Chinas riskanter Abschied von der Null-Covid-Politik

Foto: IMAGO /​ Kyodo News

Chinas schwache Wirt­schaft und die Proteste sind mögliche Gründe für die radikale Kehrt­wende in der Coro­na­po­litik.  Ein möglicher Kollaps des Gesund­heits­sys­tems könnte auch Xi Jinping gefähr­lich werden.

In der Nacht von Montag auf Dienstag war es so weit: China verab­schie­dete sich vom grünen Pfeil. In einem Countdown, der online verfolgt werden konnte, wurde um Mitter­nacht die nationale Covid-Tracking-App abge­schaltet, die das Leben von Menschen in China fast drei Jahre lang kontrol­liert hatte.

Der grüne Pfeil erschien immer dann in der App, wenn kein Kontakt mit Infi­zierten nach­ge­wiesen wurde und erlaubte dem Nutzer, innerhalb Chinas zu reisen. Obwohl lokale Apps weiterhin im Einsatz sind, zeigt der Schritt, dass China sich endgültig von seiner Null-Covid-Politik verabschiedet.

Gesund­heits­krise durch schlag­ar­tige Lockerung

In China wird nach drei Jahren harter Abrie­ge­lung radikal geöffnet. Lockdowns werden beendet, Infi­zierte müssen nicht mehr ins Quaran­tä­ne­zen­trum, sondern sollen sich zu Hause ausku­rieren. Die Massen­tests enden, und wer im Land reist, muss keinen negativen Test mehr vorweisen. In einer radikalen Kehrt­wende hatte die Regierung vergan­genen Mittwoch ihre rigorose Null-Covid-Strategie weit­ge­hend aufgehoben.

Die Stimmung ist dennoch alles andere als eupho­risch. Die schlag­ar­tige Lockerung der Null-Covid-Politik hat das Land in eine Gesund­heits­krise gestürzt. Chinas offi­zi­elle Gesamt­zahl von 363.072 Fällen ist nach einer Reihe von Ausbrü­chen im ganzen Land gegenüber dem Stand vom 1. Oktober um fast 50 Prozent gestiegen.

Da nicht mehr überall getestet werden muss, dürfte die Dunkel­ziffer weitaus höher liegen. Vor Kliniken bilden sich lange Schlangen, Apothe­ken­re­gale sind leer gefegt, Patienten infi­zieren Ärzte, chine­si­sche Medizin ist online ausver­kauft. Die Straßen sind leer, weil die Menschen aus Furcht vor Anste­ckung nicht mehr vor die Tür gehen.

Wird das „Covid-Chaos“ zur Gefahr für Xi Jinping?

Fast drei Jahre lang hielten sich die 1,4 Milli­arden Bürger Chinas weit­ge­hend wider­standslos an die Maßnahmen der Regierung. Jetzt sind sie auf sich allein gestellt. Die Infek­tionen im Land steigen rasant – und China ist nach jahre­langem Frei­heits­entzug wieder da, wo es ange­fangen hat. Lokale Medien sprechen von einem „Covid-Chaos“. Nun stellen sich viele Beob­achter die Frage, ob Präsident Xi Jinping diese Entwick­lung gefähr­lich werden kann.

Seit Beginn der Pandemie stellte Xi den Ansatz seiner Regierung als überlegen gegenüber west­li­chen Stra­te­gien dar. Immer wieder verglich er die 1,1 Millionen Todes­opfer in den USA mit Chinas offi­zi­ellen 5325 Toten. Radikale Lockdowns und Massen­tests seien das Erfolgs­re­zept. Viele Menschen unter­stützen deswegen Pekings Null-Covid-Politik.

Und nun setzt die Regierung plötzlich auf Durch­seu­chung. Jeder ist selbst für seine Gesund­heit verant­wort­lich. Sogar wer Hilfe sucht, bekommt sie oft nicht, weil die Kliniken überfüllt sind und Patienten abweisen. In Metro­polen wie Peking, Guangzhou, Chengdu oder Shijiaz­huang erlebten Kliniken „den ersten Schock einer gigan­ti­schen Welle von Infek­tionen und einen Mangel an Gesund­heits­per­sonal“, schrieb das renom­mierte Wirt­schafts­ma­gazin „Caixin“ und sprach ebenfalls von einem „Covid-Chaos“.

In langen Schlangen müssen Hilfe­su­chende bis zu fünf, sechs Stunden warten – bei teilweise winter­li­chen Tempe­ra­turen. Behörden in Peking sagten, dass am Sonntag mehr als 22.000 Patienten Kran­ken­häuser in der ganzen Stadt besucht hatten – 16-mal so viele wie eine Woche zuvor.

Experten fürchten, dass die Corona-Welle jetzt besonders ältere Menschen treffen wird, die in China aus Angst vor Neben­wir­kungen vielfach nicht ausrei­chend geimpft sind. Nur 40 Prozent der über 80-Jährigen haben bislang eine Booster-Spritze eines lokalen Impf­stoffs erhalten. Einen Import „auslän­di­scher“ mRNA-Impf­stoffe lehnt die Kommu­nis­ti­sche Partei ab.

Proteste und ange­schla­gene Wirt­schaft als Gründe für die Kehrtwende

Nachdem die Behörden in den vergan­genen Monaten eindring­lich vor der Omikron-Variante warnten, spielen Staats­me­dien die Gefähr­lich­keit des Virus jetzt herunter und verglei­chen die Infektion mit einer gewöhn­li­chen Grippe. Wieso die Regierung so über­stürzt öffnet, kann nur gemutmaßt werden.

Ein Grund könnte die ange­schla­gene Wirt­schaft sein, die merklich unter der Null-Covid-Strategie gelitten hat. Experten haben ihre Prognose für das jährliche Wachstum auf unter drei Prozent gesenkt – im vergan­genen Jahr lag es nach offi­zi­ellen Angaben noch bei 8,1 Prozent.

China-Beob­achter vermuten zudem, dass die jüngsten Proteste zu der plötz­li­chen Kehrt­wende beigetragen haben. Diese wurden durch einen Brand in einem Hochhaus in der west­li­chen Region Xinjiang ausgelöst, bei dem im November zehn Menschen ums Leben kamen. Der Vorwurf war, dass die Covid-Einschrän­kungen die Rettung behindert hätten. Bei mehreren Protesten wurde der Rücktritt Xi Jinpings gefordert – ein Maß an öffent­li­cher Meinungs­äu­ße­rung, das es seit Jahr­zehnten nicht mehr gegeben hat.

Drohende Omikron-Welle auch ohne Lockerungen

Eine weitere mögliche Erklärung könnte sein, dass die Regierung in jedem Fall eine heftige Omikron-Welle im ganzen Land erwartete – auch ohne Locke­rungen. Schon vor dem Kurs­wechsel in der Corona-Politik war die Zahl der Infi­zierten gestiegen, Test­ka­pa­zi­täten reichten nicht mehr aus, die behörd­liche Nach­ver­fol­gung stieß an ihre Grenzen.

Führende Epide­mio­logen erwarten nach Angaben der partei­nahen Zeitung „Global Times“, dass die Infek­ti­ons­welle innerhalb von einem Monat den Höhepunkt erreichen wird. Am Sonntag meldete die Regierung 10.815 neue Fälle, darunter 8477 ohne Symptome. Das war kaum ein Viertel des Tages­höchst­stands der Vorwoche von mehr als 40.000, stellt aber nur Personen dar, die nach der Aufnahme in Kran­ken­häuser oder für Jobs in Schulen und anderen Orten mit höherem Risiko getestet werden.

Da nicht mehr getestet und wohl auch kaum noch gemeldet wird, spiegeln die offi­zi­ellen Fall­zahlen längst nicht mehr das tatsäch­liche Geschehen wider. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass Krank­mel­dungen in Unter­nehmen rasant steigen. „Ich kenne allein 25 positive Fälle oder Erkrankte in meinem Umfeld“, schil­derte eine Pekin­gerin der Nach­rich­ten­agentur dpa.

Möglicher Kollaps des Gesund­heits­sys­tems als Bedrohung für Xi Jinping

Es wird noch Monate dauern, bis sich China von Null-Covid erholt hat. Wenn dabei das chine­si­sche Gesund­heits­system kolla­bieren sollte, wäre dies ein innen­po­li­ti­sches Desaster und eine Bedrohung für Xi Jinping und seinen Macht­ap­parat. China verfügt laut der Natio­nalen Gesund­heits­kom­mis­sion über 138.000 Inten­siv­betten – weniger als eines auf 10.000 Einwohner. Experten glauben, dass die Regierung bei einem groß­flä­chigen Ausbruch erneut Beschrän­kungen einführen könnte. Die Regierung würde damit weiter an Glaub­wür­dig­keit verlieren.

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