Was ist uns das freie Europa wert?

Foto: Ligovsky /​ Shut­ter­stock

Ein Stopp von Öl- und Gasim­porten aus Russland würde Putins Kriegs­ma­schine empfind­lich treffen. Für unsere Ener­gie­ver­sor­gung wäre das ein Kraftakt. Wenn wir jetzt nicht bereit sind, einen Preis für die Freiheit der Ukraine zu zahlen, könnte uns noch ein sehr viel höherer Preis abver­langt werden.

Der Krieg in der Ukraine steht auf Messers Schneide. Wenn Putin darauf speku­liert hat, dass ihm die Ukraine wie eine reife Frucht in den Schoß fallen wird, hat er sich gründlich verrechnet. Nicht nur Kyjiw, auch die Städte im russisch­spra­chigen Osten der Ukraine wehren sich mit verzwei­feltem Mut. Putin geht jetzt zu den Methoden über, die er bereits in Tsche­tsche­nien und Syrien vorex­er­ziert hat: Bombar­die­rung von Wohn­quar­tieren, Abschneiden bela­gerter Städte von Lebens­mit­teln und medi­zi­ni­scher Hilfe, Angriff auf die Ener­gie­ver­sor­gung. Wir hätten wissen müssen, wozu er fähig ist – wenn wir es denn hätten wissen wollen.

Vor unseren Augen spielt sich eine huma­ni­täre Kata­strophe ab. Niemand weiß, wie lange die Ukrainer noch stand­halten können. Wir haben zu lange gezögert, ihnen die Waffen zu liefern, die nötig sind, um sich die russische Übermacht vom Leib zu halten. Wir haben zu lange gebraucht, um wirt­schaft­liche Sank­tionen auf den Weg zu bringen, die empfind­lich treffen. Ihre volle Wirkung wird sich aller­dings erst mit zeit­li­cher Verzö­ge­rung entfalten, zumal die Sank­tionen eine klaffende Lücke haben: Der russische Ener­gie­sektor ist weit­ge­hend ausgenommen.

Ausge­rechnet die russi­schen Banken, über die der Öl- und Gashandel abge­wi­ckelt wird, unter­liegen keinen Beschrän­kungen ihres inter­na­tio­nalen Geschäfts. Seit Putin den Krieg vom Zaun gebrochen hat, expor­tieren Rozneft und Gazprom aus vollen Rohren. Aufgrund der Rekord­preise für Öl und Gas sind ihre Erlöse sprung­haft gestiegen. Mit anderen Worten: Die Euro­päi­sche Union unter­läuft mit den stei­genden Importen russi­scher Kohlen­was­ser­stoffe ihre eigenen Sank­tionen. Wir spülen täglich mehrere Hundert Millionen Euro in die Kriegs­kasse des Kremls. Welche Schi­zo­phrenie, der Ukraine mit der einen Hand Waffen zu liefern und mit der anderen die russische Kriegs­ma­schine zu finanzieren.

Wir ernten jetzt die giftigen Früchte einer Ener­gie­po­litik, die uns über eine lange Strecke in immer tiefere Abhän­gig­keit von Ener­gie­im­porten aus Russland manö­vriert hat. Sie wurde von einer gut geschmierten Russland-Lobby forciert, an ihrer Spitze ein tief gesun­kener Ex-Kanzler. Die von SPD wie Union betrie­bene „stra­te­gi­sche Ener­gie­part­ner­schaft“ mit Russland blendete bewusst oder fahr­lässig die sicher­heits­po­li­ti­sche Schlag­seite dieser Strategie aus. Sie setzte sich ebenso kalt­schnäuzig über die Warnungen unserer Partner in Mittel-Osteuropa hinweg wie über die Sicher­heits­in­ter­essen der Ukraine.

Jetzt ist guter Rat teuer. Wir stecken in einer selbst gebauten Falle. 55 Prozent des deutschen Erdgas-Verbrauchs und mehr als 40 Prozent unserer Ölimporte kommen aus Russland. Wir haben über Jahre hinweg die russische Aufrüs­tung und Putins Propa­gan­da­ap­parat finan­ziert. Russland ist ein fossiles Imperium. Die Einnahmen aus dem Export von Öl, Gas und Kohle machen den zwischen 30 und 40 Prozent des Staats­haus­halts aus. Sie sind die Quelle für die schamlose Berei­che­rung der Macht­eliten, die mit Petro-Euros ihre Paläste und Luxus­yachten finanzieren.

Ein lang­fris­tiger Ausstieg aus dieser schmut­zigen Allianz ist kein Hexenwerk. Er erfordert vor allem den massiven Ausbau erneu­er­barer Energien, den Aufbau eines inter­na­tio­nalen Verbunds für grünen Wasser­stoff, die Elek­tri­fi­zie­rung des Verkehrs, den verstärkten Einsatz von Wärme­pumpen und ther­mi­scher Solar­energie für das Heizen von Wohnungen und Büros sowie eine sprung­hafte Stei­ge­rung der Ener­gie­ef­fi­zienz. Das Problem ist: Um Putin zu stoppen, müssen wir ihm sofort die finan­zi­ellen Ressourcen für seine Kriegs­ma­schine entziehen. Die Ukraine kann nicht warten, bis wir das russische Öl und Gas schmerz­frei durch alter­na­tive Ener­gie­träger ersetzt haben.

Wenn wir aus guten Gründen vermeiden wollen, in eine direkte mili­tä­ri­sche Konfron­ta­tion mit Russland zu geraten, bleiben uns zwei Mittel, den Abwehr­kampf der Ukraine zu unter­stützen. Wir müssen ihr die effek­tivsten Waffen­sys­teme liefern und Putin den Geldhahn zudrehen. Jeder Tag, an dem wir zögern und zaudern, wird mit Blut und Tränen der Ukrainer bezahlt.

Die Einnahmen aus dem Ölexport sind der größte Posten in der russi­schen Handels­bi­lanz. Die konse­quen­teste Antwort scheint deshalb ein Import­stopp für russi­sches Erdöl. Die ausfal­lenden Liefe­rungen müssten durch verstärkte Importe aus den OPEC-Ländern ersetzt werden. Aller­dings könnte auch der Kreml einen solchen Schritt vermut­lich verschmerzen. Wenn arabi­sches Öl verstärkt nach Europa fließt, kann russi­sches Öl die entste­henden Lücken füllen, sofern das Land nicht komplett vom inter­na­tio­nalen Zahlungs­ver­kehr isoliert wird. Anders beim Gas: Ein Ausfall des euro­päi­schen Marktes wäre für Russland nicht kurz­fristig zu kompen­sieren. Deshalb liegt hier die finan­zi­elle Achil­les­ferse des Regimes. Aller­dings sind die Kosten für ein Gas-Embargo auch für die EU höher. Russland dominiert den welt­weiten Gasmarkt. Die aktuelle Nachfrage über­steigt das Angebot, Erdgas-Importe lassen sich kurz­fristig nur begrenzt diver­si­fi­zieren. Auch Flüs­siggas (LNG) ist knapp und teuer.

Russi­sches Erdgas deckt den aktuellen Bedarf der EU zu gut 40 Prozent. Sollten wir komplett aussteigen, bliebe nach Ausschöp­fung aller kurz­fristig verfüg­baren Alter­na­tiven im kommenden Winter­halb­jahr eine Lücke von 15 bis 20 Prozent. Sie würde vor allem die Industrie treffen, insbe­son­dere die Grund­stoff-Chemie. Der Strom­sektor ist das geringste Problem. Notfalls können Gaskraft­werke vorüber­ge­hend durch Kohle und Atomstrom ersetzt werden. Der größte Gasschlu­cker sind Wohnungen und Büro­ge­bäude. Hier würde bereits eine Senkung der Tempe­ra­turen um 2 Grad erheb­liche Mengen einsparen. Niemand müsste deshalb kalte Füße bekommen. Ener­gie­sparen hilft uns aus der Klemme.

Wahr ist auch: Ein Gas- und Ölboykott gegen Russland würde die Ener­gie­preise weiter hoch­treiben. Steigende Ener­gie­kosten sind bereits heute ein Armuts­ri­siko für Gering­ver­diener und ein Wett­be­werbs­nach­teil für ener­gie­in­ten­sive Unter­nehmen. Der Staat müsste für einen sozialen Ausgleich sorgen und die Betriebe entlasten, um ihnen Zeit für die Umstel­lung auf alter­na­tive Ener­gie­träger und effi­zi­en­tere Verfahren zu geben.

Gemessen an der ukrai­ni­schen Tragödie und der Bedrohung der euro­päi­schen Frie­dens­ord­nung durch Putin erscheinen diese Probleme aller­dings in einem anderen Licht. Sie zu bewäl­tigen wäre weniger aufrei­bend als die Kraft­an­stren­gung, die Covid-19 gefordert hat. Das gilt für den Bundes­haus­halt wie für die Bürger­ge­sell­schaft. Am Ende wäre der Preis, den wir zahlen müssen, um Putin hier und jetzt die Finanz­mittel für seine Kriegs­po­litik zu entziehen, sehr viel geringer als die Kosten einer künftigen Konfron­ta­tion mit einem neo-impe­rialen Russland.

Falls die deutsche und euro­päi­sche Politik noch vor einer kompletten Unter­bre­chung der Gasim­porte aus Russland zurück­scheut, sollten wir zumindest Nord Stream 1 abstellen. Das würde rund ein Drittel der russi­schen Gasim­porte in die EU treffen und wäre ohne große Frik­tionen zu bewäl­tigen. Dennoch wäre es ein starkes Signal an den Kreml, dass die Europäer es ernst meinen. Gazprom müsste dann seine verblei­benden Exporte in die EU durch das konti­nen­tale Pipeline-Netz schicken, einen Großteil durch die Ukraine. Das wäre die beste Rück­ver­si­che­rung gegen eine Zerstö­rung der ukrai­ni­schen Gas-Infra­struktur durch das russische Militär.

So oder so müssen wir jetzt rasch handeln, um noch mehr Leid und Zerstö­rung zu verhin­dern. Putin speku­liert darauf, dass die euro­päi­schen Demo­kra­tien nicht bereit sind, einen spürbaren Preis für die Vertei­di­gung von Recht und Freiheit zu zahlen. Damit darf er nicht durch­kommen. Der Preis könnte sonst sehr viel höher werden.

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