Wie wir Klimaschutz, Demokratie und Marktwirtschaft unter einen Hut bekommen
Ein Teil der Klimabewegung vertritt einen Öko-Puritanismus, der Verzicht zur Tugend erhebt: Du sollst nicht fliegen, kein privates Auto besitzen, kein Fleisch essen, deinen Konsum einschränken. So richtig der Appell an die persönliche Verantwortung ist, so weltfremd ist die Vorstellung, der Klimawandel ließe sich durch die Abkehr von der Konsumgesellschaft aufhalten. Die Weltwirtschaft wird weiter wachsen; die große Mehrheit der Weltbevölkerung will Anschluss an ein modernes, komfortables Leben finden. Es kommt darauf an, wirtschaftlichen Wohlstand und Naturverbrauch zu entkoppeln und die ökologische Wende zu einem wirtschaftlichen Erfolgsmodell zu machen. Die grüne industrielle Revolution hat schon begonnen. Damit sie sich durchsetzt, muss die Politik die Weichen für eine ökologische Marktwirtschaft stellen.
Die Auseinandersetzung um den Klimawandel ist in eine neue Phase getreten. Hunderttausende junger Leute sind Vorreiter einer neuen „Klima-APO“ (Außerparlamentarischen Opposition). Die Jungen ziehen die Alten nach. Klimaschutz war schon bei der jüngsten Europawahl ein ausschlaggebender Faktor. Er hat das Zeug, die politische Landschaft nicht nur in Deutschland umzupflügen. Der Druck zum Handeln wächst nicht nur aus ökologischen Gründen: Wenn die Kluft zwischen klimapolitischer Ungeduld der außerparlamentarischen Bewegung und klimapolitischer Trägheit von Politik und Wirtschaft wächst, kann daraus ruck, zuck eine Legitimationskrise von Marktwirtschaft und liberaler Demokratie werden. Wer beide zukunftsfest machen will, muss sich der ökologischen Herausforderung stellen.
Zugleich birgt die Auseinandersetzung um die Klimafrage den Keim eines Kulturkampfs. Je deutlicher die Gefährdung unserer ökologischen Lebensgrundlagen zutage tritt, desto lauter ertönt der Ruf „Du musst Dein Leben ändern!“ Das Zeitalter des „immer höher, schneller, weiter“ gehe dem Ende zu, Selbstbegrenzung sei das neue Gebot. Für die Verfechter eines neuen Öko-Puritanismus resultiert der Klimawandel aus der Lebensweise jener wohlhabenden Milliarde Erdenbürger, die alle Segnungen der Moderne ohne Rücksicht auf die Folgen genießen. Die Freude am Fahren, der Flugurlaub, die große Wohnung, die permanente Online-Kommunikation, die jährlich wechselnden Moden, die jahreszeit-unabhängige Verfügbarkeit von Lebensmitteln aus der ganzen Welt und der hohe Fleischkonsum gelten als ökologische Sündenfälle. Unser Streben nach „immer mehr“ ruiniere den Planeten. „Tuet Buße und kehrt um!“ ist deshalb der neue kategorische Imperativ.
Richtig ist: die industrielle Moderne mit ihrem Credo extrovertierter Selbstverwirklichung basiert bislang auf der scheinbar unbegrenzten Verfügbarkeit fossiler Energien. Sie waren der Treibstoff einer ungeheuren Steigerung von Produktion und Konsum und einer immer weiter ausgreifenden Mobilität. Jetzt, da sich erweist, dass die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas das Erdklima aus den Fugen hebt, gerät auch der Hedonismus der Moderne unter Kritik. Eine Freiheit, die auf Kosten anderer ausgelebt wird, wird zum bloßen Egoismus. Sie zerstört die Freiheit künftiger Generationen, in einer halbwegs intakten Umwelt zu leben. Statt die Grenzen des Möglichen ständig auszuweiten, sollen wir uns jetzt in Selbstbegrenzung üben. Die Ethik der Restriktion gebietet Demut, Entschleunigung, Sein statt Haben.
Wider die Privatisierung der Klimafrage
Die bisherige Wirkung all dieser Bußpredigten ist allerdings sehr überschaubar. Es gibt zwar neuerdings vegane Burger im Discounter; unter den Jungen und Gebildeten geht der Fleischkonsum ebenso zurück wie der Drang zum eigenen Auto. Zugleich steigen die Zulassungszahlen für SUVs ebenso wie der Stromverbrauch der digitalen Kommunikation, und von einem Einbruch der Tourismusbranche ist nichts bekannt. Die Zahl derjenigen, die ihre persönliche CO2-Bilanz radikal gesenkt haben, fällt kaum ins Gewicht. Das liegt nicht nur an der Macht alter Gewohnheiten und an individueller Bequemlichkeit. Unsere persönliche Klimabilanz hängt stark von Strukturen ab, die sich individuell nur sehr bedingt verändern lassen: von der Art der Energieerzeugung, den Gebäuden, in denen wir wohnen, den verfügbaren Alternativen zum Automobil und den Berufen, in denen wir tätig sind.
Nehmen wir den Flugverkehr als Beispiel: Es zählt wohl nicht zu den unveräußerlichen Menschenrechten, mal eben zum Einkaufen nach London oder zum Wochenendurlaub nach Mallorca zu düsen. Aber derlei Eskapaden sind nur ein Bruchteil des rasch wachsenden globalen Flugverkehrs. Das Fliegen ist Bestandteil einer weltumspannenden Wirtschaft und einer zunehmenden Globalisierung aller Lebensverhältnisse. Familien sind über Länder und Kontinente zerstreut, junge Leute studieren im Ausland, Wissenschaft, Kultur und Sport sind international. Politik kommt ohne Flugreisen nicht aus, die persönliche Begegnung mit Menschen ist durch keine digitale Kommunikation ersetzbar. Auch die Protagonisten der „globalen Zivilgesellschaft“ gehören zu den Vielfliegern, sie treffen sich auf internationalen Konferenzen und kooperieren mit Partnerinnen rund um den Globus. Je mehr Menschen weltweit in die Mittelschicht aufsteigen, desto stärker wächst der Flugverkehr. China hat inzwischen die Bundesrepublik als „Reiseweltmeister“ im Flugtourismus überholt. In einer solchen Welt den Verzicht auf Flugreisen zu einem Gebot ökologischer Tugend zu machen, ist schlicht weltfremd.
Wer die schädlichen Klimafolgen des Flugverkehrs reduzieren will, muss die Weichen für klimaneutrales Fliegen stellen. Die Lösung liegt in Innovation, nicht in der Abkehr von der Moderne. Synthetischer Wasserstoff statt Kerosin, Algentreibstoffe, Elektroantrieb im Bodenverkehr, leichte und dennoch robuste Materialien sind längst in der Entwicklung. Die Einbeziehung des Flugverkehrs in den CO2-Emissionshandel würde mehr helfen als alle Verzichtspredigten, ebenso der Ausbau eines attraktiven, schnellen Bahn-Netzes in Europa.
Nicht zuletzt lebt auch in einer reichen Gesellschaft wie der Bundesrepublik die Mehrheit keineswegs im Überfluss, sondern kommt gerade so über die Runden. Der Aufruf, „wir“ müssten uns einschränken, kommt in der Regel aus den höheren Etagen der Gesellschaft. Von einer Massenbewegung der Besserverdienenden für Gehaltssenkungen und höhere Steuern hat man aber bislang nichts gehört.
Damit wir uns recht verstehen: Es gibt keine Freiheit ohne persönliche Verantwortung. Es ist gut und richtig, mit Rad oder Bahn zu fahren und keine Produkte zu kaufen, für die Menschen geschunden werden oder Tiere leiden. Jedem steht es frei, das „gute Leben“ in einem Mehr an freier Zeit und sozialen Beziehungen statt in einer Steigerung von Einkommen und Konsum zu suchen. Aber ein nüchterner Blick auf die Größe der ökologischen Herausforderung zeigt, dass sie mit dem Appell zur Genügsamkeit nicht zu lösen ist. Ohne eine grüne industrielle Revolution werden wir den Wettlauf mit dem Klimawandel nicht gewinnen. Ihr Kern besteht in einer Entkopplung von Wohlstandsproduktion und Naturverbrauch. Das ist ambitioniert, aber machbar.
Die autoritäre Versuchung der Ökologie
Wenn der Appell zum Verzicht auf taube Ohren stößt, liegt der Ruf nach Verboten nahe. Sie schränken die Freiheit des Einzelnen ein, um das Leben der nachrückenden Generationen zu schützen. Diese Logik der Restriktion erscheint moralisch unangreifbar und in der Sache zwingend. Was zählt schon die Bequemlichkeit des Einzelnen, was zählen „Luxusbedürfnisse“ wie Urlaubsreisen, geräumige Wohnungen, hochgezüchtete Autos angesichts der drohenden Klimakatastrophe? Wäre nicht sogar eine spürbare Absenkung des Wohlfahrtsniveaus in Kauf zu nehmen, wenn damit eine wachsende Instabilität des Ökosystems verhindert werden kann? Der Ruf nach Einschränkung und Verzicht ist dennoch die falsche Antwort auf Klimawandel und Artensterben. Ökologisch springt sie zu kurz, gesellschaftlich mündet sie in eine scharfe Polarisierung, politisch führt sie auf die schiefe Ebene eines Autoritarismus im Namen der Weltrettung.
Der Philosoph Peter Sloterdijk hat den neuen Kulturkampf bereits vor Jahren vorausgesehen:
„Die expressions- und emissionsfeindliche Ethik der Zukunft zielt geradewegs auf die Umkehrung der bisherigen Zivilisationsrichtung. Sie verlangt Verminderung, wo bisher Vermehrung auf dem Plan stand, sie fordert Minimierung, wo bisher Maximierung galt, sie will Zurückhaltung, wo bisher Explosion erlaubt war, sie verordnet Sparsamkeit, wo bisher Verschwendung als höchster Reiz empfunden wurde, sie mahnt die Selbstbeschränkung an, wo bisher die Selbstfreisetzung gefeiert wurde. Denkt man diese Umschwünge zu Ende, so gelangt man im Zuge der meteorologischen Reformation zu einer Art von ökologischem Calvinismus.“
Die Erbitterung, mit der um Geschwindigkeitsbegrenzung und Fahrverbote gestritten wird, ist der Vorschein dieses neuen Kulturkampfs zwischen den Anhängern einer moralisch aufgeladenen Politik der Restriktion und jenen, die diese Politik als Angriff auf ihre Lebensform empfinden. Die einen berufen sich auf Klimaschutz als zwingendes Gebot, die anderen sehen eine Verschwörung von grünen Autogegnern, die keine Ahnung vom realen Leben haben. Dieser Konflikt hat eine soziale Schlagseite, weil es insbesondere die privilegierten Kinder der Wohlstandsgesellschaft sind, die eine „Wende zum weniger“ propagieren. Wenn dann herauskommt, dass die vehementesten Befürworter von Fahrverboten für Dieselautos zur Klasse der Vielflieger gehören, ist das ein gefundenes Fressen für alle Grünen-Hasser und Verteidiger des Status quo. Die Privatisierung der Klimafrage frisst ihre Kinder.
Klimawandel und Demokratie
Die Kritik an der Langsamkeit der Demokratie mit ihren ewigen Kompromissen hat eine lange Tradition. Es ist kein Zufall, dass prominente Umweltschützer wie der Norweger Jorgen Randers mit dem chinesischen Modell sympathisieren. Wenn man Ökologie in erster Linie als Einschränkung von Produktion und Konsum versteht, ist das konsequent. Autoritäre Regime sind dann eher in der Lage, die notwendigen Verzichtsleistungen durchzusetzen. Demokratie wird zum Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können; Freiheit schnurrt auf die Einsicht in die ökologische Notwendigkeit zusammen. Gegen die autoritäre Versuchung der Ökologie zu argumentieren bedeutet nicht, die ökologische Krise zu verharmlosen. Wenn die Erderwärmung außer Kontrolle gerät und die Meere kippen, wird das große Verwerfungen nach sich ziehen, von wirtschaftlichen Einbrüchen bis zu weltweiten Wanderungsbewegungen. Insofern gefährdet die Umweltkrise auch die Demokratie. Wir müssen deshalb alles tun, um die ökologische Transformation der Industriegesellschaft voranzutreiben, um zu verhindern, dass die Klimakrise die liberale Demokratie zerstört.
Die Anhänger einer restriktiven Umweltpolitik berufen sich gern auf die Maxime „Mit dem Klima lässt sich nicht verhandeln.“ Darin liegt eine anti-politische, wenn nicht anti-demokratische Berufung auf ökologische Sachzwänge, die über der Politik stehen. In der Konsequenz schrumpft Politik dann auf die Umsetzung von Vorgaben, die aus den Prognosemodellen der Klimaforschung abgeleitet werden, um die Erderwärmung unter zwei Grad zu halten. „Die Wissenschaft“ gibt die Ziele und das Tempo vor, die Politik kann allenfalls noch die Wege festlegen, auf denen die jährlichen CO2-Reduktionsziele erreicht werden sollen. Aber keine Regierung der Welt (nicht einmal eine autoritäre Macht) kann Klimaziele ohne Rücksicht auf wirtschaftliche, soziale und regionale Belange umsetzen. Auch die Umweltpolitik steht nicht über dem politischen Prinzip des Abwägens zwischen unterschiedlichen Zielen und widerstreitenden Interessen. Außerdem führt jede isolierte Betrachtung einzelner volkswirtschaftlicher Sektoren ebenso in die Irre wie eine national begrenzte Sichtweise.
Zugespitzt formuliert ist es für das Erdklima irrelevant, ob das letzte Kohlekraftwerk in Deutschland im Jahr 2038 oder 2035 abgeschaltet wird. Viel wichtiger ist, dass die Energiewende zu einem Erfolgsmodell wird, das internationale Anziehungskraft entwickelt. Dazu gehört, dass sie von einem Großteil der Bevölkerung getragen wird, statt die Gesellschaft zu spalten. Dazu gehört auch, dass der Umstieg auf ein klimafreundliches Energiesystem wirtschaftlich erfolgreich ist, also Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung und Einkommen stärkt. Nur dann wird sie zum Pilotprojekt für andere Nationen, bei denen Wachstum und Wohlstand nach wie vor einen hohen Stellenwert haben.
Nullwachstum oder grüne industrielle Revolution?
Freiwilliger oder erzwungener Verzicht auf dieses und jenes wird den Klimawandel allenfalls verlangsamen, aber nicht stoppen. Das gilt erst recht mit Blick auf die Milliarden Menschen auf unserem Planeten, die nichts sehnlicher wollen als den Anschluss an ein modernes Leben: gut ausgestattete Wohnungen, Bildung und professionelle Gesundheitsversorgung, die Möglichkeit zu reisen, eine reichhaltige Ernährung. Für die große Mehrheit der Weltbevölkerung ist „Nullwachstum“ keine Alternative. Für sie ist die Steigerung der Wirtschaftsleistung (vulgo Wachstum) nach wie vor der Hebel für höhere Einkommen, bessere Bildung und Gesundheitsversorgung und mehr materiellen Komfort.
Bei Lichte besehen gilt das auch für die wohlhabenden Länder des globalen Nordens. In einer stagnierenden oder gar schrumpfenden Ökonomie sinken auch die Investitionen und damit das Innovationstempo. Gerade weil die Zeit angesichts des Klimawandel drängt, brauchen wir umgekehrt ein höheres Tempo bei der Umstellung auf erneuerbare Energien, umweltfreundliche Landwirtschaft und klimaneutrale Mobilität. Die ökologische Erneuerung der Industrie, unserer Städte und der öffentlichen Infrastruktur erfordert steigende Investitionen in alternative Energiesysteme und neue Produktionsanlagen, in den Ausbau des öffentlichen Verkehrs und die ökologische Modernisierung des Gebäudebestands. Wenn wir es richtig anstellen, entsteht daraus eine neue ökonomische Dynamik, eine lange Welle umweltfreundlichen Wachstums der Weltwirtschaft.
Nüchtern betrachtet geht es ohnehin nicht um die Frage, ob die Weltwirtschaft weiterhin wächst. Angesichts einer auf zehn Milliarden anwachsenden Weltbevölkerung, der fortschreitenden Industrialisierung der Länder des Südens und des anhaltenden Wachstums der Städte lautet die alles entscheidende Frage, ob es gelingt, Wertschöpfung und Umweltbelastung zu entkoppeln. Bei einer jährlichen Wachstumsrate von drei Prozent wird sich die globale Wirtschaftsleistung in den kommenden 20 Jahren in etwa verdoppeln. Im gleichen Zeitraum müssen die Treibhausemissionen dramatisch sinken, um den Temperaturanstieg im Zaum zu halten. Das erfordert nichts weniger als eine grüne industrielle Revolution mit einer ähnlich durchschlagenden Wirkung wie die Erfindung der Dampfmaschine, die Elektrifizierung oder der Siegeszug des Automobils. Im Kern geht es um eine dreifache Transformation der alten Industriegesellschaft: erstens von fossilen Energiequellen zu erneuerbaren Energien, zweitens um eine kontinuierliche Steigerung der Ressourceneffizienz (aus weniger Rohstoffen und Energie mehr Wohlstand erzeugen) und drittens um den Übergang zu einer modernen Kreislaufwirtschaft, in der jeder Reststoff wieder in die biologische oder industrielle Produktion zurückgeführt wird.
Deutschland besitzt – wie andere europäische Länder – alle Voraussetzungen, um eine führende Rolle bei der ökologischen Erneuerung der Industriegesellschaft zu spielen. Statt lähmende Panik zu verbreiten, sollten wir Klimaschutz als Geschichte eines großen Aufbruchs erzählen, als neues Wirtschaftswunder in grün.
Öko-liberale Ordnungspolitik
Wer Freiheit und Ökologie in Einklang bringen will, muss vor allem auf Innovation setzen und den Wettbewerb um die besten Lösungen fördern. Auch eine liberale Ordnungspolitik kommt nicht ohne Grenzwerte und Verbote aus. Aber sie sind nicht der Königsweg für die Lösung der ökologischen Frage. Zielführender ist die Einbeziehung ökologischer Kosten in die Preisbildung. Marktwirtschaft funktioniert nur, wenn die Preise die ökologische Wahrheit sagen. Eine ökologische Steuerreform, die Treibhausgas-Emissionen und den Verbrauch knapper natürlicher Ressourcen schrittweise verteuert, hätte einen weitaus größeren Effekt als immer neue Gebote und Verbote. Die Mehrbelastungen, die durch Umweltsteuern entstehen, können in Form eines pauschalen Öko-Bonus an alle Bürgerinnen und Bürger zurückerstattet werden. Ein solcher Pro-Kopf-Betrag hätte sogar einen sozialen Umverteilungseffekt, weil die Geringverdienenden in der Regel einen geringeren CO2-Fußabdruck aufweisen als die Wohlhabenden.
Die alte Frage „wieviel Staat braucht der Markt?“ stellt sich angesichts der Geschwindigkeit und Tragweite des Klimawandels neu. Es geht um nicht weniger als um einen fundamentalen Umbau der Industriegesellschaft innerhalb weniger Jahrzehnte. Eine solche Herausforderung, vergleichbar allenfalls mit dem Wiederaufbau des zerstörten Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, erfordert eine unvoreingenommene Diskussion über Strategien und Instrumente. Aus einer marktwirtschaftlichen Perspektive ist der Dreh- und Angelpunkt einer Wende zur Nachhaltigkeit die Einbeziehung ökologischer Kosten in die Preisbildung. Nur dann können Märkte ihre Innovations- und Allokationsfunktion auch im Hinblick auf den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen erfüllen.
Der Weg über einen sukzessiv ansteigenden CO2-Preis ist der kostengünstigste Weg zum Klimaschutz – er setzt die Maßnahmen zur Senkung von Kohlendioxid-Emissionen frei, bei denen das günstigste Kosten-Nutzen-Verhältnis erzielt werden kann. Der zweite große Vorteil gegenüber einer staatlichen Detail-Steuerung von Produktion und Konsum liegt darin, dass sie die Eigeninitiative von Unternehmen und Verbrauchern in eine nachhaltige Richtung lenkt, ohne ihnen Vorschriften zu machen, was genau sie zu tun oder zu lassen haben. Der CO2-Preis ist eine Information, was im Interesse eines stabilen Erdklimas zu unterlassen ist. Zugleich liefert er Anreize für umweltfreundliche Investitionen und Kaufentscheidungen auf Seiten der Produzenten und Konsumenten.
Er ist aber keine eierlegende Wollmilchsau, die alle andere regulativen und strukturpolitischen Maßnahmen ersetzt. Das gilt umso mehr, als ein adäquater CO2-Preis, der die Kosten des Klimawandels abbildet, in Größenordnungen liegt, die aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen nur sukzessive erreicht werden können. Klimaökonomen kommen auf lenkungswirksame Einstiegspreise von rund 60 Euro/Tonne, die bis auf deutlich dreistellige Beträge ansteigen. In Schweden, das bereits Anfang der 1990er-Jahre eine nationale CO2-Steuer einführte, liegt der Preis gegenwärtig bei 115 Euro/Tonne. Er gilt für wirtschaftliche Aktivitäten, die nicht vom europäischen CO2-Emissionshandel erfasst werden. Im internationalen Wettbewerb stehende Unternehmen zahlen geringere Sätze.
Staat und Markt
Jede staatliche Investitions- und Konsumlenkung unterliegt dem Dilemma unvollständiger Information – niemals überblicken Politik und Verwaltung die Vielzahl möglicher Wirkungen und Nebenwirkungen, und niemals wissen sie mit Sicherheit, was mit Blick auf künftige Entwicklungen die „richtige“ Maßnahme für die Lösung bestimmter Umweltprobleme ist. Deshalb unterliegt auch jede staatliche Industriepolitik dem Risiko, auf das falsche Pferd zu setzen, also heute mit Milliardenaufwand Technologien zu fördern, die morgen schon überholt sein können. Am Beispiel der Batterietechnik ist das evident. Soll die Bundesregierung den Bau einheimischer Batteriefabriken auf der Basis der Lithium-Ionen-Technik subventionieren, während schon an der nächsten Batteriegeneration auf ganz anderer technischer Grundlage geforscht wird? Und soll sie eine politische Entscheidung zugunsten batteriebetriebener Elektrofahrzeuge treffen, obwohl etwa Japan die Brennstoffzellen-Technik forciert und synthetischer Wasserstoff zum Bindeglied zwischen Strom- und Wärmesektor, Verkehr und industriellen Produktionsprozessen werden könnte?
Die Antwort auf diese Frage fällt weniger eindeutig aus, als es zunächst scheinen mag. Keine der bahnbrechenden technischen Innovationen des Industriezeitalters, von der Eisenbahn bis zum Internet, hat sich allein „über den Markt“ durchgesetzt. Sie alle wurden mehr oder weniger stark politisch flankiert: durch rechtliche Rahmenbedingungen, staatliche Forschungspolitik, öffentliche Aufträge, Infrastruktur-Investitionen oder direkte Subventionen. Das gilt auch für die Internet-Ökonomie des Silicon Valley. Es wäre naiv, allein auf marktbasierte Innovationen zu setzen. Das gilt erst recht, wenn das „Upscaling“ neuer Technologien von Infrastrukturen abhängt, die nicht allein durch die Industrie bereitgestellt werden können. So ist ein dichtes Netz von Ladestationen auf öffentlichem Grund eine Voraussetzung für den Umstieg auf Elektroautos. In die gleiche Richtung wirken staatliche Zuschüsse beim Kauf von Elektrofahrzeugen, privilegierte Parkmöglichkeiten in Innenstädten und Vorrangspuren auf dicht befahrenen Straßen. Ein höherer CO2-Preis wäre auch hier der wirksamste Hebel, um den Übergang zu umweltfreundlicher Mobilität zu befördern.
Es braucht deshalb einen intelligenten Politik-Mix, der größtmöglichen Spielraum für Innovationswettbewerb und Eigenverantwortung lässt und dort nachsteuert, wo marktwirtschaftliche Instrumente nicht (oder zu langsam) wirken. Ökologische Ordnungspolitik muss Entschiedenheit in den Zielen mit Flexibilität der Wege, Innovationsoffenheit und Lernfähigkeit verbinden. Sie muss einen langfristigen Orientierungsrahmen für Unternehmen und Bürger bieten, ohne ihnen engmaschige Vorgaben zu machen. Die einst im Grundsatzprogramm der Grünen formulierte Leitlinie „So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig“ ist zeitlos gültig. Wie dieses Spannungsverhältnis aber austariert werden soll, muss jeweils entlang konkreter Herausforderungen bestimmt werden. Der Verzicht auf eine sektorübergreifende CO2-Steuer führt allerdings genau in die engmaschige Klein-Klein-Regulierung einzelner Sektoren, Technologien und Produkte, die marktwirtschaftlichen Prinzipien widerspricht.
Es führt deshalb in die Irre, eine Ausweitung des CO2-Emissionshandels gegen eine schrittweise steigende CO2-Steuer auszuspielen. Zum einen unterliegen sie unterschiedlichen regulatorischen Bedingungen: der Emissionshandel wird auf EU-Ebene verhandelt, während eine CO2Steuer national oder (besser) im Verbund einer europäischen „Koalition der Willigen“ erhoben werden kann. Zum anderen beziehen sie sich auf unterschiedliche Wirkungsbereiche: Landwirtschaft, Verkehr und Gebäudesektor werden nicht vom Emissionshandel erfasst. Er passt auf eine überschaubare Zahl von großen Emittenten, ist aber kaum auf eine Vielzahl von kleinen Unternehmen, Hausbesitzern etc. anwendbar und beeinflusst nur den kleineren Teil der Nachfrage. Wie die Abstimmung zwischen beiden Regulativen zu gestalten ist und welche Grenzausgleichs-Mechanismen eine CO2-Steuer erfordert, ist eine komplexe Aufgabe, aber kein Hexenwerk.
Klimaschutz und soziale Frage
Die „soziale Frage“ hat sich wieder stärker in den Vordergrund geschoben. Die Polarisierung zwischen Verlierern und Gewinnern der Globalisierung, die zunehmende Unwucht bei der Vermögensverteilung, die Herausbildung einer neuen Klasse von „Working Poor“, die trotz harter Arbeit kaum das Nötige zum Leben verdienen, die anhaltende Ungleichheit der Bildungschancen sowie die Verdrängung von Normalverdienern aus den städtischen Wohnquartieren – all das hat die Frage sozialer Gerechtigkeit neu aufgeladen. Wenn Umweltpolitik auf Dauer erfolgreich sein will, muss sie sich der sozialen Frage stellen: sie muss ihre beschäftigungspolitischen Auswirkungen ebenso bedenken wie die verteilungspolitischen Effekte bestimmter Maßnahmen und ihre Auswirkungen auf das Alltagsleben der Bevölkerung. Das gilt für die Ausweitung von Umweltsteuern und ‑abgaben wie für Eingriffe in den Individualverkehr, die vor allem zu Lasten von Pendlern und kleinen Gewerbetreibenden gehen.
Es hilft deshalb nichts, den Vorrang der Klimafrage zu beschwören: wenn eine ambitionierte Klimapolitik hinreichenden gesellschaftlichen Rückhalt gewinnen will, muss sie die ökologische wie die wirtschaftliche und soziale Dimension im Auge behalten. Andernfalls wird sie antiliberalen Gegenbewegungen neue Nahrung verschaffen. Es zeichnet sich schon ab, dass populistische Parteien und Bewegungen versuchen, sich ein zweites Rekrutierungsfeld neben der Flüchtlings- und Migrationspolitik zu verschaffen. Sie spielen sich als Anwälte der „kleinen Leute“ gegen die Bevormundung durch die „ökologischen Eliten“ auf, wettern gegen steigende Energiepreise und den Verlust industrieller Arbeitsplätze, die sie den „Öko-Spinnern“ zuschreiben. Donald Trump hat vorexerziert, dass anti-ökologischer Populismus durchaus kurzfristig Erfolg haben kann, obwohl er sich gegen die langfristigen Interessen gerade der ärmeren Bevölkerungsschichten richtet.
Angesichts einer drohenden Zuspitzung ökologischer Krisen stehen wir vor drei absehbaren Optionen. Die erste liegt in der Radikalisierung einer Umkehrbewegung. Sie sucht die Rettung in der freiwilligen oder erzwungenen Umprogrammierung des Menschen, in Verzicht und Verbot. Ihr Gegenpol ist ein trotziges „Weiter so“. Sloterdijk nennt das eine „komplementäre Welle der Resignation, des Defätismus und des zynischen Nach-uns-die-Sintflut.“ Die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Oberhand gewinnt, ist hoch. Die dritte Möglichkeit liegt in einer neuen Synthese zwischen Natur und Technik. Sie verbindet das noch unausgeschöpfte Potenzial der Evolution mit der Erfindungskraft des menschlichen Geistes. Angesichts der Belastungsgrenzen des Erdsystems bleiben uns zwei Quellen des Fortschritts, deren Grenzen nicht absehbar sind: Die Einstrahlung von Sonnenenergie auf die Erde und die menschliche Kreativität. Auf einer Kombination von beidem muss eine freiheitliche und nachhaltige Gesellschaft aufbauen.
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