„Die EU ist für eine neue Erweiterung nicht reif“ – Interview mit Barbara Lippert
Für die Staaten des Westbalkan sieht die Forschungsdirektorin der Stiftung Wissenschaft und Politik, Barbara Lippert, auch wegen der Konflikte in Bosnien und mit Serbien keine Chancen für einen Beitritt. Der Ampelkoalition bescheinigt sie ein ambitioniertes Europaprogramm.
Das Interview führte Ludwig Greven
Die Ampelkoalition bekennt sich zu einer aktiven Europapolitik. Erwarten Sie unter Führung von Olaf Scholz größere Veränderungen und Fortschritte in den verschiedenen Krisenfeldern der EU?
Barbara Lippert: Bemerkenswert ist, dass es im Koalitionsvertrag ein klares Bekenntnis zur Vertiefung der Europäischen Union gibt, ohne dass dafür das traditionelle Vokabular genutzt wird. Das gilt auch für Fragen der Erweiterung und die Debatte darüber, wie und ob beide Prozesse gekoppelt werden sollen. Die deutsche Europapolitik stand lange unter der Formel, dass Vertiefung und Erweiterung zusammengehören. In der Praxis haben wir nach der Osterweiterung 2004 gesehen, dass die Vertiefung nicht Schritt gehalten hat. Ich finde es klug, dass die Ampelregierung nicht explizit an diese Debatte anknüpft, sondern sehr weitgehende europapolitische Vorstellungen formuliert, sogar einen europäischen verfassungsgebenden Konvent anpeilt. Dieser würde sich dann mit institutionellen Reformen und Reformen in einzelnen Politikfeldern befassen, wie etwa der Gesundheitspolitik. Daneben steht das traditionelle Bekenntnis zur Erweiterung, allerdings begrenzt auf die Staaten des Westbalkans. Es wird darüber hinaus nur zur Kenntnis genommen, dass auch die Ukraine, Georgien und Moldova einen Beitritt anstreben. Die Türkei wird lediglich als Nachbar der EU und Partner in der Nato erwähnt. Ich sehe darin eine realistische Abstufung.
Auf absehbare Zeit halten Sie die EU nicht für in der Lage, weitere Mitglieder aufzunehmen?
Lippert: Ja, das sehe ich so. Ein Land wie Schottland würde die EU eventuell dennoch aufnehmen, vorausgesetzt, es ist als ein unabhängiger Staat anerkannt worden. Aber bei dysfunktionalen Staaten wie denen des Westbalkans wird oder sollte die EU das auf absehbare Zeit nicht tun, auch wenn geopolitisch viel für deren Aufnahme spricht. Und zwar wegen der fehlenden Reife dieser Staaten, aber auch weil die EU dafür institutionell und politisch nicht gerüstet ist. Selbst wenn sie die institutionellen Voraussetzungen schaffen würde – z.B. eine verkleinerte Kommission, eine neue Sitzverteilung und ein einheitliches Wahlreicht für das Europäische Parlament, mehr qualifizierte Mehrheitsentscheidungen – müsste sie dennoch besorgt sein um ihre politische Handlungsfähigkeit, denn bei der politischen Konvergenz sehe ich große Probleme, auch heute schon im Kreis der 27.
In ihrem jüngsten Bericht stellt die EU-Kommission fehlende Fortschritte, teils Rückschritte in den Westbalkan-Ländern fest, vor allem in Serbien und Bosnien. Die jährliche Konferenz mit den Ländern blieb ergebnislos, es gibt weiterhin keinen Zeitplan für die Aufnahme. Was es ein Fehler, diesen Ländern vor zehn Jahren überhaupt ein Beitrittsversprechen zu geben?
Lippert: 2003, unmittelbar vor der Osterweiterung von 2004, hat man den Balkanstaaten das Signal geben wollen, das ist nicht die letzte Erweiterungsrunde und nicht das Ende der Erweiterung. Es ist dann ja auch 2013 Kroatien dazu gekommen. „Thessaloniki“ hatte damals v.a. eine psychologische Bedeutung, aber es bedeutet natürlich eine dauerhafte Selbstbindung der EU. Politisch ging es darum, die Westbalkan-Staaten zu ermutigen, ihren Transformationsprozess fortzusetzen und die internen und zwischenstaatlichen Konflikte und ihre Grenzstreitigkeiten beizulegen. Die EU will auch dort als Friedensgemeinschaft wirken und entsprechende Prozesse unterstützen. Tatsächlich sind die sechs Staaten wirtschaftlich und auch gesellschaftlich bereits stark mit der EU verbunden und in ihren Wirtschaftsraum integriert.
Wenn man sich die aktuellen Konflikte in Bosnien mit der Führung der serbischen Teilrepublik oder zwischen dem Kosovo und Serbien anschaut, ist die Friedenssicherung nicht gelungen.
Lippert: Das Angebot des Beitritts war, wie es Herfried Münkler einmal formuliert hat, eine Form des Gewaltabkaufs. Es gibt keine andere Region, in der die EU über Jahrzehnte ihre Instrumente der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik – zivil wie militärisch – sowie ihre wirtschaftlichen und finanziellen Instrumente so umfassend eingesetzt hat wie in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien. Dieses große Engagement hat jedoch bei der Stabilisierung und Demokratisierung nicht im gewünschten Maß verfangen. Die EU wird aber zunehmend deutlicher mit ihrer Ansage, dass sie keine Voraussetzung für erfolgreiche Beitrittsverhandlungen sieht, solange die politischen Entscheidungsträger nicht die Hauptdefizite ernsthaft angehen, die bei der schlechten Regierungsführung, der grassierenden Korruption und Phänomenen des state capture liegen. Auch wirtschaftlich geht es in den Westbalkan-Ländern kaum voran, viele, vor allem junge Menschen, wandern ab, weil sie dort keine Perspektive sehen, obwohl die EU pro Kopf so viel Geld in diese Länder transferiert hat wie in keine andere Region außerhalb ihrer Grenzen.
Was sollte und kann die EU noch tun?
Lippert: Sie sollte den Dialog mit den Eliten, den Parlamenten, aber auch der Zivilgesellschaft intensivieren. Zum Bespiel, indem sie die Veröffentlichung der jährlichen Länder- und Fortschrittsberichte durch die Kommission zum Anlass nimmt, um über die wichtigsten Anforderungen im Heranführungs- und Beitrittsprozess, deren Sinn, Zweck und Umsetzungsmöglichkeiten zu diskutieren. Die EU findet oftmals in den Regierungsreihen nicht die Partner, die die Agenda von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Bekämpfung der Korruption teilen und überhaupt an der Implementierung interessiert sind.
Es ist Zeit, dieses Kardinalproblem gegenüber den jeweiligen Regierungsspitzen klar auszusprechen und nicht nur hinter verschlossenen Türen. Denn das hatte bisher nur wenig Erfolg. Gegenüber anderen Ländern ist die EU ja dazu übergegangen, einzelne Personen zu sanktionieren. Es wäre zu überlegen, ob sie das auch bei Ländern, die im Beitrittsprozess sind, tut. Es wäre wichtig, für die Bevölkerung in diesen Ländern Zeichen zu setzen, weil die EU dort teils als Komplizin jener korrupten Eliten gesehen wird, die jegliches Vertrauen verspielt haben, und in diesem Kontext verliert leider auch die EU an politischer Glaubwürdigkeit.
Die Bevölkerung dieser Länder möchte aber weiterhin in die EU.
Lippert: Ich gehe nicht davon aus, dass bis 2030 ein weiterer Balkanstaat die Kopenhagener Beitrittskriterien erfüllen wird und in dem Sinne für die Mitgliedschaft reif ist. Es war schon in der Vergangenheit – etwa bei Rumänien und Bulgarien – kein wirksamer Hebel, ein Beitrittsdatum zu nennen. Man sollte deshalb Zwischenziele definieren und nicht auf den formalen Beitritt fixiert sein. Ich plädiere dafür, mit den Ländern, die noch große Probleme haben, nicht nur die Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaat, sondern auch die Erfordernisse des Binnenmarkts und neuerdings der sozio-ökonomischen Transformation des Green Deal zu erfüllen, über Zwischenstadien nachzudenken. Eine engere Anbindung unterhalb der Mitgliedschaft könnte den Ländern das bringen, was sie eigentlich wollen: wirtschaftliche und soziale Fortschritte und vernünftig regiert zu werden. Das kann man auch außerhalb der EU als assoziiertes und wirtschaftlich integriertes Land, ohne den gesamten EU-Besitzstand zu übernehmen. Alles oder Nichts ist nicht die Alternative.
Die Ukraine hat bereits ein Assoziierungsabkommen mit der EU, auch dort wünschen sich viele einen EU-Beitritt. Ist das wegen der Aggression Russlands völlig ausgeschlossen?
Lippert: Die Ukraine könnte wie alle europäischen Länder den Antrag auf Mitgliedschaft stellen, aber die EU sollte ihr nicht wie den Balkanstaaten selbst eine Mitgliedschaft in Aussicht stellen. Das wäre jetzt ein falsches Signal, nicht zuletzt, weil es die EU nicht einlösen könnte und wohl nicht liefern würde. Die EU hat ein starkes Interesse daran, dass sich die Ukraine an westlichen politischen Standards orientiert, und fördert die wirtschaftliche und gesellschaftliche Resilienz auch durch schrittweise Integration in den Europäischen Wirtschafts- und Energieraum sowie durch den gesellschaftlichen Austausch. Der EU ist es wichtig, dass die Ukraine selbst souverän entscheiden kann, wie und wo sie ihre Zukunft sieht, und sie darf dabei nicht russischen Drohungen und Interventionen ausgesetzt sein. Darauf zielt die politische und materielle Unterstützung der EU.
Dr. Barbara Lippert ist seit April 2009 Forschungsdirektorin des Deutschen Instituts für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)
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