28 Jahre nach dem Mauerfall: Wir Ostkinder
Nach dem Mauerfall streifte er mit seinen Kumpels durch Ostberlin. Damals verstand Christoph Becker vom Zentrum Liberale Moderne, was Freiheit ist. Heute fragt er sich, was seitdem schief gelaufen ist. Ostdeutsche fühlen sich als Bürger zweiter Klasse. Der Westen habe sie betrogen. Doch nicht der Westen ist das Problem; es ist der Osten. Hier paart sich Elitenskepsis mit Autoritätshörigkeit, individuelle Lebensentwürfe treffen auf Unverständnis, Spott und Feindseligkeit. Wie konnte die autoritäre Enge der DDR eine Gesellschaft derart verwüsten?
Als die Mauer fiel, war ich 13. Der Zusammenbruch der DDR fiel deshalb mit meinem Erwachsenwerden zusammen. Die aufwühlenden Zeiten mit ihren unerwarteten gesellschaftlichen Freiheiten potenzierten sich quasi durch die aufgeregte Nervosität der Pubertät. In jugendlicher Kraftmeierei meinten wir, nichts könne uns stoppen. Das Leben war aufregend und versprach unbegrenzte Möglichkeiten. Die Nachwendejahre erlebten wir als phantastischen Spielplatz. Der DDR-Staat war in sich zusammengefallen. Niemand schien ihn zu vermissen. Die neue Obrigkeit etablierte sich nur allmählich. Es gab Freiräume ohne Ende. Wir machten einfach, was wir wollten, ohne dass jemand etwas dagegen sagte. Viele Leute in meiner Ostberliner Insel zwischen Prenzlauer Berg und Mitte nutzten diese Freiräume, um Neues auszuprobieren. Der Mythos vom kreativen Berlin entstand.
Was ist in der DDR-Gesellschaft schief gelaufen, dass auch 28 Jahre nach Ende der Teilung die Entfremdung von der westlichen Demokratie so stark ist?
Dass gleichzeitig in den Randbezirken der Stadt Skinheads und Hooligans die Anarchie der Nachwendezeit nutzten, um ihre Hoheit über die Straße zu behaupten, war nicht zu übersehen. Wir vermieden es, nach Einbruch der Dunkelheit außerhalb von Berlin-Mitte mit der S‑Bahn zu fahren oder taten dies nur in größeren Gruppen. Es gab berüchtigte Ecken. Horrorgeschichten machten die Runde, wie linke „Zecken“ aus der fahrenden S‑Bahn geworfen wurden. Damals konnte man die Tür noch während der Fahrt öffnen und es gab unmissverständliche Dresscodes. Lange Haare zum Beispiel waren ein Risikofaktor.
Wehmut über verlorene Freiräume
Wenn ich auf die mittlerweile 28 Nachwendejahre zurückschaue, trauere ich nicht der DDR hinterher, sondern den 90er Jahren. Ich empfinde leichte Wehmut über die verloren gegangenen Freiräume. Das hat sicher mit biografischen Veränderungen, dem Älterwerden, dem Kinderkriegen, der Erwerbstätigkeit zu tun – aber auch mit der Etablierung einer neuen Gesellschaft mit ihren gut funktionierenden und zugleich einengenden Institutionen.
Wenn meine Jahrgangsgefährtin Jana Hensel („Zonenkinder“, 2002) im Deutschlandfunk sagt, sie sehe in der öffentlichen Erinnerung an die Jahresgleiche aus Mauerbestehen und Nachmauerzeit den erneuten Versuch, das Anderssein der Ostdeutschen unter den Teppich zu kehren, fühle ich mich zunehmend unwohl. Natürlich habe auch ich die Verängstigung, Enttäuschung und Verbitterung unsere Eltern erlebt. Sie sahen ihre Biografien entwertet, sich ungerecht behandelt und durch den Westen bevormundet. Die Arbeitslosigkeit war hoch, viele gingen mangels Alternativen in den Westen. Die Betriebe eines ganzen Landes fielen in sich zusammen. Wer das beklagt, sollte aber nicht verschweigen, dass sie nur im abgeschlossenen Habitat der sozialistischen Planökonomie existenzfähig waren.
Ganze Heerscharen westdeutscher Beamter, die wir für zweite Wahl hielten, wurden den Einheimischen vor die Nase gesetzt. Ihre Versetzung in den Osten ließen sie sich mit einer „Dschungelzulage“ versüßen. Zugleich war diese Zufuhr von Verwaltungsleuten, die mit dem neuen System vertraut waren, ein Vorteil gegenüber den anderen Transformationsgesellschaften in Osteuropa. Den Ostdeutschen traute man Führungspositionen häufig nicht zu. Und natürlich waren alle, die in der DDR in hohen Staatspositionen gedient hatten, kompromittiert. Die Bildungsabschlüsse der Ostdeutschen wurden in Frage gestellt und gestandene Leute mit Berufserfahrung wieder auf die Schulbank gesetzt. Nicht zuletzt müssen Ostdeutsche bis heute mit weniger Rente auskommen, auch wenn sie nicht weniger gearbeitet hatten. Volkswirtschaftlich mag das nicht anders möglich sein. Aber individuell wird es wie eine nachträgliche Bestrafung empfunden für ein marodes System, in das die meisten ja selbst schon hineingeboren wurden. Dass die neuen Renten viel höher sind als die karge Altersversorgung, die Normalbürger in der DDR erwartete, fällt gern unter den Tisch. Man vergleicht sich nicht mit früher, sondern mit den „Westlern“.
Der Osten war weniger schrill und bunt; das Leben weniger kommerzialisiert, obwohl es sehr wohl auch in der DDR um Konsum ging – die Fluchtwelle 1989 und die Wiedervereinigungsrufe folgten eher der Verlockung des Wohlstands als der Freiheit. In den Augen vieler Ostdeutscher erscheint der Alltag in der DDR als weniger ichbezogen und egoistisch. Wer allerdings im DDR-Regime Karriere machte, war entweder ein bemitleidenswerter Ideologe, der die Zeichen der Zeit nicht verstanden hatte. Oder er musste sich innerlich verbiegen und einen Teil seiner Selbstachtung aufgeben. Der Dissens gegen „die da oben“ zog sich mit wenigen Ausnahmen ins Private zurück. Mit Ellenbogen kam man jedenfalls nicht weit – mit andienen schon eher. Die Stillen im Lande waren oft die Gradlinigeren.
Selbst nach 1990 Geborene sehen sich als Ostdeutsche
Trotz allem Verständnis für die individuellen Tragödien der Nachwendezeit ist mir die Haltung, der Westen habe uns betrogen und als Bürger zweiter Klasse abgewertet, unangenehm. Aber auch wenn sie mir nicht zusagen, sind Stimmen wie Jana Hensel relevant. Sie spiegeln eine reale Stimmung in einem ganzen Landesteil. Noch immer empfindet ein Teil der Bevölkerung eine Distanz zu den Westdeutschen. Selbst nach 1990 Geborene sehen sich als Ostdeutsche, auch wenn eine neue Studie besagt, dass im Hinblick auf die Häufigkeit narzisstischer Störungen bei Nachwendekindern kein Unterschied zwischen Ost und West mehr festzustellen ist.
Ich frage mich zunehmend: Was ist in der DDR-Gesellschaft schief gelaufen, dass auch 28 Jahre nach Ende der Teilung die Entfremdung von der westlichen Demokratie so stark ist? Warum haben im Osten so viele das Gefühl von Fremdbestimmung und den Eindruck, das eigene Schicksal nicht in der Hand zu haben? Warum ist hier das Schimpfen auf die demokratischen Institutionen so laut? Warum ist es besonders laut, wenn man in der Gruppe ist? Warum gibt es so viel Fremdenhass, wo es kaum Fremde gibt? Warum waren es ausgerechnet viele Kinder von SED-Kadern, die zu Nazis wurden? Warum findet hier Pegida besondere Resonanz? Warum kann sich in Vorpommern die NPD seit über 20 Jahren mit gut 20 Prozent in den Gemeinderäten halten? Warum kann die AfD in Sachsen Direktmandate für den Bundestag gewinnen und bei den Landtagswahlen 2019 auf einen Wahlsieg als stärkste Kraft hoffen? Und nicht zuletzt: warum ist Ostdeutschland anders als das ehemals kommunistische Polen, Russland, Belarus usw. bis heute eine weitgehend areligiöse Zone geblieben?
Die Vision eines besseren Deutschlands
Natürlich sind die ostdeutschen Dissidenten bis heute moralische Institutionen. Natürlich waren die Leipziger Montagsdemonstrationen couragiert und ermutigend. Als am 4. November 1989 eine Million Menschen ihre Angst vor Honecker und Mielke abgeworfen hatte und zum Alexanderplatz flanierte; als auf der Tribüne die intellektuelle Elite die Vision eines besseren Deutschlands ausbreitete – da fühlten wir uns dem konsumistischen Westen überlegen. Als am 18. März 1990 die ersten freien Volkskammerwahlen stattfanden, wurde uns klar, dass wir nur eine verschwindende Minderheit waren. Ganze 2,9 Prozent für Bündnis 90 und 2 Prozent für die Grünen sprachen Bände davon, dass die ostdeutsche Gesellschaft ganz anders tickte, als wir erhofft hatten. Selbst die Altkommunisten waren uns mit 16 % für die PDS haushoch überlegen.
Die DDR hat eine gesellschaftliche Wüste hinterlassen. Das alte Bürgertum wurde eliminiert, ein neues entwickelt sich nur mühsam. Bürgerschaftliches Engagement ist unterentwickelt. Tiefes Misstrauen gegen „die da oben“ paart sich mit Autoritätshörigkeit. Individuelle Lebensentwürfe abseits der Norm treffen vielfach auf Unverständnis, Spott, Feindseligkeit oder Gewalt. Die Freiheiten der demokratischen Gesellschaft werden von weiten Teilen der Bevölkerung negiert und die heutige Situation völlig undifferenziert mit der Bevormundung des DDR-Regimes gleichgesetzt. Von einer offenen Gesellschaft können wir für Ostdeutschland kaum reden.
Wenn Jana Hensel 28 Jahre nach dem Mauerfall das Unbehagen der Ostdeutschen formuliert, sollte das uns Ostkinder nachdenklich stimmen, aber nicht mit Blick auf den Westen, sondern auf uns selbst.
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