Estland hat gewählt und hält Kurs
Die Esten und Estinnen haben überraschend eindeutig für die liberale Kaja Kallas und damit für ihre Ukraine- und Russlandpolitik gestimmt. Ihre wichtigste Aufgabe jetzt: Die Gesellschaft einen.
„Energie mag teurer werden, aber die Freiheit ist unbezahlbar.“ Dieses Zitat in der Rede des deutschen Bundespräsidenten vom 28. Oktober 2022 stammt von Kaja Kallas, der estnischen Ministerpräsidentin. Sie verfügt über die Gabe, eine Botschaft in nur einem Satz auszudrücken, kurz und verständlich. Auf die Verteidigungsbereitschaft Estlands angesprochen, sagte sie in einem Interview: „Wir haben keine Angst, aber wir bereiten uns vor.“ Zum Zusammenstehen Europas angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine erklärte sie: „Wir haben die Welt überrascht, aber wir haben auch uns selbst überrascht, weil wir schnell gehandelt haben.“ Als der französische Präsidenten Emmanuel Macron vorschlug, Russland entgegenzukommen, entgegnete sie: „Russland sollte nicht angeboten werden, was es der Ukraine abgenommen hat.“ Denn „Aggression darf sich nicht auszahlen“.
Kaja Kallas führt
Kaja Kallas führte nicht nur die bisherige estnische Regierung – sie führt auch in Europa, indem sie vorangeht, Haltung zeigt und Klartext spricht. Sie ist eine der Politikerinnen, die angesichts von Gefahr wachsen. Darin ist sie dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ähnlich, auch wenn er in einer ungleich schwierigeren Situation steht, im Krieg. Doch wie er musste auch Kallas in ihre Rolle erst hineinfinden.
Seit Januar 2021 Ministerpräsidentin, führte sie zunächst eine Koalition ihrer liberalen Reformpartei mit der Zentrumspartei, die vor allem von den russischsprachigen Esten unterstützt wird. Als diese Koalition an inhaltlichen Differenzen scheiterte, bildete die Reformpartei im Juli 2022 eine Regierung mit der konservativen Vaterlandspartei und den Sozialdemokraten.
Bei der Parlamentswahl vom 5. März 2023 stellte die 45jährige Kaja Kallas einen Rekord auf: sie erhielt 31.816 Stimmen, so viele wie noch nie ein Kandidat vor ihr. Ihre Partei belegte mit 31,2 % der Stimmen den ersten Platz. Das bedeutet, die Reformer haben von 101 Sitzen 37 errungen. In dieser Wahl haben die Esten Kallas’ Kurs bekräftigt, und so wird sie auch die neue Regierung bilden. Das ist erstaunlich angesichts einer Inflation von 18,6 %, welche die Esten infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine zu tragen haben. Ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts wendet Estland für die militärische Unterstützung der Ukraine auf, so viel wie kein anderes Land. „Wir bezahlen in Euro, die Ukrainer mit Leben.“ Auch so ein Satz von Kaja Kallas, den viele Esten verinnerlicht haben, weil sie ihn überzeugend finden. Die russische Aggression gegen die Ukraine war das Schlüsselthema der Wahl.
Neues Parlament mit einer starken liberalen Mitte
Sechs Parteien werden im neuen Riigikogu, wie das estnische Parlament heißt, vertreten sein:
Die Estnische Reformpartei von Kaja Kallas ist liberaldemokratisch ausgerichtet. Sie setzt sich für eine Unterstützung der Ukraine inklusive Militärhilfe und für Sanktionen gegen die Russische Föderation ein. Mögliche Koalitionspartner der Reformpartei, welche deren außenpolitischen Kurs klar mittragen, folgen in der Rangliste der Stimmen auf den Plätzen vier, fünf und sechs: Die ebenfalls liberale Partei Estland 200 ist erstmals im Parlament vertreten und erreichte 13,3 % (14 Sitze) – ein erstaunliches Ergebnis. Die beiden liberalen Parteien stellen zusammen also 51 Abgeordnete. Die Sozialdemokratische Partei zieht mit 9,3 % (neun Sitze) und die konservative Vaterlandspartei mit 8,2 % (acht Sitze) in den Riigikogu ein.
Auf dem zweiten Platz, aber mit deutlichem Abstand zur Reformpartei, landete die rechtspopulistische Estnische Konservative Volkspartei EKRE mit 16,1 % (17 Sitze). Ihre Repräsentanten fallen mit rassistischen, sexistischen und homophoben Äußerungen auf. EKRE befürwortet zwar erhöhte Sicherheitsausgaben, ist jedoch eindeutig gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Ihr werden Verbindungen zu der russischen Söldnergruppe Wagner nachgesagt. Knapp hinter EKRE rangiert die Estnische Zentrumspartei mit 15,3 % (16 Sitze). Die Mitte-links-Partei wird vor allem von russischsprachigen Staatsbürgern Estlands gewählt. Mit Beginn der umfassenden russischen Aggression gegen die Ukraine distanzierte sie sich vom Kreml. In der Wahl 2019 war sie nach der Reformpartei zweitstärkste Kraft, bildete eine Regierung mit EKRE und stellte den Ministerpräsidenten. Die Koalition zerbrach im Januar 2021 an Korruptionsvorwürfen gegen die Zentrumspartei.
Den Schritt ins Parlament nicht geschafft haben drei Parteien: die Estnische Vereinigte Linkspartei (2,4 %), die Rechten (2,3 %) und die Grünen (1 %). Letztere haben ein gutes Programm, aber keine bekannten Führungsfiguren. Auch die Wahlwerbung der Grünen war eher verwirrend. Dabei sind die ökologischen Probleme Estlands groß und bräuchten eine politische Kraft, die sich diesen in besonderer Weise widmet.
Die starke bürgerliche Mehrheit im neuen Parlament kann jedoch nicht über eine Polarisierung in der Gesellschaft hinwegtäuschen. Die Trennlinien verlaufen einerseits entlang der Positionierung zur Ukraine (mit EKRE als Gegenpol zur Regierungspolitik) und andererseits entlang der Sprachenfrage (mit dem Zentrum als – wenn auch im Vergleich zur letzten Legislatur erheblich geschwächtem – Fürsprecher der Russischsprachigen).
Eine wichtige Aufgabe: die Gesellschaft einen
Welche Koalition nun gebildet wird, hängt wie immer von den Inhalten und der Mathematik ab. Kaja Kallas hatte sich bereits vor der Wahl klar gegen eine Zusammenarbeit mit EKRE ausgesprochen. Die Zentristen zeigten sich zumindest vor der Wahl immer noch gekränkt angesichts der 2022 unter anderem an der Sprachenfrage zerbrochenen Koalition mit den Reformern. Damit bleiben der Reformpartei immer noch mehrere Koalitionsmöglichkeiten (wobei sie Gespräche auch mit dem Zentrum nicht ausschließt). Mit Estland 200 und den Sozialdemokraten hätten die Reformer eine stabile Mehrheit von knapp 54 %, und auch inhaltlich könnte eine solche Koalition viel bewegen.
Denn neben der auch für Europa wichtigen Fortsetzung von Estlands außenpolitischem Kurs der tatkräftigen Unterstützung für die Ukraine wird die neue Regierung eine weitere Aufgabe zu bewältigen haben: die Gesellschaft zu einen und die sozialpolitischen Herausforderungen angesichts der hohen Inflation zu bewältigen. Eine der delikatesten Aufgaben ist es, eine kluge Sprachenpolitik zu betreiben, die es schafft, die russischsprachige Bevölkerung zu integrieren und die Verinselung des zu Dreivierteln von russischsprachigen Menschen bewohnten Nordostens zu überwinden.
Alarmierend ist, dass in diesem nordöstlichen Gebiet Ida-Viru die Wahlbeteiligung am geringsten war. Die meisten Stimmen erhielten dort Kandidaten, die sich klar für den Aggressor Russland und gegen die Ukraine ausgesprochen hatten. Selbst die Zentrumspartei verlor signifikant Stimmen an diese Kandidaten. Ein Journalist der estnischen Tageszeitung Postimees erklärte vor der Wahl, dass viele seiner russischsprachigen Bekannten sich überhaupt nicht für Politik interessierten. Er schrieb den jüngeren russischsprachigen Politikern ins Stammbuch, sich effektiver über soziale Medien an ihre potentielle Wählerschaft zu wenden. Zugleich – und das ist für die gesellschaftliche Integration sicherlich wichtiger – stellen auch estnische Politiker aller Parteien und die Massenmedien ihre Inhalte auf Russisch zur Verfügung.
Gewonnen haben die Wähler
Als schlechte Wahlverliererin zeigte sich EKRE, als ihr Vorsitzender Martin Helme noch in der Wahlnacht Zweifel an der Zuverlässigkeit des E‑Votings äußerte (wobei er andere E‑Systeme wie E‑Steuer, E‑Register, E‑Gesundheitssystem etc. nicht in Frage stellt). Nach Auszählung der Papierstimmen lag EKRE zunächst vorn; nach Einbeziehung der elektronisch abgegebenen Stimmen drehte sich das jedoch. Helme kündigte an, das Ergebnis nicht anerkennen und dagegen Klage einreichen zu wollen.
Gewonnen haben die Wahl aber letztlich nicht Parteien, sondern vor allem die Wähler: 63,7 % der knapp 966.000 wahlberechtigten Bürger haben abgestimmt, was für estnische Verhältnisse beachtlich ist. Sie – die Wähler – haben außerdem einen Rekord aufgestellt: erstmals hat eine Mehrheit von ihnen (51 %) elektronisch abgestimmt. Anders als Wahlverlierer Helme vertrauen sie dem E‑Voting.
Auch wenn Fragen der sozialen Fürsorge wie des wirtschaftlichen Wohlergehens nicht banal sind, zeigten die Esten mit ihrer Wahl mehrheitlich, dass Freiheit und Demokratie für sie Priorität haben. Kaja Kallas betont das immer wieder auch auf internationalem Parkett: Dass sie den Wert der Freiheit so hoch schätzt, weil sie weiß, wie es ist, ohne sie auskommen zu müssen. Sie ist in der Sowjetunion geboren und aufgewachsen. Ihre Mutter wurde als sechs Monate altes Baby nach Sibirien deportiert wie Zehntausende andere Esten auch.
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