Demokratie braucht Begegnungsräume im Alltag
Was Republiken auszeichnet, ist das beständige, lustvolle Reden aller mit allen. Doch in den Demokratien der Gegenwart fehlen Begegnungsräume im Alltag, in denen die Vielfalt moderner Gesellschaften erlebbar wird. Eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt! Die LibMod-Expertenkommission hat Vorschläge erarbeitet, wie wir das republikanische Erbe des Westens in Dörfern und Städten, in Vereinen und Schulen lebendig halten.
Wann sind Sie, liebe Leserin, lieber Leser, zum letzten Mal einem Lokführer begegnet? Oder einem Busfahrer, einer Schlachterin, einer Anwältin, einem Unternehmensberater oder einer Lehrerin? Wenn man sich diese Frage stellt, wird klar, dass man vor allem Menschen begegnet, die einem ähnlich sind. SoziologInnen nennen das „Homophilie“.
Homophilie ist ein Problem für die Demokratie. Wir setzen uns im Alltag nicht mit den Sichtweisen und Lebensrealitäten der anderen BürgerInnen auseinander, weil wir ihnen kaum begegnen. Eine rein mediale Vermittlung kann eine Begegnung face-to-face nicht ersetzen. Wenn Friseurgesellen nicht ab und zu mit Siemensmanagerinnen reden, verstehen wir einander nicht.
Was sind die Ursachen von Homophilie?
Erstens begegnen sich Menschen unterschiedlicher Schichten immer weniger. Eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin zeigt, dass zum Beispiel die Ballung von Menschen mit Transferleistungsbezug in bestimmten deutschen Städten zunimmt, vor allem im Osten. Arme und Reiche bleiben unter sich. Das führt dazu, dass Kinder unterschiedlicher Schichten seltener nebeneinander die Schulbank drücken. Gleiches gilt für Alt und Jung: Auch sie wohnen seltener in räumlicher Nähe zueinander.
Unterschiedlichkeit ist nicht mehr erfahrbar
Zweitens bricht in strukturschwachen und ländlichen Regionen die Infrastruktur weg. Die Dorfkneipe ist pleite, der Tante-Emma-Läden um die Ecke wird durch einen anonymen Supermarkt auf der grünen Wiese ersetzt, auch Hausarztpraxen, Friseure oder Jugendclubs verschwinden. Auch hier gehen Begegnungsräume verloren.
Die Austausch über verschiedene Weltsichten findet stattdessen über soziale Medien statt.
Die Flüchtigkeit der Begegnungen auf Facebook und Twitter lässt einen anders miteinander umgehen, als mit Nachbarn, Vereinskameradinnen oder Schulfreunden, die man wiedertrifft. Auch fehlen die Konfliktminimierungsmechanismen der face-to-face-Interaktion. Soziale Medien ersetzen nicht das Gespräch am Küchentisch, in der Schule, in der Kneipe oder im Fußballverein. Vielmehr bilden sich Echokammern oder Filterblasen, die die eigene Meinung bestärken und die eigene Weltsicht verabsolutieren.
Demokratie hat ein Begegnungsdefizit
Es gibt verschiedene Projekte, etwa der Initiative Offene Gesellschaft, den Bus der Begegnung und viele mehr, die Begegnungen organisieren. Sie schaffen außeralltägliche Ereignisse, die Unterschiedlichkeit erlebbar machen. Differenzen werden in face-to-face-Interaktion in aushandelbare Probleme übersetzt. Harald Welzer geht noch einen Schritt weiter und fordert in einer Utopie gar autofreie Innenstädte, um Begegnung zu ermöglichen. Doch diese Projekte ersetzen nicht die tatsächliche Durchmischung im Alltäglichen, die es so dringend braucht. Dazu drei Vorschläge, die Begegnungen wahrscheinlicher machen. Die ersten beiden hat die ExpertInnenkommission „Sicherheit im Wandel“ des Zentrums Liberale Moderne unterbreitet, darüber hinaus erscheint mir ein dritter Vorschlag relevant.
- Menschen unterschiedlicher Einkommensgruppen müssen nebeneinander wohnen. Stadtentwicklungspolitik muss Durchmischung fördern und Segregation verhindern. Politikvorschläge sind: eine Nutzung kommunalen Landes für durchmischtes Wohnen; die Förderung kommunaler Wohnungsbauunternehmen und von Genossenschaften; die Bekämpfung von Leerstand und die Förderung Bautätigkeiten in Gebieten, die von Zuzug betroffen sind. Wohnen darf nicht zur neuen sozialen Frage werden. Nur wenn unterschiedliche Menschen sich im Hausflur, auf dem Hof oder in der Straße begegnen, nehmen sie einander wahr. Dann werden auch Schulen wieder zu Begegnungsorten. Kinder wählen ihre Spielpartner nach Sympathie und nicht nach Elterneinkommen, und beim Elternabend oder im Förderverein kommen auch die Erwachsenen ins Gespräch. Soziodemographische Unterschiede werden zu Unterschieden zwischen Bekannten mit Gesichtern und Namen.
- Wo Infrastrukturen wegfallen, müssen Begegnungsorte geschaffen werden, vor allem in strukturschwachen und ländlichen Räumen. Dorfläden, Kneipen, Clubhäuser machen Begegnungen wahrscheinlicher. Bürger erhalten oder gründen solche Orte eher, wenn der Staat sie unterstützt. Er kann Gebäude zur Verfügung stellen, oder zum Beispiel bei der gemeinschaftlichen Restaurierung eines ländlichen Herrenhauses Fördermittel bereitstellen und bürokratische Hürden beiseiteschaffen. Die ExpertInnenkommission „Sicherheit im Wandel“ geht noch einen Schritt weiter: Schulen sollen zu Gemeindezentren ausgebaut werden. Der Schulraum wird dann nach dem Unterricht weiter genutzt, es können Bibliotheken eingerichtet, Theaterstücke eingeübt und Sportkurse veranstaltet werden.
- Einen weiteren Begegnungsraum bilden Vereine. Diese gründen auf ehrenamtlichem Engagement, aber sie brauchen auch gepflegte Sportplätze, Räume, Orte für Festlichkeiten, Bustickets, Büromaterialien und jede Menge Kompetenzen, von der Moderation einfacher Sitzungen über Projektmanagement bis hin zur Antragstellung für Fördermittel. Die Projektlogik der meisten Bereiche der Zivilgesellschaftsförderung treibt zuweilen absurde Spitzen, ehrenamtliches Engagement ist komplizierter geworden. Es braucht aber Vereine, zum Beispiel aus den Bereichen Sport oder Ortskunde, um sich lokal zu begegnen. Dafür braucht es eine stabile Grundfinanzierung, unbürokratische Hilfe zur Selbsthilfe und mittelfristig die Möglichkeit, ehrenamtliches Engagement besser mit dem Berufsleben zu vereinbaren. Das kann etwa durch die Anrechnung auf die Rente geschehen, durch staatlich geförderte Sabbaticals oder Engagementurlaub oder durch eine bessere Förderung von Freiwilligendiensten.
Demokratie braucht Begegnungsräume im Alltäglichen, in denen Menschen aufeinandertreffen, die nicht von allein zusammenfinden würden. Zur Entstehung solcher Räume beitragen könnte zum Beispiel eine auf Durchmischung ausgerichtete Stadtentwicklungspolitik, die Förderung von Begegnungsinfrastrukturen in ländlichen und strukturschwachen Regionen, sowie die Förderung von Vereinen und Engagement. So wird Gesellschaft in ihrem Facettenreichtum erlebbar, Menschen setzen sich mit anderen Lebensumständen und Ansichten auseinander. Das stärkt den Zusammenhalt, und es stärkt die Demokratie, weil man nebenbei erlernt, die Unterschiedlichkeit liberaler Gesellschaften wertzuschätzen.
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