Das Ende des Zweiten Weltkriegs aus polni­scher Perspektive

Wie sah das Kriegsende in den Augen einer Gesell­schaft aus, die unter Besatzung gelitten hatte, ihrer Grenzen beraubt war, mit zwei Regie­rungen und zwei Armeen? War es ein Tag der Befreiung, der Erleich­terung – oder eher der Unruhe und Unsicherheit? Dr. Tomasz Skonieczny über die Realität des Kriegs­endes aus polni­scher Sicht. Sein Text wurde zuerst in der Wochen­zeit­schrift Więź, veröffentlicht.

Am 8. Mai 1945, als in Berlin die bedin­gungslose Kapitu­lation des Dritten Reiches unter­zeichnet wurde und damit der Zweite Weltkrieg in Europa symbo­lisch sein Ende fand, war Polen in einer äußerst schwie­rigen und prekären Lage – sowohl politisch als auch aus der Sicht der einfachen Bürge­rinnen und Bürger.

Ende des Zweiten Weltkrieges und Anfang einer neuen Besatzung

Wie es die Autoren des „Testa­ments des kämpfenden Polen“, des letzten Aufrufs der polni­schen politi­schen Partei­en­ver­tretung – des Rates der natio­nalen Einheit – vom 1. Juli 1945 formulierten:
„Das Ende des Krieges mit Deutschland traf Polen in einer außer­or­dentlich schwie­rigen, ja sogar tragi­schen Lage. Während andere Nationen, insbe­sondere im Westen, nach der Besei­tigung der deutschen Besatzung ihre tatsäch­liche Freiheit wieder­erlangten und eigen­ständig mit dem Wieder­aufbau ihres Lebens beginnen konnten, geriet Polen infolge eines Krieges, in dem es die größten Opfer gebracht hatte, unter eine neue Besatzung – mit einer Regierung, die ihm von einem Nachbar­staat aufge­zwungen wurde – und ohne klare Aussicht auf Hilfe seiner westlichen Alliierten.“

Politisch hatte Polen eine Niederlage erlitten. Als das Land, das als erstes in Europa der deutschen Aggression die Stirn bieten musste, die den blutigsten Krieg der Mensch­heits­ge­schichte auslöste, konnte es sich im Mai 1945 keineswegs im Lager der Sieger wähnen. Jeden­falls nicht, nachdem der US-Präsident und der Premier­mi­nister des Verei­nigten König­reichs auf der Konferenz der Großen Drei in Jalta im Februar 1945 dem Druck des Allein­herr­schers der Sowjet­union nachge­geben und nicht etwa nur der Teilung des polni­schen Terri­to­riums, sondern auch der Einsetzung einer neuen polni­schen Regierung zugestimmt hatten (womit die Zustän­digkeit der Londoner Exilre­gierung für die Vertretung der Inter­essen der polni­schen Bevöl­kerung de facto in Frage gestellt wurde).

Ein Land ohne feste Grenzen

Am 8. Mai 1945 war Polen ein Land ohne feste Grenzen. In Jalta war vereinbart worden, dass Polen sein angestammtes Terri­torium im Osten verlieren und im Westen auf Kosten Deutsch­lands noch unbestimmte Gebiete erhalten würde. Zum Zeitpunkt der Beendigung der Kriegs­hand­lungen hatte jedoch noch niemand genau angegeben, um welche Gebiete es sich in der Tat handeln würde. Diese Entschei­dungen wurden erst später – und gänzlich ohne Betei­ligung der polni­schen Regierung – auf der Potsdamer Konferenz (Juli–August 1945) getroffen.

Polen besaß zu diesem Zeitpunkt zwei Regie­rungen. Einer­seits eine recht­mäßige, von der Mehrheit der Welt anerkannte Exilre­gierung mit Sitz in London. Anderer­seits eine im Juli 1944 durch Moskau einge­setzte Mario­net­ten­re­gierung, die im Januar 1945 den Namen Provi­so­rische Regierung annahm und sich das Recht anmaßte, die gesamte polnische Gesell­schaft zu vertreten, obwohl sie damals nur von der Sowjet­union anerkannt wurde.

Im Mai 1945 existieren zudem zwei Armeen, die sich gleicher­maßen als polnisch identi­fi­zierten. Die eine war in Westeuropa statio­niert und an die Weisungen der Exilre­gierung gebunden, die andere befand sich auf polni­schem Boden sowie in den Ostge­bieten des Dritten Reiches und unter­stand dem Kommando der Roten Armee.

Zum Zeitpunkt der Unter­zeichnung der bedin­gungs­losen Kapitu­lation des Dritten Reiches, nach mehr als fünf Jahren schreck­licher Kriegs­wirren sowie der deutschen und sowje­ti­schen Besat­zungs­herr­schaft, die mit außer­or­dent­licher Rücksichts­lo­sigkeit durch­ge­führt wurde und den Tod von fast sechs Millionen polni­schen Bürgern zur Folge hatte, war Polen ein komplett zerstörtes Land, bewohnt von einem gemar­terten Volk, das zutiefst trauma­tische Erfah­rungen gemacht hatte.

Wider­sprüch­liche Stimmung

Die Stimmung in der polni­schen Gesell­schaft war äußerst wider­sprüchlich. Aus Tagebuch­auf­zeich­nungen und Presse­infor­ma­tionen geht hervor, dass ein Teil der Gesell­schaft feierte und Tage frei von der Angst vor den deutschen Besatzern, vor Razzien, Bomben und dem Zwang, sich ständig verstecken zu müssen, auskostete. Die Menschen, insbe­sondere die Jüngeren unter ihnen, genossen das Leben wie nie zuvor. Diese verständ­liche Lage hatte aber auch eine Kehrseite, die deutlich verbrei­teter war. Neben überschwäng­licher Freude und Erleich­terung herrschten zugleich Angst und Beklemmung – wegen Hunger, Krank­heiten, Mangel, Banditen, Plünderern und allge­gen­wär­tiger Gewalt. Und schließlich war da noch die Angst vor den Sowjets und den mit ihnen zusam­men­ar­bei­tenden polni­schen Kommunisten.

Vieles hing von der jewei­ligen Situation ab und davon, wo man sich gerade befand. Das Kriegsende wurde von überle­benden KZ-Häftlingen oder unter­ge­tauchten Juden, für die das Ende der Besatzung und später das Kriegsende eine wirkliche Befreiung war, ganz anders erlebt als von denje­nigen, für die die Befreiung von der deutschen Besatzung und der Einmarsch der sowje­ti­schen Truppen Gefan­gen­schaft und politi­schen Terror bedeutete, der sich gegen alle tatsäch­lichen und poten­zi­ellen Gegner der kommu­nis­ti­schen Herrschaft richtete. Ebenso unter­schied sich die Wahrnehmung der Vertreibung der deutschen Wehrmacht durch die Rote Armee unter den Bewohnern Westpolens, die zuvor keinen Kontakt mit den Sowjets gehabt hatten, von der Sicht­weise der Bewohner Ostpolens, die bereits zwischen September 1939 und Juni 1941 eine sowje­tische Besatzung erlebt und erlitten hatten.

Für fast alle war die Zukunft ungewiss. Im Mai 1945 wusste niemand in Polen, wie die politische oder gar terri­to­riale Gestalt des Landes aussehen würde. In der ganzen Gesell­schaft waren alarmis­tische Töne vernehmbar, die davor warnten, dass Polen eine weitere Sowjet­re­publik werden würde, dass die Westge­biete kein sicheres Siedlungs­gebiet seien, weil es dort vor Verbre­chern nur so wimmele und niemand wisse, wo die künftige Grenze verlaufen würde, und zu guter Letzt stünde dem Land auch noch ein weiterer Krieg bevor – nur diesmal eben zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion.

Brutale Depor­ta­tionen und „Displaced Persons”

Es sollte nicht vergessen werden, dass die Bürge­rinnen und Bürger der Polni­schen Republik im Mai 1945 über vieler Herren Länder verstreut waren. Millionen polni­scher Frauen und Männer befanden sich auf dem Herrschafts­gebiet der Sowjet­union, in den Polen entris­senen Gebieten, und warteten in Ungewissheit auf eine Umsiedlung irgendwo nach Westen, an Orte, die sie ihre neue Heimat nennen würden. Mehr als 300.000 Menschen hielten sich tief im Inneren der Sowjet­union, unter anderem in Sibirien, auf, wohin sie im Zuge brutaler Depor­ta­tionen gelangt waren. Wie die nächsten Monate zeigen sollten, durften nicht alle von ihnen in ihre Heimat zurückkehren.

Bei Kriegsende waren fast zwei Millionen Polen auf deutschem Terri­torium. Die große Mehrheit von ihnen war als Zwangs­ar­beiter dorthin verfrachtet worden, wo sie beinahe schon Sklaven­arbeit leisten mussten. Unter ihnen befanden sich auch KZ-Häftlinge und Kriegs­ge­fangene. Und bis zu 200.000 polnische Kinder, die ihren Familien entrissen und ins Dritte Reich geschickt worden waren, um germa­ni­siert zu werden. Nun gerieten sie in die Obhut der Verwal­tungen der alliierten Besat­zungs­mächte in Deutschland, wurden in Lagern für „Displaced Persons“ unter­ge­bracht und warteten auf die Möglichkeit, nach Polen zurück­zu­kehren, freilich ohne zu wissen, was sie vor Ort erwartete und ob sie überhaupt noch einen Ort und Menschen hatten, an den und zu denen sie zurück­kehren konnten.

Schließlich waren da noch dieje­nigen im Westen Europas – jene 200.000 Soldaten der Polni­schen Streit­kräfte, die politi­schen Führungs­per­sön­lich­keiten, die die Exilre­gierung bildeten, und die Intel­lek­tu­ellen, die aus ihrem Heimatland geflohen waren. Einige von ihnen, die am besten Infor­mierten, dieje­nigen, die die Geheim­dienst­be­richte kannten, wussten bereits seit mehreren Wochen, dass sie nicht sicher in ihr Land zurück­kehren konnten. Viele derje­nigen, die tatsächlich nach Polen zurück­kehrten, mussten sich innerhalb weniger Monate schmerzlich davon überzeugen, dass die kommu­nis­ti­schen Behörden ihre Anwesenheit nicht dulden würden.

Trotz multipler Traumata: Polen hat durchgehalten

Als am 8. Mai 1945 in Berlin die bedin­gungslose Kapitu­lation der Truppen des Dritten Reiches unter­zeichnet wurde, befand sich Polen nicht im Kreise der Sieger, wurde margi­na­li­siert und langsam von den Sowjets unter­worfen. Die polnische Gesell­schaft war erschüttert, am Boden zerstört, gezeichnet von dem Trauma, das sie an die nächste Generation weiter­geben würde, hin und her gerissen zwischen Jubel und der Angst und Ungewissheit über die Zukunft. Dennoch sollten Polen und seine Bürge­rinnen und Bürger Bestand haben. Polen verschwand nicht – wie Litauen, Lettland und Estland – von der Landkarte. Die polnische Gesell­schaft hat die Hölle der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen und sowje­ti­schen Besatzung überstanden. Sie hat durchgehalten.

Der Artikel wurde zuerst auf der Webseite der Stiftung Kreisau veröffentlicht.

 

 

 

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