Der Ukraine geht die Energie aus
Das ukrainische Energiesystem steht auf der Kippe, das Land kurz vor einem langfristigen Blackout. Für die Netzbetreiber wird es zunehmend schwieriger, das Netz auszubalancieren. Ohne Luftabwehr und Munition kann das Land seine Energieinfrastruktur nicht schützen. Lukas Daubner war vor Ort.
Der Ukraine geht die Energie aus. Und damit ist nicht der Widerstandsgeist gegen Russlands Angriffskrieg gemeint. Der Wille, sich dem russischen Aggressor nicht zu unterwerfen, ist ungebrochen stark. Das zeigen Umfragen, aber auch Gespräche mit ukrainischen Offiziellen und normalen Bürgerinnen und Bürgern.
Der Ukraine geht die Energie aus, weil Russlands gezielte Angriffe in den vergangenen Wochen große Teile der Wärme- und Stromkapazitäten zerstört haben. Die Lage ist mittlerweile noch dramatischer als im Herbst 2022.
Was das konkret und für die Menschen vor Ort bedeutet, wurde uns bei unserer Reise in die Ukraine eindrücklich vor Augen geführt. Vom 20. bis 25. April hat LibMod für Journalistinnen und Journalisten eine Reise in die Ukraine organisiert. Wir haben mit ukrainischen Experten über Energiesicherheit, aber auch über Kooperationen und den Wiederaufbau gesprochen.
Der größte private Energieversorger hat mehr als 80 Prozent seiner Kapazitäten verloren
Ukrahydroenergo, der staatliche Betreiber von Wasserkraftwerken, hat beispielsweise mehr als die Hälfte der für die Grundlast wichtige Wasserkraftkapazität verloren. Die Sprengung des Kachowka-Staudamms ist dabei nur das bekannteste Beispiel. Die Zerstörung des Damms hat nicht nur Probleme für die Energie- und Trinkwasserversorgung verursacht, sondern auch katastrophale ökologische Schäden.
Vor wenigen Wochen hat Russland das Kraftwerk Trypillja zerstört. Dieses hat große Teile von Kyjiw und die umliegenden Gemeinden mit Energie versorgt. Der größte private Energieversorger des Landes DTEK verfügt mittlerweile über nur mehr knapp 20 Prozent seiner ursprünglichen Kapazitäten. Die Liste ließe sich lange fortsetzen.
Die Ukraine hat allein in den vergangenen Wochen acht Gigawatt an Leistung verloren – fast die Hälfte der ihr noch verbleibenden Kapazität. Die Angriffe auf Kraftwerke, Umspannwerke und Leitungen zielen auf den Kollaps des Energiesektors ab, der – wie man sich leicht vorstellen kann – dramatische Folgen für die Bevölkerung und die Wirtschaft hätte.
Flächendeckende Stromausfälle erwartet
Einige der in den vergangenen Wochen getroffenen Kraftwerke und Energieinfrastrukturen wurden erst im Laufe des vergangenen Jahres wieder in Stand gesetzt. Sie sind jetzt zum zweiten Mal zerstört worden.
Die Reparatur der entstandenen Schäden wird in den meisten Fällen viel Zeit in Anspruch nehmen. Auch die wenigen einsatzbereiten Gasturbinen und der beschleunigte Ausbau erneuerbarer Energie können die fehlenden Kapazitäten nicht ausgleichen – insbesondere nicht morgens und abends, wenn der Energieverbrauch besonders hoch ist.
Im Winter könnte sich die Situation dramatisch zuspitzen, denn noch ist vollkommen unklar, wie die Wärme- und Energieversorgung wieder hergestellt werden kann. Das gilt insbesondere für die Regionen und Städte im Osten der Ukraine.
Angriffe auf das Energiesystem sind auch Angriffe auf die Gesundheitsversorgung
Jeder Angriff auf die Energieinfrastruktur ist zudem immer auch ein Angriff auf das Gesundheitssystem. Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen verfügen zwar in der Regel über Generatoren, ohne gesicherte Energieversorgung können sie jedoch nur im Notfallbetrieb arbeiten. Hinzu kommt: Russland hat 1382 gezielte Angriffe auf Krankenhäuser und das Gesundheitspersonal durchgeführt, wie die NGO Physicans for Human Rights dokumentiert hat.
Luftverteidigung: zu wenig, zu spät
Das Kohlekraftwerk Trypillja in Kyjiw wurde am 11. April vollständig zerstört. Die Raketen wurden aus der Luft, vom Land und vom Meer aus auf die Ziele abgefeuert. Sieben der elf Raketen, mit denen das Kraftwerk angegriffen wurde, konnten erfolgreich abgefangen werden. Die vier übrigen Raketen erreichten ungestört ihr Ziel – die Luftabwehr hatte keine Munition mehr.
Die fehlende Luftabwehr und der Mangel an Munition sind der Grund, warum die russische Armee das ukrainische Energiesystem so erfolgreich treffen kann. Das Muster der Angriffe der vergangenen Monate war im ganzen Land dasselbe: Zunächst wurde die Luftabwehr mit Drohnen und langsamen, älteren Raketen sowjetischer Bauart ermüdet, die in einer dritten Welle eingesetzten ballistischen Raketen konnten ihre Ziele anschließend ungehindert zerstören.
Schutz der verbliebenden Kraftwerke
Die Betreiber von Umspannwerken und Kraftwerken versuchen jetzt unter Hochdruck die bestehenden Infrastrukturen vor weiteren Angriffen zu schützen. Dafür werden Anlagen unter Stahlbetonhauben versteckt oder gleich unter die Erde verlegt. Dieser zusätzliche Aufwand verursacht enorme Kosten – er zeugt aber auch vom Willen, sich der russischen Aggression nicht zu beugen.
Dafür braucht die Ukraine schnelle und umfangreiche Hilfe. Immer wieder kann Russland empfindliche Ziele des Energiesektors treffen – und die Angriffe werden nicht aufhören.
Die Ukraine steht kurz vor einem langfristigen Blackout
Das ukrainische Energiesystem steht auf der Kippe, das Land kurz vor einem langfristigen Blackout. Es sei denn, die von NATO-Mitgliedern in den letzten Tagen und Wochen angekündigten Luftabwehrsysteme und Munition kommen auch tatsächlich – und rasch genug.
Es ist schwer nachvollziehbar, warum diese Systeme erst jetzt versprochen wurden. Es wäre möglich gewesen, die Energieinfrastruktur in den letzten Monaten ausreichend zu schützen. Der Ukraine wäre viel Leid erspart geblieben.
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