Die deutsche Sicher­heits­kultur lässt mich schlaflos

Deutschland erschreckt so sehr wie es erfreut: Ein briti­scher Deutschland-Liebhaber über das Unbehagen an der deutschen Außen- und Sicher­heits­po­litik und seine Zweifel an der prokla­mierten „Zeiten­wende“.

Denk ich an Deutschland in der Nacht
Dann bin ich um den Schlaf gebracht.
Ich kann nicht mehr die Augen schließen
Und meine heißen Tränen fließen.

Heinrich Heine sehnte sich in seinem 1844 entstan­denen Gedicht „Nacht­ge­danken“ nach Einheit und Moder­nität seiner zersplit­terten, feudal geprägten Heimat. Allein der Gedanke an Deutschland, schreibt er in einem der bekann­testen Gedichte des Landes, verdammt ihn zu tränen­reichem Erwachen.

Mir geht es genauso.

Als Student und später als Auslands­kor­re­spondent verbrachte ich meine prägenden Jahre in Westdeutschland. Zum ersten Mal lebte, liebte und träumte ich in einer fremden Sprache. Es war die Front­linie des Kalten Krieges: Ich erinnere mich noch daran, wie sich die Gerüche von Tabak, Parfüm und Essen verän­derten, wenn man die inner­deutsche Grenze überquerte. Die Teilung Deutsch­lands verdeut­lichte den Einfluss des Sowjet­im­pe­riums auf Europa in der Nachkriegszeit; die Wieder­ver­ei­nigung stand für sein Ende.

Doch Deutschland erschreckt ebenso sehr wie es erfreut. Ich war irritiert von der „Gorbi­mania“ – der Vernarrtheit der Westdeut­schen in den letzten sowje­ti­schen Führer Michail Gorbat­schow. Was dann folgte, hat mich empört. Das wieder­ver­ei­nigte Deutschland schwärmte für Russland und ignorierte weitgehend die Länder, die dazwi­schen lagen. Anstatt der Sicherheit und dem Wohlergehen von Ländern wie Estland, Lettland, Litauen, Polen und Rumänien, die 1939 durch den Hitler-Stalin-Pakt in den Fleischwolf geworfen wurden, Priorität einzu­räumen, verfolgten deutsche Politiker aller Couleur eine eigen­nützige, schein­heilige und unver­ant­wort­liche Politik. Deutschland zögerte mit der Aufnahme der neuen östlichen Demokratien in die Europäische Union und insbe­sondere in die NATO. In der Zwischenzeit verfolgte es bilaterale (und äußerst lukrative) Geschäfte mit Russland, insbe­sondere die beiden Nord Stream-Erdgas­pipe­lines durch die Ostsee.

Ignoranz und Eigennutz
Versuche, dem etwas entge­gen­zu­setzen, liefen ins Leere, wie ich am eigenen Leib erfahren habe. Immer wieder habe ich versucht, meine deutschen Gesprächs­partner auf die Gefahr aufmerksam zu machen, die vom wieder­auf­le­benden russi­schen Imperia­lismus ausgeht. Bis auf wenige Ausnahmen lachten sie mich aus. Ich erinnere mich noch an die höhnische, herab­las­sende Antwort, die ich um 2010 im Bundes­kanz­leramt erhielt, als ich versuchte, meine Gesprächs­partner vor der Gefahr der russi­schen Taktik der „hybriden Kriegs­führung“ zu warnen – dem Cocktail aus Desin­for­mation, wirtschaft­licher Erpressung , Subversion und Spionage, den Russland gegen seine Nachbarn einsetzt. „Sie wollen doch nicht ernsthaft behaupten, dass Russland solche Opera­tionen gegen die Bundes­re­publik Deutschland durch­führen würde?“, fragten meine Gastgeber ungläubig.

„Ja, natürlich“, antwortete ich (ich paraphra­siere meine Antwort aus der Erinnerung). Die selbst­ge­fällige deutsche Haltung erlaubte es russi­schen Spionen, Gaunern und Gewalt­tätern, sich auszu­toben, Geheim­nisse zu stehlen, Kritiker zu ermorden und Bastionen des Einflusses aufzu­bauen. Die Nachricht, dass ein Offizier des Auslands­ge­heim­dienstes BND wegen Spionage für Russland verhaftet worden ist, wird kaum überra­schen. „Wenn Sie wollen, dass der Kreml etwas ernst nimmt, geben Sie es den Deutschen und sagen Sie ihnen, es sei ein Geheimnis“, sagte mir in den 1980er Jahren ein verär­gerter Geheim­dienst­of­fizier aus einem NATO-Land. Wenn überhaupt, dann hat sich die russische Durch­dringung der deutschen Sicher­heits- und Nachrich­ten­dienste seither verschlimmert.

Blinde Flecken deutscher Geschichtspolitik
Die histo­ri­schen, geogra­fi­schen und geopo­li­ti­schen blinden Flecken sind mitein­ander verbunden. Die Deutschen, die sich wegen des aggres­siven Natio­na­lismus des Nazire­gimes gern anti-natio­na­lis­tisch gebärden, schreckten vor der Rolle zurück, die patrio­tische Gefühle bei den europäi­schen Aufständen von 1989 und den Folge­jahren spielten, die den Kommu­nismus zu Fall brachten. Die Osteu­ropäer seien „natio­na­lis­tisch“, murrten viele Deutsche missbil­ligend (obwohl der russische Natio­na­lismus, der eine weitaus größere Sorge darstellt, ignoriert wurde).

Die Deutschen waren der Ansicht, dass das Ende des Kalten Krieges der Ostpo­litik der 1970er und 1980er Jahre zu verdanken sei, die auf Annäherung und Vertrau­ens­bildung mit dem sowje­ti­schen Block ausge­richtet war. Außerdem hatte die Sowjet­union der deutschen Verei­nigung zugestimmt: Dankbarkeit, nicht Skepsis, war die vorherr­schende Reaktion.

Die Militär­aus­gaben, die nie populär waren, kamen aus der Mode und halbierten sich auf nur noch 1,07 % des BIP im Jahr 2005.  In der modernen Welt sollten Probleme durch Dialog und nicht durch Konfron­tation gelöst werden, so die frommen Sprüche der deutschen Politiker. Der Weg zur Konflikt­ver­meidung führte über die Förderung von Handel und Inves­ti­tionen. Russland würde seine Kunden niemals angreifen. Wir sehen jetzt, wie das funktio­niert hat. Deutschland bemüht sich jetzt in aller Eile, sich von russi­schen Energie­lie­fe­rungen zu lösen, und ist zunehmend  (und zurecht) besorgt über seine ökono­mische Abhän­gigkeit von China.

Ein allge­gen­wär­tiges Klima des Antiame­ri­ka­nismus schürte die moralische Gleich­setzung Russlands mit den USA. Ja, das Putin-Regime hat seine Fehler – aber was ist mit den Verei­nigten Staaten, mit ihren schreck­lichen geschei­terten Kriegen im Irak und in Afgha­nistan, ihrem übermäch­tigen Sicher­heits­staat (die Deutschen betrachten den NSA-Überläufer Edward Snowden als Helden) und beunru­hi­genden bis absto­ßenden Figuren wie George W. Bush und Donald J. Trump?

Die Deutschen schwelgen in Schuld­ge­fühlen über die Verbrechen ihres Landes in der Nazi-Zeit, während sie selbst­ge­fällige Ignoranz gegenüber ihren neueren Unzuläng­lich­keiten an den Tag legen. Auf die (unbestreit­baren) Ähnlich­keiten zwischen Stalins Sowjet­union und Hitlers Drittem Reich hinzu­weisen, wurde als Versuch verur­teilt, den Holocaust zu relati­vieren. Der wütende Histo­ri­ker­streit der späten 1980er Jahre zu diesem Thema brachte histo­rio­gra­fische Fragen in den politi­schen Mainstream, wie es in einem anderen europäi­schen Land kaum vorstellbar war.

Halbherzige Zeiten­wende
Illusionen sterben nur mühsam. Kurz vor dem russi­schen Angriff auf die Ukraine im Februar zog die Regierung von Bundes­kanzler Olaf Scholz Spott auf sich, weil sie der angeschla­genen Regierung in Kiew 5.000 Helme als „militä­rische“ Hilfe anbot.

Tage später dämmerte die Realität. Scholz kündigte eine Zeiten­wende an, die ein Sonder­ver­mögen zur Stärkung der Vertei­digung seines Landes von 100 Milli­arden Euro vorsah. Die rheto­rische Unter­stützung für die Ukraine erstreckte sich über das gesamte politische Spektrum, nur die harte Linke und die radikale Rechte waren anderer Meinung. Die deutsche Zivil­ge­sell­schaft nahm bereit­willig Hundert­tau­sende von ukrai­ni­schen Flücht­lingen auf.

Doch Worte und Taten bleiben hinter dem Versprechen der „Zeiten­wende“ zurück. Schon jetzt nimmt Deutschland seine Zusagen zurück, die Vertei­di­gungs­aus­gaben auf 2 % zu erhöhen, was nun erst 2025 erreicht werden soll. Das verkrustete Beschaf­fungs­system sei einfach nicht in der Lage, mehr Geld effizient zu absor­bieren, erklären Beamte.

Schlimmer noch, Scholz sehnt sich öffentlich nach der „europäi­schen Friedens­ordnung“ der vergan­genen Jahre. Das deutet darauf hin, dass die Lehren aus diesem Jahr nicht richtig gezogen wurden. Die vergan­genen Jahrzehnte waren kein Sicher­heits­nirwana, sondern eine gefähr­liche strate­gische Auszeit, in der Europas wichtigste Volks­wirt­schaft die drohenden Gefahren aus Russland und China ignorierte. Das Vertrau­ens­de­fizit ist nach wie vor groß. Der lettische Vertei­di­gungs­mi­nister Artis Pabriks brachte die Sorgen der Verbün­deten auf den Punkt, als er auf einer Konferenz in Berlin sagte: „Wir sind bereit, für die Freiheit zu sterben. Sind Sie es auch?“

Die Deutschen mögen ihren Schlaf genießen. Aber es lässt andere schlaflos zurück.
Übersetzung aus dem Englischen.

Textende

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