Gefährliche Zeiten – die USA brauchen die Rückendeckung der EU
Wo stehen die USA und ihre multilateralen Bündnisse nach zwei Jahren unter Biden – und welche Gefahren drohten bei einer erneuten Amtszeit Trumps? Cathryn Clüver zieht im Interview Bilanz.
Das Interview führte Alexander Görlach für LibMod.
Nach den Jahren der Trump-Präsidentschaft ist der Biden-Administration daran gelegen, die USA wieder als verlässlichen Partner und Anführer der freien Welt zu präsentieren. Neue Handelsabkommen in Asien dienen als Gegenangebot zu den Avancen, die das autoritäre China den Ländern in der Region macht. Hinzu kommt die Selbstverpflichtung, dem demokratischen Taiwan im Falle eines Angriffs durch die Volksrepublik beizustehen und der Wunsch, gemeinsam mit den Partnern eine “Liga der Demokratien” zu formen. Wie bewerten Sie diese Ankündigungen bisher?
Die Ankündigungen setzen wichtige Zeichen, sind aber in der Substanz nicht unproblematisch. Die Definition von „Demokratie“ fällt nicht nur den Amerikanern im eigenen Kontext zurzeit schwer. Auch ist unklar, welche Messlatte zur Bestimmung der Demokratiefestigkeit an Partner in Indo- und Asiatisch-Pazifischen Raum gelegt werden soll – allein die Einladungen für den „Demokratie-Gipfel“ im Frühjahr waren daher schwierig. Unter Premierminister Modi stehen demokratische Werte in Indien auf dem Prüfstein. Dennoch bleibt Indien ein sowohl von China und Russland einerseits und von den USA und westlichen Verbündeten andererseits diplomatisch hart umkämpftes Land, denn wirtschaftlich und geopolitisch ist Indien das Schlüsselland im Indo-Pazifischen Raum. In einer Zeit, in der sich die eigene Demokratie nicht gerade als Vorbild eignet, will die Biden-Regierung den internationalen Demokratiebegriff neu denken, so dass dieser die geopolitischen Ziele miteinbezieht. Was moralisch nicht unproblematisch ist – und womöglich deshalb auch (noch) nicht so wirksam.
Wie bewerten Sie die Schritte, die die Biden-Administration konkret in den letzten Monaten im indo-pazifischen Raum unternommen hat?
Das Indo-Pazifische Wirtschaftsrahmenabkommen darf innenpolitisch nicht als Freihandelsabkommen bezeichnet werden, so politisch untragbar sind solche Vereinbarungen inzwischen geworden. Die mögliche wirtschaftliche Schlagkraft des einst von Obama geplanten Transpazifischen Handelsabkommen (TPP) wird es allein wegen dieser eingeschränkten Form und des kleineren Umfangs nicht entfalten können – währenddessen verhandelt China gerade intensiv über eine Aufnahme im CPTPP, dem TPP Nachfolger. Die USA müssen daher mit allen Akteuren in der Region und solchen, die auf die Region einwirken können, weiterhin in Einzelverhandlungen ihre (?) Interessen vorantreiben. Taiwan darf von seinen westlichen Verbündeten nicht aufgegeben werden, wird aber zum Prüfstein für Amerikas Weltmacht-Mythologie, daher muss der diplomatische Schulterschluss mit einem in dieser Frage durchaus zögerlichen Europa immer wieder gesucht werden.
Die USA brauchen also Rückendeckung: Neben dem strategischen Austausch innerhalb des Quadrilateralen Sicherheitsdialogs (QUAD) und den Plänen zur Wirtschaftskooperation erhofft sich die Regierung Biden mehr von den Europäern. Von der schleichenden Umsetzung der Indo-Pazifik-Strategie bis hin zu dem neuen EU‑U.S.-China Dialog – der seit dem Frühjahr mit sechs Arbeitsgruppen aufwartet – soll die Region im besten Fall gemeinsam in die diplomatische Klammer genommen werden, um Chinas Übergriffigkeit zurückzudrängen und westliche Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen in der Region zu gewährleisten. Aber gerade die ehemaligen Mitglieder des ehemaligen Non-Aligned-Movement schauen sehr genau auf die Versprechen der Amerikaner – und eben auch auf die Verfasstheit des Landes, denn die USA haben in den letzten 10 Jahren, in denen sie selbst an ihrer eigenen Demokratie Raubbau betreiben, deutlich an Strahlkraft eingebüßt. Es entsteht ein Abwägen zwischen dem wirtschaftlich regional übermächtigen China und den sicherheits- und wirtschaftlichen Versprechen der Amerikaner auf der anderen Seite. Auf wen können und sollten diese Länder mittel- und langfristig zählen?
Auch in Richtung Europa hat sich nicht nur der Ton geändert: Die von Russland angegriffene Ukraine erhält Unterstützung in Höhe von 40 Milliarden Dollar, US-Truppen werden an die Ostgrenze der NATO verlegt. Donald Trump wollte noch aus der Militärallianz aussteigen, Barack Obama sprach vom “Drehpunkt Richtung Asien”. Möchte die Biden-Administration das von Donald Rumsfeld als „Alte Welt” geschmähte Europa wieder näher an die USA binden?
Auch wenn ein Zwei-Fronten-Szenario nicht mehr zur offiziellen Strategie gehört, muss diese Regierung beweisen, dass sie (mindestens) zwei außenpolitische Krisen gleichzeitig bewältigen kann. Das Biden-Team hat daher einen integrierten, diplomatischen Ansatz gewählt. Ohne die Rückendeckung eines starken transatlantischen Bündnisses, in dem die Europäer nun auch bereit sind – zumindest sagen sie das – deutlich mehr Eigenverantwortung im Sinne der Verteidigungsausgaben und Kapazitätsgestaltung zu übernehmen, gestaltet sich der Systemwettkampf eben nur als primitives Ringen der Großmächte. Daher auch die eher ideologisch geprägte Sichtweise der „Demokratien versus Autokratien.“
Präsident Biden hat zu seinem Amtseintritt eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe versprochen, diese aber dann selbst durch die Entscheidungen zur Beendigung des Afghanistan-Einsatzes und der Durchsetzung der AUKUS Verbindung in Frage gestellt. Mit dem ganzheitlichen Engagement – militärisch, diplomatisch, finanziell – in der Ukraine verfolgt diese Regierung nun drei Kerninteressen: Die Stärkung der transatlantischen Beziehungen an sich, die Symbolpolitik der widerstandsfähigen Demokratien gegen den direkten Angriff einer Autokratie, von der eine Signalwirkung an China ausgehen soll, und ein klares Bekenntnis zur Ukraine, die unter Donald Trump zum Spielball mit Russland geworden war. Nun dürfen die Europäer aber nicht bequem werden: Denn angesichts einer möglichen Republikanischen Präsidentschaft 2024 – Trump oder nicht – könnten diese Verpflichtungen wieder in Frage gestellt werden, da nun auch China den Konflikt in der eigenen Region aktiv zuspitzt – und ihn auch in der Arktis zu suchen scheint.
Gerade die EU – aber auch die europäischen Verbündeten in der NATO – müssen daher aktuell, sowie auch kurz- und mittelfristig alles daransetzen, ihre eigenen Kapazitäten voll einsatzfähig zu machen, um die eigene Nachbarschaft verteidigen zu können. Besonders wichtig ist es in diesem Zusammenhang, die ganze Tragweite möglicher Konflikte vernetzt zu denken. Die strategischen Planungskapazitäten in der EU müssen – wie geplant – deutlich verstärkt werden. Denn nicht erst der Krieg gegen die Ukraine hat bewiesen, wie bedrohlich hybride Konflikte für die Verfasstheit unseres Wirtschaftssystems und unseren sozialen Zusammenhalt sein können.
Das Militär- und Geheimdienstbündnis, das die USA mit Kanada und Großbritannien verbindet, wurde im vergangen Jahr um Australien erweitert — unter dem Eindruck einer wachsenden Bedrohung durch das aggressive China. AUKUS ist dabei nur eine der Initiativen, die die Vermutung nahelegen, dass man sich in Washington auf eine Konfrontation mit der Volksrepublik vorbereitet. Außenminister Blinken hat beispielsweise den Philippen Verteidigungshilfe zugesagt, sollte Peking das Land attackieren. Können die USA China effektiv noch etwas entgegensetzen oder verhebt man sich im Weißen Haus gründlich?
Die Volksrepublik China hat militärisch in den letzten Jahren enorm nachgerüstet. Auch das neue „Vertrauensverhältnis“ mit Russland, einerseits zementiert durch die Freundschaftsakte vom 7. Februar, andererseits durch das faktische Vassallenverhältnis, in das sich Russland angesichts der westlichen Sanktionen begeben hat, wird China gerade im militärischen Bereich Aufwind bereiten: Die Russen haben Militärtechnologie zugesagt. Andererseits werden die beiden Großmächte alles daransetzen, eine direkte, militärische Konfrontation zu verhindern. Gefährlich bleibt die Situation weiter, denn mit erweiterten Militärübungen der Chinesen – kürzlich auch unter der Beteiligung Indiens – und mit der Verschiebung militärischen Geräts auf Seiten der Amerikaner – Flugzeugträgern und Waffensystemen – steigt die Gefahr eines Unfalls mit zerstörerischen Folgen, bei dem sich zwei nukleare Mächte gegenüberstünden. In einem direkten Konflikt mit China könnte die USA sehr wohl schlagkräftig agieren, aber China wäre ein enormer Gegner, der mit Angriffen auf das amerikanische Festland die USA schockieren würden. Das ganze Szenario wäre in seiner Zerstörungskraft undenkbar. Daher sind die wirtschaftlichen Verflechtungen und Verpflichtungen auf beiden Seiten bis dato noch eine der besten Versicherungspolicen.
Der Wettlauf um die Kontrolle wirtschaftlicher Ressourcen – besonders um Rohmaterialien – und um Einfluss in der Region wird sich jedoch deutlich verschärfen. Mit der strategischen Vertiefung und Institutionalisierung des QUAD verfolgen die Amerikaner den Ausbau der Sicherheit von See- und Handelswegen und der Verteidigungsbereitschaft dieser vier Pazifischen Mächte. Unabhängig voneinander bereiten sich die drei Partner im Bündnis auf ein aggressiveres China vor. Japan und Australien sind den USA und anderen westlichen Partnern auch in die Auferlegung und Umsetzung der sechs Sanktionspakete gegen Russland gefolgt und achten akribisch auf Chinas Russland-Politik, um bereits auch hier Sekundär-Sanktionen voll wirken zu lassen.
Im Moment ist viel davon zu lesen, dass die USA eine absteigende, China hingegen eine aufsteigende Macht sei. Andere wiederum sagen, dass beide Länder ihren ökonomischen Zenit überschritten haben und sich nun gegenseitig im Abwärtsstrudel bekämpfen. Ist eine dieser beiden Sichtweisen Ihrer Meinung nach richtig, oder vielleicht eine dritte, bislang nicht im Fokus stehende Perspektive?
Hierauf kann es angesichts der heutigen Dynamik und den unerwarteten Verschiebungen durch äußere Umstände, wie wir sie gerade inmitten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine erleben, keine eindeutige Antwort geben. Wer das behauptet, kann hellsehen. Die Pandemie, die Energiekrise und Ansätze zu Deglobalisierung oder Regionalisierung der Globalisierung haben zu viel in Bewegung gebracht, um jetzt schon abschätzen zu können, wie sich einzelne Volkswirtschaften langfristig entwickeln. Aber diese Regierung will den wirtschaftlichen Umbau positiv gestalten, Änderungen im Sozialsystem ermöglichen, um die amerikanische Innovationskraft voll entfalten zu können. Umgekehrt ist zu erwarten, dass der chinesische Staatspräsident beim Parteikongress im Oktober dieses Jahres eine Verstärkung der staatlichen Kontrolle über diverse Rohstoff- und Wirtschaftsbereiche verkünden wird. Die Pandemie hat auch Chinas Wachstum schrumpfen lassen. Wie sich neue Auflagen und die starken Eingriffe um die Pandemie herum längerfristig auf Wachstumszahlen auswirken, werden wir abwarten müssen.
Aber: Schon im letzten Jahr blieb die Lebenserwartung – ein häufig genutzter Indikator, um die wirtschaftlich-demographische Stärke einer Volkswirtschaft zu analysieren – der Amerikaner erstmals hinter der der Chinesen zurück. Auch das ist Ausdruck der unterschiedlichen Systemarchitektur: Wenn in den USA dieser Abfall eine statistische Folge der COVID-Pandemie ist, ist auch die chinesische Zahl mit den strengen Maßnahmen gegen die Pandemie zu begründen. Welches Modell – das staatsinterventionistische oder das (noch) freiheitlich demokratische – wird die Innovationskraft entfalten können, um sowohl Rohstoffe, Fertigung aber auch Talente an sich zu binden? Bislang war letzteres der Vorteil der Amerikaner: Der „American Dream“ hat trotz innenpolitischer Probleme nie langfristig an Anziehungskraft verloren. Die starke Ausrichtung auf Technologie und Wissenschaft, die Verbindung beider Bereiche mit dem Verteidigungssektor, das verfügbare Risikokapital und eine generelle Innovationsbereitschaft – all das hat lange Jahre dafür gesorgt, dass sich die Amerikaner gerade im nun essenziell werdenden Technologiebereich immer wieder vom Rest der Welt haben absetzen können. Kernfrage muss also sein: Wird den USA der innenpolitisch-wirtschaftliche Umbauprozess gelingen und werden sie gerade in den multilateralen Fragen um Rohstoff- und Ressourcenverteilung eine positive Rolle einnehmen können – denn viele Verteilungsfragen werden sich nur durch neue, institutionelle Strukturen lösen lassen, in jedem Fall aber gemeinschaftlich – oder wird der nächste Präsident auf die Isolation Amerikas setzen?
Wie nachhaltig kann die Biden-Administration in Sachen Außen- und Sicherheitspolitik arbeiten, wenn zu befürchten steht, dass 2024 vielleicht Donald Trump wieder ins Weiße Haus zurückkehrt? Was würde ein solches “Second Coming” für die USA und die Welt bedeuten?
Außenpolitik ist immer Sache der Exekutive, selbst wenn es hilft, große Leitlinien vom Kongress tragen zu lassen und gesetzlich zu verankern. Aber das gelingt schon seit Jahren nicht mehr. Daher ist die Biden-Regierung in den ersten zwei Jahren unabhängig von den aktuellen Krisen damit beschäftigt gewesen, das „Vermächtnis“ der Trump-Jahre zu korrigieren: Die Verhandlungen zum Nuklearabkommen mit dem Iran, den Wiedereintritt ins Pariser Klimaabkommen, der politische Ausgleich mit den Europäern und ein Aus- und Umbau der Handelsbeziehungen mit verschiedenen Teilen der Welt. Je nach Ausgang der Zwischenwahlen im November will diese Regierung außenpolitische Errungenschaften auch mit Gesetzen unterstützen, um deren langfristige Wirkung zu gewährleisten, so z.B. in Teilen des „Build Back Better World“-Plans, der durch die Anbindung an die Europäische Gateway Strategie der chinesischen Belt-and-Road Initiative Einhalt gebieten soll.
Aber die Zeit drängt, oder?
Für diese Regierung gilt es nun, die Errungenschaften der letzten zwei Jahre in trockene Tücher zu bringen und vor einer möglichen, zweiten Amtszeit Trump zu schützen. Dazu gehören wichtige Initiativen des EU‑U.S. Technologie- und Handelsrats, inklusive das Aushandeln einer möglichen Einigung über den Handel mit den so wichtigen Halbleitern. Aus den Memoiren seiner Generäle wissen wir, dass Donald Trump für eine zweite Amtszeit den Ausstieg aus der NATO plante, daher ist der Biden-Regierung wichtig, die NATO von innen zu stärken. Aber auch hier deutet sich bereits an, was passieren könnte, wenn die Republikaner wieder die Macht übernehmen: MAGA-Stimmen sprachen sich z.B. gegen die Institutionalisierung eines Demokratie-Zentrums bei der NATO aus, wenngleich schon die Präambel des Washingtoner Vertrags vorsieht, dass alle Mitglieder Demokratien sein müssen. Die Fortsetzung des Ukraine-Einsatzes wäre unter einer erneuten Trump Präsidentschaft undenkbar: Er allein hatte die Ukraine zum innenpolitischen Spielball gemacht, um seinen politischen Widersacher Biden zu diskreditieren – das war der Bestandteil des ersten Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsident Trump. Die Außenpolitik einer erneuten Trump-Regierung – aber auch die eines Trumpschen Kandidaten wie Ron DeSantis – wäre isolationistisch geprägt und würde die westliche Koalition gegen autoritäre Staaten aufweichen. Pax Americana würde sich endgültig und deutlich schneller verflüchtigen. Ohne funktionale multilaterale Struktur, die dann internationales Recht walten lassen kann, steht die Weltordnung auf dem Spiel. Es kämen höchst volatile, gefährliche Zeiten auf uns zu.
Cathryn Clüver Ashbrook ist Expertin zu transatlantischer Außen- und Handelspolitik und Senior Advisor der Bertelsmann Stiftung mit dem Fokus internationale Beziehungen Europas. Sie leitet im Rahmen der Stiftung u.a. das Deutsch-Amerikanische Zukunftsforum.
Die deutsch-amerikanische Politologin publiziert und kommentiert in internationalen Medien wie der New York Times und der Washington Post sowie in deutschen Leitmedien zu den transatlantischen Beziehungen.
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