Amerikas Demokratie wankt
An der Schicksalsentscheidung Biden gegen Trump beteiligte sich eine Rekordzahl an Wählern. Doch viele in der tief gespaltenen US-Gesellschaft erkennen das Ergebnis und die demokratischen Grundregeln nicht mehr an. Droht das auch in Europa?
Die Präsidentschaftswahl in den USA, das Megaereignis für Demokraten der ganzen Welt mitten in Corona, endete mit einem Patt. Wie 2016 war das Rennen äußerst eng. Viele Politiker, Beobachter und Medien auch hierzulande haben Donald Trump erneut sträflich unterschätzt. Aus dem von ihnen erhofften Erdrutschsieg Joe Bidens wurde ein verbissen umkämpfter, längst noch nicht feststehender Erfolg. Trotz Trumps chaotischem, menschenverachtenden Umgang mit der Pandemie, der großen Zahl an Toten, folgender Wirtschaftskrise und hoher Arbeitslosigkeit; trotz seiner brutalen Reaktion auf die Antirassismus-Proteste nach dem Tod von George Floyd; und trotz oder gerade wegen seines bizarren Auftretens konnte er wieder fast die Hälfte der Wähler hinter sich vereinen. Mehr Amerikaner haben ihn in absoluten Zahlen gewählt als 2016: mehr weiße Frauen, mehr Latinos und sogar mehr (wenn auch wenige) Schwarze.
Ausschlaggebend dürften drei Faktoren gewesen sein:
- Trump hat, was in Europa oft übersehen wird, in den Augen seiner Anhänger geliefert: Wieweit „Amerika first“, seine protektionistische Handelspolitik und Steuersenkungen für Unternehmen und Reiche die US-Wirtschaft gestärkt haben, ist umstritten– für seine Wähler hat er damit bis zum Ausbruch der Coronakrise Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Er hat die Einwanderung reduziert, auch wenn er die Mauer zu Mexiko nicht gebaut hat. Er hat das Pariser Klimaabkommen aufgekündigt und Soldaten aus Kriegsgebieten zurückgeholt. Und er hat verunsicherten Amerikanern wieder Selbstbewusstsein gegeben. Sein rücksichtsloser Populismus und aggressiver, isolationistischer Nationalismus wirken weiter. Ungeistesverwandte in Europa und anderen Teilen der Welt wird das ermuntern: Ihre Zeit ist nicht vorbei.
- Biden begeisterte nicht genug Unentschlossene, um die Bürger wieder einen zu können. Er sollte der Kontrast zu Trump sein, ein Mann des Ausgleichs. Doch gegen einen im Schlussspurt des Wahlkampfs nach kurzer Covid-Erkrankung kraftstrotzenden Amtsinhaber wirkte er ausgelaugt. Programmatisch blieb er schwammig, geschuldet dem Spagat zwischen den Lagern der Demokraten. Deren linke Anhänger unterstützten ihn ähnlich wie Hillary Clinton vor vier Jahren nur halbherzig. Sie hätten sich seine Vizekandidatin Kamala Harris oder jemand anderes, jüngeres gewünscht, wie viele Amerikaner.
- Mit ihrem linken, stark auf Minderheiten zielenden Programm konnten die Demokraten nur einen Teil ihrer früheren Stammwähler, weiße Arbeiter vor allem im Rustbelt, dem einstigen Industriezentrum der USA, die sich abgehängt fühlen, zurückgewinnen. Trump lockte sie erneut mit dem Versprechen, Jobs zu schaffen. Und das bewegte die Mehrzahl der Wähler offenkundig mehr als alles andere, mehr als Corona, Rassismus, Obamacare oder das Klima. Auch unter den Einwanderern aus Mittel- und Südamerika, der inzwischen größten Minderheit im Land. „It‘s the economy, stupid“, wusste schon Bill Clinton. Eine Lektion für SPD und Die Linke.
Der Trumpismus bleibt
Dass Trump sich schon in der Wahlnacht, als die Auszählung in etlichen Bundesstaaten noch lange nicht zu Ende war, dreist zum Sieger ausrief und ankündigte, das von ihm neu besetzte Oberste Gericht anzurufen, um die Auszählung von Millionen Briefwahlstimmen zugunsten Bidens zu stoppen, und Neuauszählungen in einigen Bundesstaaten und Regionen zu erreichen, war nicht anders zu erwarten. Er hat immer klar gemacht, dass ihn demokratische Prozesse nicht scheren und er wie alle Autoritären nur ein Ergebnis anerkennt: seinen Sieg. Da mögen alle anderen noch so schäumen.
Auch wenn Biden sich am Ende durchsetzen sollte, der Supreme Court und andere Gerichte nicht intervenieren und Trump das Weiße Haus verlässt, ohne bürgerkriegsähnliche Zustände zu provozieren, wird das Land polarisiert bleiben. Trump wird weiter an der Legende stricken, dass ihm, dem Mann des Volkes, der Wahlsieg gestohlen wurde. Seine Fans in der republikanischen Partei und ihre Abgeordnete werden ihm darin folgen. Sie werden Bidens Präsidentschaft von Anfang an delegitimieren und ihm mit ihrer Mehrheit im Senat, die sie wahrscheinlich behalten, das Leben so schwer machen, wie sie nur können. Der neue Präsident wird deshalb vermutlich nur wenig bewegen können – neues Futter für Trump und die Trumpisten.
Der Grundkonsens bricht weg
Das ist das schlimmste Alarmzeichen der Wahl: Zwischen den verfeindeten politischen Lagern gibt es keine Verständigung mehr. Nicht einmal darüber, die Grundlage der Demokratie zu respektieren: die Legitimität von Wahlen. Dass jede Stimme gleich zählt und gezählt werden muss. Dass niemand sich selbst zum Sieger erklären darf wie Diktator Lukaschenko in Belarus. Und dass der unterlegene Kandidat, die unterlegene Partei die Niederlage eingesteht, sofern sie ordnungsgemäß festgestellt ist – in der Hoffnung, beim nächsten Mal zu gewinnen.
In den USA gilt das schon lange nicht mehr. Schon die Wahl 2000 entschied auf höchst fragwürdige Weise das Oberste Gericht, indem es die endlosen Nachzählungen in Florida abbrach und George W. Bush so zum hauchdünnen Sieger über Al Gore machte. Der rettete die Wahl und die Demokratie, indem er dies anerkannte. Biden dagegen hat ebenfalls ein Heer von Anwälten engagiert, um bis zum Äußersten vor Gericht um seinen Wahlsieg zu kämpfen. In den Augen eines beträchtlichen Teils seiner Anhänger war Trump ein illegitimer Präsident, egal wie die Wahl ausfiel.
Die Feindschaft der politischen Lager spiegelt die Zerrissenheit der amerikanischen Gesellschaft, die abgrundtiefen Konflikte zwischen Arm und Reich; Weißen, Schwarzen, Latinos und andere Minderheiten; Stadt und Land, Küstenbewohnern und die des riesigen Landes dazwischen mit ihren völlig unterschiedlichen Lebensstilen und kulturellen Vorstellungen. Die amerikanische Demokratie, Vorbild für die Welt, ist nicht am Ende. Das zeigt die hohe Wahlbeteiligung. Aber eine
Verständigung über gemeinsame Ziele, ein Ausgleich von Interessen und Wünschen, wird immer schwieriger. Deshalb werden Wahlen zu Schlachten, die mit allen Mitteln, auch unsaubersten ausgefochten werden. Bis zum bitteren Ende. Oder ohne.
Auch bei uns fragmentiert die Gesellschaft. Das Vertrauen in das politische System und die Regierenden ist im Vergleich zu den USA noch ziemlich hoch, in der Pandemie ist es zeitweise sogar gewachsen. Doch die Warnzeichen sind auch hierzulande nicht zu übersehen. Die AfD konnte nur deshalb so stark werden, weil eine beachtliche Minderheit in Ost wie West der liberalen Demokratie grundsätzlich misstraut und sich nicht mehr repräsentiert fühlt. Mehr noch: Selbst ein Konsens über Grundfakten ist mit Rechtspopulisten und Verschwörungsfanatikern nicht mehr möglich, wie die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen zeigen. Auch auf der linken Seite gibt es manche, die demokratische Prozesse für obsolet halten, wenn es um den Schutz des Klimas, des globalen Überlebens und von Minderheiten geht.
Wie beim Virus können Einzelne, kann eine Minderheit die Mehrheit infizieren. Kein Wunder daher, dass die AfD über Trumps „Erfolg“ frohlockt. Und Sloweniens rechtsnationaler Ministerpräsident Janez Jansa ihm voreilig gratulierte. Der Populismus-Erreger soll sich weiterverbreiten. Auch in Europa.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.