierte, dafür aber eine immense Fehlallokation von Ressourcen und einen erheblichen Anstieg der Verschuldung aller beteiligter Akteure in Kauf nahm, die die chinesische Wirtschaft bis heute belasten.
Eine Überlegenheit des chinesischen Systems bei der Virusbekämpfung kann also mitnichten konstatiert werden. Zudem zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass der vermeintliche Sieger im Systemwettbewerb auch im Hinblick auf seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auf einem wackligen Podest steht. Zwar ist es der Kommunistischen Partei gelungen, innerhalb von vier Jahrzehnten Hunderte Millionen Menschen aus der Armut zu befreien und eine international weitestgehend isolierte Wirtschaft in eine der weltweit einflussreichsten Volkswirtschaften zu verwandeln. Doch darf dabei nicht übersehen werden, dass die globale Bedeutung der chinesischen Wirtschaft in starkem Kontrast zu einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf steht, das sich im Jahr 2019 kaufkraftbereinigt auf gerade einmal 30 Prozent des deutschen und ein Viertel des amerikanischen belief.
Hürden für Chinas wirtschaftliche Entwicklung
Dass es China in absehbarer Zeit gelingen wird, auch im Hinblick auf das BIP pro Kopf aufzuholen, ist dabei keine ausgemachte Sache. Denn die erfolgreiche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte hat dazu geführt, dass sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen grundlegend verändert haben. Der Spielraum für nachholende Entwicklung auf der Grundlage von Technologietransfers aus den führenden Industrienationen ist mit Chinas technologischem Fortschritt deutlich geschrumpft. Gleichzeitig sinkt in den entwickelten Ländern die Bereitschaft, Technologien mit China zu teilen, da dies zunehmend als Risiko für die eigene wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit betrachtet wird. Zudem ist die Verschiebung von Arbeitskräften von der Landwirtschaft in die Industrie in China nahezu abgeschlossen, was zu Lohnsteigerungen führt und eine wichtige Quelle für Produktivitätszuwächse versiegen lässt. Erschwerend hinzu kommt eine schrumpfende Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, die die Lohnsteigerungen weiter verschärft und damit die Konkurrenzfähigkeit chinesischer Produkte auf dem Weltmarkt bedroht.
Problematisch ist nicht zuletzt auch die hohe Investitionsquote der chinesischen Wirtschaft, die aufgrund der wachsenden Schwierigkeit bei der Identifikation sinnvoller Investitionsprojekte zunehmend zur Vergeudung von Ressourcen führt. Die chinesische Regierung ist sich dieser Herausforderungen durchaus bewusst und versucht insbesondere durch industriepolitische Programme, die Weichen für eine erfolgreiche Entwicklung unter veränderten Rahmenbedingungen zu stellen. Doch bleibt abzuwarten, ob Chinas autoritäres System mit einem auf Innovation und Effizienz beruhenden Wachstumsmodell vereinbar ist oder ob die Kombination eines Mangels an Rechtssicherheit, eines Übermaßes an Kontrolle und eines begrenzten und schrumpfenden Raums für kritische Diskurse das Land in die Falle des mittleren Einkommens führen wird. Ein Blick auf die Staaten, denen der Aufstieg zu einem entwickelten Land mit hohem Einkommen gelungen ist, dürfte Chinas Machthaber jedenfalls mit Sorge erfüllen. Denn bei den meisten dieser Staaten handelt es sich um Demokratien. Und die wenigen autoritären Länder in dieser Liga kommen aufgrund ihrer geringen Größe bzw. ihres Ressourcenreichtums nicht als Modell für Chinas weitere Entwicklung in Frage.
Dass sich das chinesische System bei genauerer Betrachtung weder bei der Pandemiebekämpfung noch bei der Wirtschaftsentwicklung als Sieger erweist, darf für die Verfechter der liberalen Demokratie allerdings keinen Grund zur Selbstzufriedenheit darstellen, sondern sollte vielmehr zu einer differenzierten Analyse der Konkurrenzfähigkeit verschiedener Systeme motivieren, die Erfolge bzw. Misserfolge einzelner Länder nicht blindlings auf ihre Regierungsform zurückführt. Wünschenswert wäre es zudem, dass sich die neu gefundene Bereitschaft, von anderen Ländern zu lernen, nicht auf das die Schlagzeilen dominierende China beschränken, sondern sich auf vergleichsweise junge Demokratien wie Taiwan ausweiten würde, die den Demokratien der westlichen Welt neue Impulse liefern können. Nicht zuletzt aber wird es für die Konkurrenzfähigkeit demokratischer Systeme entscheidend sein, dass ihre Befürworter nicht nur die Schwächen der Demokratie reflektieren, sondern auch an ihre Stärken erinnern, um einen Kontrapunkt zu ihrer gezielten Diskreditierung durch Chinas Propagandamaschinerie zu setzen, die ihrem weltweiten Ansehen einen erheblichen Schaden zuzufügen droht.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Spenden mit Bankeinzug
Spenden mit PayPal
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.