David gegen Goliath? Das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs zum Russland-Georgien Krieg im August 2008
Der 21. Januar 2021 ist ein historischer Tag in der jüngsten Geschichte Georgiens. Nach 13 Jahren hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) ein Urteil über die Klage Georgiens gegen die Russischen Föderation wegen des Russland-Georgien Krieges im August 2008 gefällt¹. Das kleine Georgien sieht sich größtenteils bestätigt: Die Regierung, die Zivilgesellschaft und ihre westlichen Unterstützer sind der Meinung, dass hier David (Georgien) Goliath (Russland) besiegt hat.
Russland wies die Entscheidung zurück und betonte, dass das Straßburger Gericht der Klage Georgiens in Teilen nicht gefolgt ist.
In seinem Antrag beschuldigte Georgien Moskau, seit dem 8. August 2008 militärische und menschenrechtswidrige Angriffe gegen Zivilisten und deren Eigentum durch russische Streitkräfte und von ihnen kontrollierte separatistische Kräfte in Südossetien und Abchasien – de jure georgische Gebiete – ausgeübt bzw. zugelassen zu haben.
Laut der georgischen Klage hat Russland acht Artikel der von Moskau ratifizierten Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt: Das Recht auf Leben (Art. 2); das Folterverbot (Art. 3); das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5); das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8); das Recht auf wirksame Beschwerde (Art. 13); sowie der Schutz von Eigentum und das Recht auf Bildung (Art. 1 und 2 des Zusatzprotokolls); und die innerstaatliche Freizügigkeit (Art. 2 des Protokolls Nr. 4).
Der EGMR hat Georgien in 6 von diesen 8 Punkten Recht gegeben. Damit ist das Urteil das erste Rechtsdokument, welches Russland für Tötungsdelikte, Vertreibung von Zivilisten und Verweigerung der Rückkehr in Südossetien und Abchasien verurteilt. Ferner werden die rechtswidrige und inhumane Inhaftierung und Behandlung georgischer Zivilisten sowie die Folterung georgischer Kriegsgefangener genannt. Auch wird die Unterlassung einer angemessenen und wirksamen Untersuchung der Verbrechen kritisiert.
Eine weitere wichtige Feststellung des Straßburger Gerichts ist, dass die Russische Föderation vom 12. August 2008 bis 10. Oktober 2008 (dem offiziellen Abzug der russischen Truppen) die „effektive Kontrolle“ über beide Gebieten ausgeübt hat und somit völkerrechtlich anerkannte Territorien eines anderen Staates rechtswidrig besetzt hat. Darüber hinaus argumentierten die Richter, dass die „starke russische Präsenz“ und die Abhängigkeit der südossetischen und abchasischen Behörden von der Russischen Föderation auch nach diesem Zeitraum darauf hindeuteten, dass eine „effektive Kontrolle“ (Russlands) über Südossetien und Abchasien bestand.²
Bisher war diese Tatsache auf politischer und diplomatischer Ebene unstrittig. Jetzt aber liegt eine erste umfassende rechtliche Bewertung des Sachverhalts vor. In dem Dokument erläutert das Gericht, dass die von Russland begangenen Menschenrechtsverletzungen gegenüber ethnischen Georgiern nicht Ausnahme, sondern Methode gewesen seien.
Entgegen der russischen Position, dass „Milizen“ für diese Verstöße verantwortlich waren, argumentierte das Gericht, dass diese Verbrechen zweifelsohne entweder unmittelbar von russischen Soldaten oder mit offizieller Duldung russischer Staatsorgane verübt wurden. Anders formuliert: die Feststellung der „effektiven Kontrolle“ Russlands in Abchasien und Südossetien hier ist eine rechtliche Bestätigung der russischen Besatzung zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit Georgiens 1991.
Darüber hinaus handelt es sich um ein wegweisendes Urteil, das eine entscheidende Bedeutung für die zu hunderten beim EGMR eingereichten Klagen georgischer BürgerInnen haben wird. Tausende Binnenflüchtlinge und Kriegsopfer in Georgien sind direkt von diesem Urteil betroffen und haben erst jetzt eine Möglichkeit, ihre Rechte geltend zu machen.
Denn das Urteil gilt als Präzedenzfall, der Auswirkungen auf weiteren zwischenstaatliche und individuellen Klagen in Zusammenhang mit der Menschenrechtskonvention während und nach des Krieges von 2008 haben wird.³ Aus den vergangenen Jahren gibt es ja Beispiele von Besatzung bzw. „effektiver Kontrolle“ und Menschenrechtsverletzungen seitens Russland in den anderen Ländern der Östlichen Partnerschaft – Ukraine und Moldau.
Dieses Urteil ist auch ein wirkungsvolles Rechtsmittel gegen Russlands Politik, die Anerkennung der besetzten georgischen Territorien weltweit zu propagieren. In der Vergangenheit sind eine Handvoll Länder Moskau bei der Anerkennung gefolgt, etwa Syrien, Nicaragua und Venezuela.
Auf der anderen Seite hat der EGMR keine eindeutige „effektive Kontrolle“ und Gerichtsbarkeit der Russischen Föderation während der aktiven Kriegsphase festgestellt. Dabei geht es um den Zeitraum zwischen dem 8. und dem 12. August – als ein erstes Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde, das am 8. September durch den 6 Punkten umfassenden Medvedev-Sarkozy Plan ergänzt wurde , der bis heute von russischer Seite nicht umgesetzt wird.
In dieser Frage argumentierte das Gericht, dass Moskaus Zuständigkeit im Sinne von Art. 1 der Menschenrechtkonvention nicht nachweisbar sei, weil während einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten keine Rede von einer „effektiven Kontrolle“ des umkämpften Gebiets sein könne.
Die 17 Richter umfassende Große Kammer stellte mit 11 gegen 6 Stimmen fest, dass hier nicht Artikel 1 der der Europäischen Menschenrechtskonvention, sondern die Normen des humanitären Völkerrechts und Kriegsvölkerrechts anwendbar wären. Daher hat der EGMR gezögert, einen Staat für seine in internationalen bewaffneten Konflikten extraterritorial begangenen Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Verantwortung zu ziehen.
Von der georgischen Seite gab es Erwartung und Hoffnung, dass diesmal EGMR auch über die Menschenrechtsverletzungen während der aktiven Kriegsphase verhandeln würde und durch eine breite Auslegung der Menschenrechtskonvention und Bewertung der umfassenden Beweislage einen Präzedenzfall schaffen würde. Nun hat Straßburg der Mut und vielleicht auch der Wille gefehlt, diesen Schritt zu gehen. Als Folge werden individuelle Klagen, die sich auf den Zeitraum vom 8. bis 12. August beziehen, kaum Erfolgschancen haben.
Russland stellte dagegen die Entscheidung als Erfolg für die eigene Sicht der Dinge dar. Das russische Justizministerium betonte in einer Stellungnahme, dass es der georgischen Seite nicht gelungen sei, die Anwendung der Europäische Menschenrechtskonvention während kriegerischer Auseinandersetzungen durchzusetzen, was, so das Ministerium, ein Bruch des Völkerrechts bedeutet hätte. Die Verantwortung für Verstöße nach dem 12. August wie das Ministerium mit dem Argument zurück, dass eine direkte Beteiligung russischer Militärangehöriger daran nicht nachgewiesen worden sei. Das Ministerium fügte hinzu, dass Moskau das Konzept der exterritorialen Zuständigkeit rundweg ablehnt.
In seiner abweichenden Meinung schreibt auch der einzige russische Richter Dmitri Dedow, dass die vorgebrachten Beweise gegen Russland nicht überzeugend seien und dass der politische Kontext der Klage „nicht fair“ ist.
Gleichermaßen interessant sind aber die abweichenden Meinungen drei weiterer EGMR-Richter – Krzysztof Wojtyczek (Polen), Lado Chanturia (Georgien), Ganna Yudkivska (Ukraine) – die der Mehrheitsposition ebenfalls nicht zustimmten: In ihrer Begründung schreiben die Richter, dass Ciceros lateinische Maxime „Silent enim leges inter arma (In Zeiten des Krieges schweigt das Recht) aus dem ersten Jahrhundert v. Christus nicht mehr zeitgemäß sei.
Richter Lado Chanturia – der vor seiner Berufung an das EGMR 2018 georgischer Botschafter in Deutschland war – nennt drei Gründe für seine abweichende Meinung: erstens, weil die von der Mehrheit hier vorgebrachten Argumente nicht überzeugend seien und nicht mit der jüngsten Rechtsprechung des Gerichtshofs übereinstimmen; zweitens, weil die Mehrheit eine fehlerhafte Methodik zur Prüfung der Frage der extraterritorialen Zuständigkeit während der aktiven Phase des militärischen Konflikts anwandte; und schließlich, weil durch die Mehrheitsentscheidung ein Vakuum im System der Europäischen Menschenrechtskonvention geschaffen worden sei.
Als Beweis, dass Russlands effektive Kontrolle schon vor Kriegsausbruch begonnen habe, zitiert Chanturia unter anderem Auszüge des von der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini erstellten Berichts über den Krieg von 2008 : „Erstens: Da die Mehrheit der in Südossetien lebenden Menschen die russische Staatsbürgerschaft angenommen hat, kann Russland die persönliche Gerichtsbarkeit über sie beanspruchen. Aus Sicht des russischen Verfassungsrechts ist die Rechtsstellung der in Südossetien lebenden russischen Staatsbürger grundsätzlich dieselbe wie die der in Russland lebenden russischen Staatsbürger. Zweitens – und das ist noch wichtiger – hatten russische Beamte bereits vor Ausbruch des bewaffneten Konflikts die faktische Kontrolle über die Institutionen Südossetiens, insbesondere über die Sicherheitsinstitutionen und Sicherheitskräfte.“
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Einflussnahme Russlands auf und die Kontrolle über den Entscheidungsprozess in Südossetien ein breites Spektrum von Angelegenheiten betraf. Die Einflussnahme war systematisch und wurde auf permanenter Basis ausgeübt. Daher war die De-facto-Regierung von Südossetien nicht von sich aus ‚effektiv‘, schreibt Chanturia. Wichtig sei in diesem Zusammenhang eine Aussage des russischen Präsidenten Wladimir Putin vom August 2012, wonach die Militäroperation gegen Georgien im August 2008 lange im Voraus geplant worden war: „Es ist kein Geheimnis, dass es schon lange vor dem Konflikt im August 2008 einen Plan gab ... Wir hatten die südossetische Miliz nach diesem Plan ausgebildet ... Er erwies sich als mehr als effektiv.“ Es ist offensichtlich, dass der angeklagte Staat auch während des Krieges im August 2008 die beiden abtrünnigen Regionen Georgiens weiterhin militärisch unterstützt hat, wenn auch in einer viel intensiveren Form, argumentiert Chanturia.
Bedenkt man aber, dass der EMGR kein Gericht ist, das für die Beilegung territorialer Konflikte zuständig ist und in solchen Fragen bisher eine zurückhaltende Position entwickelt hat, kann man das Urteil durchaus als bemerkenswert bezeichnen.
Die Folgen der Gerichtsentscheidung- Gerechte Entschädigung Art. 41 EMRK
Der EGMR hat die Frage der gerechten Entschädigung gemäß Art. 41 EMRK verschoben. Verfahrensrechtlich sollen beide Parteien erneut detaillierte ergänzende Beweise innerhalb eines Jahres einreichen. Betont werden muss, dass der EGMR in erster Linie über die Rechenschaft/Verantwortung der russischen Regierung bzw. ihren Grenzen und nicht deren Folgen verhandelt hat. Außerdem ist wichtig zu erwähnen, dass die georgische Seite in seiner Klage eine gerechte Entschädigung gefordert hat, die nicht allein auf materielle Kompensation beschränkt ist. Darunter fallen Pflicht auf Rückkehr und Rechenschaft der einzelnen Personen wegen der begangenen wiederholenden und andauernden Menschenrechtsverletzungen sowie materielle Kompensation. Der Wert dieses Urteils besteht aber in erster Linie darin, dass die Ära der Beschuldigung von Separatisten seitens Russlands und somit Appellieren auf die „interne Konflikte“ beendet ist. Laut Urteil trägt Russland als Besatzungsmacht allein die rechtliche Verantwortung.
Angesichts der bisherigen Praxis, wie Russland EGMR-Urteile vollstreckt, sollte sich niemand Illusionen machen, dass die georgischen Opfer in naher Zukunft Gerechtigkeit mit konkreten Folgen erlangen werden. Die georgische Regierung wird sich weiter mit dem Gerichtshof auseinandersetzen müssen, um einen umfassenden Anspruch auf gerechte Entschädigung geltend zu machen. Anschließend werden sowohl zwischenstaatliche als auch individuelle Urteile zur Vollstreckung dem Ministerkomitee des Europarates vorgelegt. In diesem Zusammenhang wird die Positionierung der georgischen Regierung und der Mitgliedstaaten des Europarates insbesondere der deutschen parlamentarischen Delegation eine wichtige Rolle spielen.
Die Bedeutung dieses Urteils als unverzichtbares Rechtsinstrument sollte zukünftig kontinuierlich thematisiert werden, auch um die Integrität der Europäischen Menschenrechtskonvention und des EGMR zu wahren.
Mitarbeit: Nikolaus von Twickel
Quellen
¹ http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001–207757
² http://hudoc.echr.coe.int/eng-press?i=003–6913071-9285190
³ Siehe auch Burjaliani: THE EUROPEAN COURT AND THE 2008 WAR: WHY GEORGIA SHOULD BE PLEASED, AND RUSSIA SORRY
⁴ Bundeskanzlerin; Frankfurter Allgemeine Zeitung
⁵ Siehe dazu die Resolution des Europäischen Parlaments: Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. Juni 2018 zu den besetzten Hoheitsgebieten Georgiens zehn Jahre nach der Invasion durch Russland (2018/2741(RSP))
⁶ Siehe auch: https://gyla.ge/en/post/ra-tqva-strasburgis-sasamartlom-2008-tslis-agvistos-omis-saqmeze#sthash.dQ32iOaC.dpbs
⁷ https://minjust.gov.ru/ru/events/48301/
⁸ https://hudoc.echr.coe.int/eng#_Toc61345645
⁹ Siehe das Urteil: Seite 185.
¹⁰ Seite das Urteil, Seite 224.
¹¹ Siehe Bericht, abrufbar: https://www.mpil.de/en/pub/publications/archive/independent_international_fact.cfm, Volume II, p. 133.
¹² Siehe das Urteil, Seite 236, Punkt 48.
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