Der Kitt ist nicht mehr vorhanden

Die israe­lische Gesell­schaft wird nicht mehr zur Ruhe kommen. Selbst wenn die geplante Justiz­reform gestoppt würde.

Die israe­li­schen Medien nennen es „Salami-Taktik“. Nachdem die  israe­lische Regierung unter Premier Netanyahu gleich nach ihrem Amtsan­tritt im Januar ihre große Justiz­reform angekündigt hatte und diese bis Ende März mit aller Gewalt durch­ziehen wollte, brach ein Sturm der Entrüstung und des Wider­stands in der israe­li­schen Gesell­schaft aus, der Premier Netanyahu zwang, die Reform auf Eis zu legen – dachte man zumindest für kurze Zeit.

Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Regierung versucht nun, eben: scheib­chen­weise, wie beim Aufschneiden einer Salami, ihre Reform durch­zu­drücken, die die Kontroll­funktion des Obersten Gerichts über die Politik aushebeln soll, so dass damit die Gewal­ten­teilung, wie sie in einer Demokratie normal ist, aufge­hoben wäre.

Freibrief für willfährige Lakaien

In den letzten Tagen und Wochen waren Netanyahu und seine rechten und extremen Koali­ti­ons­partner also damit beschäftigt, ein Teilgesetz der Reform auf den Weg zu bringen. Das „Angemes­sen­heits­gesetz“ sollte massiv einge­schränkt werden. Wenn das gelingen würde, könnte das Oberste Gericht Verwal­tungs­ent­schei­dungen der Regierung, die nicht „angemessen“ sind, nicht mehr verhindern. Dann könnten in viele politi­schen und verwal­tungs­tech­ni­schen Positionen Menschen berufen werden, die korrupt sind, die willfährige Lakaien sind, ja, sogar keinerlei fachliche Quali­fi­kation haben. Es könnten Entschei­dungen gefällt werden, die die Bürger gefährden, eine kommis­sa­rische Regierung könnte vor Neuwahlen sogar entscheiden, die Wahlen immer und immer wieder zu verschieben. Und: die Regierung könnte dann die von ihr zutiefst gehasste General­staats­an­wältin feuern, die mit aller Konse­quenz derzeit für die Wahrung der Demokratie kämpft. Kurz: der Willkür wären Tür und Tor geöffnet.

Wieder gingen die Menschen wie auch in den vergan­genen Wochen auf die Straße, vor allem am „Tag der Störung“, am 11. Juli, einen Tag, nachdem die Knesset das Gesetz in der ersten von drei Lesungen angenommen hat. Ende Juli geht das israe­lische Parlament in seine Sommer­pause, bis dahin wollen vor allem die Hardliner der Regierung das Gesetz endgültig verab­schiedet haben. Die Gegner wollen das unbedingt verhindern. Nur – wird das gelingen?

Die Gesell­schaft ist ein Trümmerhaufen

Die nun seit über einem halben Jahr andau­ernde innen­po­li­tische Krise Israels hat Formen angenommen, die kaum noch wieder­gut­zu­machen sind. Selbst wenn Premier Netanyahu erneut im letzten Moment die Notbremse ziehen würde, selbst wenn die Regierung verkünden würde, ihre Justiz­reform komplett aufzu­geben und ad acta zu legen, der Riss, der durch die Gesell­schaft geht, der Hass, die Wut beider politi­scher Seiten aufein­ander ist tiefer und größer denn je. Der Kitt, der die extrem heterogene Gesell­schaft seit Jahrzehnten zusam­men­ge­halten hat, ist nicht mehr vorhanden. Die ewigen Konflikte zwischen Frommen und Säkularen, zwischen Misrachim und Aschke­nasim (orien­ta­lische und europä­isch­stämmige Juden), zwischen links und rechts und nicht zu vergessen zwischen Juden und Arabern, haben diesen Moment herbei­führen lassen. Die israe­lische Gesell­schaft als Ganzes ist ein Trümmer­haufen. Ja, es gibt eine Protest­be­wegung, die inzwi­schen seit 28 Wochen auf die Straße geht, die unermüdlich für ein liberales und demokra­ti­sches Israel kämpft und das völlig gewaltfrei. Der Polizeichef Israels, Kobi Shabtai, erklärte erst vor wenigen Tagen in einer Kabinett­sitzung, dass bislang kein einziger Polizist bei den Demos im ganzen Land verletzt wurde. Dagegen greift nun die Polizei immer mehr zur Gewalt gegen die fried­lichen Demons­tranten. Das konnte man am „Tage der Störung“ sehen, als das ganze Land bestreikt, als wichtige Verkehrs­adern im ganzen Land lahm gelegt wurden. Wasser­ka­nonen, berittene Polizei, die in die Menschen­menge preschte, brutale Zugriffe – das waren Bilder, die man erwarten musste, nachdem der für die Polizei verant­wort­liche Nationale Sicher­heits­mi­nister, der rechts­extreme Itamar Ben Gvir, dies immer und immer wieder gefordert hatte – gegen den Willen vieler Führungs­fi­guren der Polizei, die jedoch allmählich zurück­stecken oder, wie der Tel Aviver Polizeichef Ami Eshed, aus Protest gegen Ben Gvir zurücktreten.

Ein Erfolg der Proteste wäre keine Garantie für die Stabi­li­sierung der Demokratie

Ja, es gibt kein Land, das die Gefahr eines autori­tären Regimes so ausdauernd, so friedlich, so überzeugt und so solida­risch bekämpft wie Israel. Man sah eine derartig ausdau­ernde Protest­be­wegung nicht in Ungarn, nicht in Polen, nicht in den USA oder anderen europäi­schen Ländern, die ebenfalls drauf und dran sind, illiberal zu werden oder es bereits sind.

Abgesehen davon, dass noch gar nicht klar ist, ob die Protest­be­wegung Erfolg haben wird, ob es gelingt, Netanyahu und seine Minister von ihren Plänen abzubringen, abgesehen davon, dass sich erst noch zeigen muss, inwiefern die Drohung vieler Reser­visten, im Falle einer „Diktatur“, wie sie es nennen, nicht mehr zum Militär­dienst erscheinen zu wollen, erneut ernst genommen wird, so ist dennoch schon klar, dass selbst ein Erfolg der liberalen Israelis keinen gesell­schaft­lichen Frieden, und vor allem: keine Garantie für die Dauer­haf­tigkeit der Demokratie garan­tieren würde. Der Hass zwischen beiden Seiten würde weiter schwelen und bei nächster Gelegenheit wieder ausbrechen. Die Regierung Netanyahu würde mögli­cher­weise ausein­an­der­fallen. Das würde zwar nach aktuellen Umfragen die Opposi­ti­ons­par­teien wieder an die Macht bringen, aber könnten sie den Umschwung bringen? Könnten sie die Demokratie festigen?

Um das labile demokra­tische System Israels krisen­sicher zu machen, bräuchte es, so oder so, einen breiten politi­schen Konsens. Der ist aber nicht zu erwarten. Die Reformen, die die gesamte politische Struktur im jüdischen Staat bräuchte, wären so tiefgreifend, dass wiederum die Rechte in diesem Fall auf die Barri­kaden gehen würde, um diese zu verhindern. Ganz zu schweigen, dass es keine Zwei-Drittel-Mehrheit geben würde, um Israel endlich eine Verfassung zu geben. Diese aber wäre ein entschei­dender Faktor, um Israel als liberale Demokratie zu stabi­li­sieren. Vor allem die religiösen Parteien würden sich dagegen wehren. Die ultra­or­tho­doxen Parteien bestehen darauf, dass das Religi­ons­gesetz die eigent­liche Verfassung des jüdischen Volkes sei, andere religiösen Parteien würden aber eine liberale Verfassung ebenso ablehnen, da ihr Weltbild ein „weltliches“ Israel nicht akzeptiert.

Verfassung oder Messias?

Die Ausein­an­der­setzung in Israel ist nicht nur eine zwischen liberalen und rechts­po­pu­lis­ti­schen, illibe­ralen Kräften, wie man dies inzwi­schen in vielen westlichen Staaten beobachten kann. Es geht um die Frage, die der große Religi­ons­phi­losoph Yeshayahu Leibowitz einmal in einer wunder­baren Formel zusam­men­ge­fasst hat. Auf die Frage, ob Israel ein jüdischer Staat sei wie einst die jüdischen Reiche in bibli­schen Zeiten, antwortete Leibowitz: Israel ist nicht der jüdische Staat, sondern der Staat der Juden. Mit anderen Worten, Israel ist ein ganz normaler Staat, in dem die Mehrheit jüdisch ist. Aber er ist nicht der halachische Staat, nicht der Staat oder besser: das Reich, das entstehen soll, wenn der Messias irgendwann mal kommen wird, um dann das Zeitalter der Erlösung einzuläuten.

Doch vor allem die messia­ni­schen Siedler, zu denen Ben Gvir und Smotrich mindestens in Teilen ihrer Ideologie gehören, wollen genau das: die Ankunft des Messias beschleu­nigen. Da ist das westliche Leben à la Tel Aviv verpönt, verhasst, ein Hindernis.

Der Kampf um die Justiz­reform hat viele Facetten. Es ist auch ein Kultur­kampf. Welches Judentum will man eigentlich, ein parti­ku­lares oder ein univer­sa­lis­ti­sches? Ein sich abgren­zendes oder ein offenes Judentum? Dieser Kampf wird weiter­gehen, selbst wenn die Justiz­reform gestoppt werden sollte. Und Israel dürfte kaum noch zur Ruhe kommen. Es sei denn, es droht eine ernste Gefahr von außen. Das wäre derzeit der einstige Kitt, der die zerrissene Gesell­schaft für kurz Zeit vereinen könnte.

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