Grün-Schwarz ist das neue Schwarz-Grün

Foto: Shutter­stock, photocosmos1

Die CDU hat keinen Plan für sich und das Land und ist zerrissen. Armin Laschet kann keine klaren Signale in die Mitte senden, die sich längst den Grünen zuwendet. Als deren Junior­partner kann der Union die Erneuerung eher gelingen als als Kanzler­partei oder gar in der Opposition, meint unser Autor Markus Schubert.

An einem heißen Samstag­mittag im September 2009 blinzele ich auf einer Kaffeehaus-Terrasse sitzend in den Sonnen­strahl, der sich in der gotischen Spitze des höchsten Kirch­turms der Welt bricht. Die Frau am Tisch hat mir eben einen Job im Führungsteam ihres Bundes­mi­nis­te­riums angeboten. Meine Skepsis angesichts der zu Ende gehenden Perfor­mance des Kabinetts Merkel I ist offenbar mit Händen zu greifen, denn schließlich greift sie zu einem schla­genden Argument: „Ab Montag regieren wir mit den Grünen, dann ist alles anders. Dann geht es nicht mehr um Vergan­gen­heits­ver­län­gerung, sondern um Zukunftsgestaltung.“

Bekanntlich kam es anders. Nicht nur dass ich ein paar Tage später freundlich absagte, die bürger­lichen Wähler stärkten auch die FDP so deutlich zu Lasten der Union, dass Schwarz-Gelb unaus­weichlich war. Diese Koalition endete 2013 mit dem auf der CDU-Wahlparty frene­tisch gefei­erten Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag, aber eben auch mit der Rückkehr der Union in die Große Koalition, auch weil die Grünen das machtlose Zuschauen noch nicht satthatten. Anders als vier Jahre später, als aber die FDP vor der Verant­wortung zurück­schreckte. Angeblich auch, weil die CDU in den Verhand­lungen den Grünen bereits näher stand als den Liberalen, was vermutlich stimmt.

Nun war immer klar, schon aufgrund der demogra­phi­schen Dynamik, dass das Fenster für Schwarz-Grüne Koali­tionen sich zwar schon in den frühen 90ern geöffnet hatte – mit geplatzten Sondie­rungen in Baden-Württemberg (1992 und 2006),  mit einer am Ende von Konser­va­tiven sabotierten Koalition in Hamburg, einer erfolg­rei­cheren Wieder­auflage in Hessen und in diversen 3er-Bündnissen (Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Sachsen) – dass es sich aber auch zu schließen begann, weil in etlichen Bundes­ländern (Baden-Württemberg aber auch Berlin und Hamburg) und nun eben auch im Bund, die Grünen schon vor die CDU schieben. Die Alter­native ist dann – und in Baden-Württemberg nicht nur rechne­risch sondern zum zweiten Mal auch politisch – eine von den Grünen angeführte Koalition mit der CDU. Ergo: Grün-Schwarz ist das neue Schwarz-Grün.

Wie konnte die CDU diese Entwicklung zulassen? Nun, das perma­nente aggior­na­mento einer christlich-demokra­ti­schen Partei an das was Polemiker „Zeitgeist“ nennen und in Wahrheit „Werte­wandel“ ist, hat für die CDU nur die Kanzlerin und langjährige Bundes­vor­sit­zende absol­viert, sich dabei oft eher auf andere politische Kräfte in Bundes­re­gierung, Bundestag und Bundesrat stützend als auf die eigene Partei und ihre mühsame program­ma­tische Erneuerung. Das gilt für ihr Wirken in der Flücht­lings­krise ebenso wie zuvor bei der Rettung des Euro und des Zusam­men­halts in der EU, beim Klima­schutz und zuletzt in der Pandemie.

Sichtbar geworden ist diese Kluft mehr und mehr in der ausge­henden Kanzler­schaft, als die CDU die Kanzlerin zum Aufgeben des Partei­vor­sitzes nötigte und diese sich natur­gemäß noch weniger um den Kurs der CDU kümmerte, während die beiden Nachfolger nicht die Macht­basis hatten, um die CDU beherzt zu führen und zu formen. Zudem wurde gleich zwei Mal augen­fällig, wie breit der Rückhalt in der Partei für einen aus der Zeit gefal­lenen Mann wie Friedrich Merz noch ist.

Die fatale Sehnsucht nach Polarisierung

Bei der Abstimmung über den neuen CDU-Vorsit­zenden ging es Anfang des Jahres (wie schon bei der Wahl AKK vs. Merz) auch um zwei gegen­läufige Auffas­sungen von der Rolle der CDU im Partei­en­system.  Spoiler: Eine führt erkennbar ins Verderben.

Angela Merkel hat die CDU als dominante Anker­partei in der politi­schen Mitte forma­tiert, gegen die bei Ausschluss von Extrem­par­teien nicht regiert werden kann, die ihrer­seits aber möglichst mehrere Koali­ti­ons­op­tionen im Vielpar­tei­en­system hat. Außerdem soll die Union nie polari­sieren, um dem politi­schen Konkur­renten nicht die Mobili­sierung von schlum­mernden Wähler­po­ten­tialen zu ermöglichen.

Somit tritt die CDU weniger profi­liert auf, setzt über 16 Jahre hinweg aber mehr und nachhal­tiger Werte und Programme um, als wenn sie ihre temporäre Abwahl aus feder­füh­render Regie­rungs­ver­ant­wortung riskiert (wie 1998 – 2005).

Daraus haben manche aber ein ungutes CDU-Binnen­gefühl entwi­ckelt. Insbe­sondere gelernte Opposi­ti­ons­po­li­tiker, Dinner Speaker und Aufmerk­sam­keits­su­chende wie Merz. Sie setzen auf eine umfas­sende Mobili­sierung eines angeblich nicht abgeru­fenen CDU-Wähler­po­ten­tials, rekla­mieren dafür die Hälfte der bishe­rigen AfD-Wähler für sich – ergänzt um die FDP als ‚natür­lichen‘ Koali­ti­ons­partner. Und das gelinge durch eine stärkere Polari­sierung des Partei­en­systems, am besten durch einen scharf­kan­tigen und breit­bei­nigen Spitzenmann. Dagegen spricht vieles, wenn nicht alles.

Bezeich­nen­der­weise kam die stärkste Unter­stützung aus Landes­ver­bänden, die ihre eigene Wähler­basis bereits in strate­gisch bedeut­samem Ausmaß verspielt haben (Hamburg und Baden-Württemberg).

Bei den letzten Landtags­wahlen – in Thüringen und Hamburg – ergibt die Addition von CDU und FDP zzgl. 50 Prozent der AfD-Stimmen in Erfurt 38, 4 Prozent und mithin keine Mehrheit. In Hamburg – wo der Landes­verband personell und inhaltlich liberal aufge­stellt noch die Stadt führte – wären es auf diese Weise 18, 8 Prozent. (Der junge CDU-Landes­vor­sit­zende träumte übrigens von Merz und Schwarz-Gelb.) Noch nicht einmal einge­preist ist der absehbare weitere Verlust von Wählern in der politi­schen Mitte (zu den Grünen aber auch zurück zur SPD).

Das Merzsche Axiom führt also eher zum gegen­sei­tigen Einlullen in einer schrump­fenden politisch-kommu­ni­ka­tiven Blase aus der schmaler werdenden Mitglie­der­schaft, einer gleich­falls schmaler werdenden unbeirr­baren Stamm­wäh­ler­schaft und eines rechts­kon­ser­va­tiven bis rechts­extremen Clusters aus Abtrün­nigen, AfD-Vorfeld­ver­bänden, rechter Publi­zistik und Beobach­tungs­ob­jekten des Verfas­sungs­schutzes – im Netz auf Überle­bens­größe aufgeblasen.

Die Polari­sierung der Wähler­schaft verspricht (abgesehen vom Verlust des politi­schen Kompasses) keine Maximierung des CDU-Wähler­an­teils, es erhöht das Risiko einer Mobili­sierung und Mehrheits­bildung gegen die Union. Frisches Anschau­ungs­ma­terial bilden die Republi­kaner in den USA, die von der Tea Party bis Trump auf einer schiefe Ebene immer weiter Richtung rechter Rand des politi­schen Spektrums rutschten, auch die finale Mobili­sie­rungs­kon­kurrenz verloren und schließlich mit Faschisten und Schamanen mit Putsch- und Lynch­ge­lüsten auf den Fluren des Kongresses endeten.

Söder hat seine Lektion gelernt

Während Röttgen und Laschet erkennbar und erklär­ter­maßen Merkels Erfolgs­konzept fortsetzen wollen, hatte auch Markus Söder nach ausge­dehnten Ausflügen in den Populismus  („Ende des geord­neten Multi­la­te­ra­lismus“, Anti-Islam-Kampagne, Kruzifix-Folklore) die Lektion gelernt: „Wir wissen mittler­weile, dass viele Wähler der AfD vorher Nicht­wähler waren. Das sind Menschen, die sich schon vor Jahren von der Demokratie verab­schiedet haben – politische Geister­fahrer wie Reichs­bürger, die sich jetzt auf einem großen Parkplatz bei der AfD versammeln und glauben, eine neue Mehrheit zu sein. Diese durch rheto­rische Annäherung zurück­ge­winnen zu wollen, erscheint kaum möglich.“ Und weiter bekannte er in einem Interview mit der Augsburger Allge­meinen im Februar 2020: „Wir können keinen erfolg­reichen Wahlkampf führen, wenn wir grund­legend mit der Vergan­genheit brechen. 15 Jahre mit Angela Merkel als Kanzlerin waren eine sehr erfolg­reiche Regie­rungszeit für die Union und für Deutschland.“

Weil die CSU in dieser Hinsicht inter­es­san­ter­weise flexibler ist, und ihrem Vorsit­zenden erst nach rechts und jetzt genauso diszi­pli­niert wieder in die Mitte folgte, kann Armin Laschet (wie vor ihm Annegret Kramp-Karren­bauer) keine Signale in die von den Grünen mehr und mehr übernommene Mitte senden, ohne in Wider­spruch zu Partei­gremien, Partei­basis und medial präsenten Figuren wie Merz, Maaßen und ihren Followern von Amthor bis zur „Werte“-Union zu geraten. Der Versuch, diese Kräfte einzu­binden, sorgt für ein vollkommen verschwim­mendes Profil. Den Rollen­tausch Markus Söders als Exponent der liberalen Union, den Grünen zugewandt und entschlossen, das Merkel-Erbe zu bewahren, hat Laschet entweder noch gar nicht umrissen (und manche stramm konser­vative Söderianer in der CDU auch nicht) oder er kann ihn nicht parieren, weil Merz und Maaßen dies mit ihrer medialen Dauer­präsenz verhindern. Seinen Wider­sacher Merz hat sich Laschet als eine Art Antidot gegen die in der Partei grassie­rende Söder-Begeis­terung ins Team geholt, aber damit das Abstands­gebot gegen Rechts­po­pu­lismus missachtet. Mixed messages Tag für Tag sind damit programmiert.

Bleibt Laschet Kanzlerkandidat?

Mit jeder Woche, da die Grünen in Führung liegen und man sich an diese Balken­ver­schiebung in der Umfra­gen­grafik auch gewöhnt, wächst in der CDU die Panik. Söder und seine Unter­stützer werden ja die Nadel­stiche gegen Laschet weiter setzen, wissend dass es beacht­liche Unter­stützung für ihn vor allem unterhalb der obersten CDU-Führungs­ebene geübt. Und eben nicht nur von den Merzianern, sondern auch von Merke­lianern, durch Söder geschickt bedient.

Und dann gibt es da auch eine erheb­liche Unsau­berkeit in der Argumen­tation von Armin Laschet, die v.a. CDU-Delegierten des letzten Bundes­par­teitags aber natürlich auch der CSU aufstoßen muss: Laschet lässt immer wieder aufscheinen, dass seine Wähler auf dem Parteitag ihn implizit zum Kanzler­kan­di­daten bestimmt haben, weil er ja durch die Wahl zum Vorsit­zenden das Zugriffs­recht erworben hat, was das Partei­prä­sidium jetzt quasi nachträglich bestätigt hat. (Ins Negative gewendet verwen­deten seine Anhänger das Argument, dass der neue CDU-Vorsit­zende demon­tiert würde, wenn man ihm die Kanzler­kan­di­datur jetzt vorenthielte.)

Die Kehrseite der Argumen­tation wäre ja: Die CSU-Delegierten, die Söder zu ihrem Parteichef wählten, hätten damit praktisch zugleich für seinen Verbleib in Bayern gestimmt. Absurd. Aber auch für die CDU allein ist das Argument einfach falsch: Einen beacht­lichen Teil seiner Stimmen (zumal im 2. Wahlgang, als große Teile des Elektorats von Norbert Röttgen zu ihm wechselten) verdankt er der Tatsache, dass er die Kanzler­kan­di­datur – also die eigene oder eben eine von Markus Söder – bewusst offenließ, bzw. auf eine spätere einver­nehm­liche Lösung vertagte. Während Röttgen eine Kanzler­kan­di­datur Söders im Vorfeld sogar explizit für möglich hielt.

Bei Friedrich Merz war dagegen klar, dass er den Partei­vorsitz allein deshalb anstrebt, um Kanzler zu werden.  So dass Söder also nicht zum Zuge kommen würde. – Wen hätten Delegierte der CDU, die sich eine Kanzler­kan­di­datur Söders wünschten, also wählen können? Klar: Erst Röttgen, keines­falls Merz – und daher am Ende Laschet.

Die Debatte über die Unions-Kanzler­kan­di­datur wird noch wochenlang auf mal kleinerer, mal größerer Flamme weiter­gehen. Die CSU hat Laschet übrigens auch noch nicht zum Kanzler­kan­di­daten nominiert. Ein geord­netes Verfahren zur Nominierung existiert ohnehin nicht.

Söder hat dazu nach der Abstimmung im CDU-Bundes­vor­stand drei Zitate platziert, die er sich stilsicher eklek­ti­zis­tisch von Caesar, Angela Merkel und Paulchen Panther entlieh: „Die Würfel sind gefallen.“ – Diesen Satz benutzte Caesar, um die Auslösung des Bürger­kriegs zu begründen, der darüber entscheiden sollte, wer in Rom langfristig politisch das Sagen hat. „In der Ruhe liegt die Kraft.“ Soll heißen, Söder hat es nicht eilig, eine Entscheidung zu suchen, weil: – „Ich komm wieder, keine Frage“ – er am Ende ohnehin triumphiert.

Was hat Söder seit seinem takti­schen Rückzug gewonnen? Nun, Laschets Gegner und Söders Befür­worter in der CDU, im Vorstand, in der Bundes­tags­fraktion, in Landes­ver­bänden und an der vielbe­schwo­renen Basis haben sich – zum Teil öffentlich – bekannt. Söder hat jetzt ein definiertes Unter­stüt­zerfeld in der Schwes­ter­partei, er weiß, dass hinter manchen Laschet-Stimmen im Vorstand die gegen­läufige Stimmung im jewei­ligen Heimat­verband steht. Und Söder und Laschet wissen, dass der andere das weiß, und dass es alle wissen.

Die Meinung in der gemein­samen Bundes­tags­fraktion wurde – anders als von Söder gewünscht – nicht abgefragt. Weil der CDU-Vorstand in der Nacht unter Druck zur Abstimmung schritt, kann Söder leicht behaupten (lassen), dies sei aus Furcht vor einer abseh­baren Niederlage in der Fraktion geschehen. Dort schlummern auch weitere Eskala­ti­ons­po­ten­tiale. Söder weiß jetzt außerdem, dass er die bedin­gungslose Unter­stützung der CSU in Bayern und Berlin hat, selbst wenn er die Schwes­ter­partei in Existenznot stürzt.

Vielleicht wird das Thema erst nach einem äußeren Anlass wie einer Wahlnie­derlage in Sachsen-Anhalt im Juni (Haseloff war erklärter Söder-Befür­worter!) wieder öffentlich aufge­rufen. Laschets Leute werden dann vor Panik warnen und darauf verweisen, dass Programm und Wahlkampf­planung für September praktisch stehen und es einem Selbstmord gleichkäme, drei Monate vor der Wahl den Spitzen­kan­di­daten auszu­tau­schen. Söder und die CSU werden dann kühl darauf verweisen, dass der Schwer­punkt einer modernen Kampagne ohnehin in den wenigen Wochen nach der Sommer­pause bis zur Wahl liegt.

Bis dahin wird ihm aber niemand mehr schiere Machtgier unter­stellen können. Denn formal hat er ja seine Ansprüche – wie von der CDU nach ihrem Gremi­en­votum ultimativ verlangt – zurück­ge­zogen. Er hat – so hat er es danach gestreut – aus „Verant­wortung für die Union“ und ihre Geschlos­senheit entschieden, der „Verant­wortung für das Land“ nicht nachzu­kommen. Soll heißen: Die CDU wollte lieber mit dem eigenen Chef in die Niederlage gehen, als sich von einem CSU-Kanzler­kan­di­daten den Wahlsieg besorgen zu lassen. Ein Schlusswort klingt anders.

Wen oder was will Angela Merkel?

An dieser Stelle rufen manche nach der Kanzlerin. Hätte sie nicht einen Nachfolger aufbauen müssen? Oder im aktuellen Perso­nal­kampf Position beziehen? Das hätte sie, wenn überhaupt, in ihrer Rolle als Partei­vor­sit­zende tun können (und hat es ja getan mit der Berufung ihrer späteren Nachfol­gerin zur General­se­kre­tärin). Den Vorsitz aber hat man ihr ja entzogen. Sie hätte sonst auch das Verfahren zwischen CDU und CSU um die Kanzler­kan­di­datur energisch und selbstlos moderieren können.

Oder hätte sie recht­zeitig zurück­treten müssen, um Annegret Kramp-Karren­bauer oder eben Armin Laschet den Weg ins Kanzleramt zu ebnen? Die Antwort: Nein, konnte sie nicht. Die SPD hatte weder Interesse an Neuwahlen noch daran, dem nächsten CDU-Kanzler ins Amt zu verhelfen und einen unschätz­baren Start­vorteil für die Wahl 2021 zu verschaffen. Die FDP wäre vielleicht bereits gewesen, vor einem Jahr einen Kanzler Laschet ins Amt zu wählen – aber die Grünen? Wohl kaum. Sie haben höhere Ziele. Und um sie zu erreichen ist die vage Option auf die Führung einer Grün-rot-roten Koalition ein wichtiger Baustein.

Aber muss der Kanzlerin denn nicht daran gelegen sein, dass die CDU das Kanzleramt behält, anstatt es an die Grünen zu verlieren? Die Antwort ist ein vielschich­tiges Nein. Was konnte man beobachten? Zum einen hat nichts die Autorität des neuen CDU-Chefs so beschädigt wie Merkels TV-Kritik an Laschets Abwei­chungen von den Bund-Länder-Corona-Beschlüssen. Als wäre das nicht genug gewesen, ließ sie Laschets Vorschlag, die nächste Bund-Länder-Runde mit Kanzlerin und Ministerpräsident*innen vorzu­ziehen (für den „Brücken-Lockdown“) unkom­men­tiert, nur um die folgende reguläre Sitzung ebenfalls abzublasen und sich im Bundestag eine Mehrheit für die Bundes-Notbremse zu besorgen. Auf demüti­gendere Weise ist noch kein Kanzler­kan­didat ins Abseits gestellt worden. Nicht mal in der SPD.

Man könnte das als Partei­nahme für Söder inter­pre­tieren, zumal er sich ja permanent und mit Kutsch­fahrten und rheto­ri­scher Corona-Konse­quenz als Erbschleicher insze­niert. Aber auch mit ihm hätte sie ja eine lange Rechnung offen.

Das führt dann zu der Frage, die man stellen muss: Wofür sollte die Kanzlerin den Unions­par­teien überhaupt zu politi­schem Dank verpflichtet sein?

Für die Mäkelei an ihrem meist pro-europäi­schen Kurs? Dem Krakeelen nach einem Grexit? Der Ablehnung gesamt­eu­ro­päi­scher Schuldenaufnahme?

Für die zerset­zende Kritik an ihrem flücht­lings­po­li­ti­schen Kurs, der nicht nur hardcore-C-Politik war, sondern Europa ein natio­na­lis­ti­sches Zerbrechen mindestens des halben Balkans erspart hat?

Für Ultimaten, Briefe und Klage­dro­hungen der CSU dabei, für die Demütigung durch Horst Seehofer auf einem CSU-Parteitag, für den wirren Auftritt Söders in Berlin, bei dem er das „Ende des geord­neten Multi­la­te­ra­lismus‘“ ausrief? Für das Hochreden der AfD?

Für den von Jens Spahn herbei­ge­führten CDU-Partei­tags­be­schluss, der Merkels Position zur doppelten Staats­bür­ger­schaft verwarf und den feixenden Triumph, es der Vorsit­zenden mal gezeigt zu haben?

Für das Abräumen ihres loyalen Frakti­ons­vor­sit­zenden Kauder?

Für die zwei Mal nur äußerst knapp geschei­terte Wahl ihres Intim­feindes Merz zum Parteichef – und zwar genau wegen seines Profils des Merkel-Intim­feinds und der in Aussicht gestellten Rückab­wicklung der Moder­ni­sierung der CDU?

Für das Ausrufen eines „Jahrzehnts der Moder­ni­sierung“ durch den frisch gewählten CDU-Chef Laschet mit Blick auf die kommende Bundesregierung?

Viel schlüs­siger wäre, wenn die Kanzlerin wie eben schon 2009 auf die Moder­ni­sierung der Union mittels Provo­kation ihrer blass gewor­denen Program­matik durch die inzwi­schen weit mitti­geren Grünen als Koali­ti­ons­partner setzen würde. Dass sie Annalena Baerbock als charak­terlich wie fachlich geeignete Nachfol­gerin sehen wird, ist offen­kundig. Dabei wird sie sich nicht erwischen lassen, aber sicher in den Sommer­mo­naten für das wie zufällige Arran­gement eines vielsa­genden Blick­kontakt-Fotomotivs auf den Hinter­bänken des Bundes­tages sorgen. Merkels Feminismus ist nie ein dekla­ma­to­ri­scher und auch kein ideolo­gi­scher. Er ist effek­tiver. Einer­seits durch das globale Inspi­rieren von Frauen, die sehen, dass man die gläserne Decke bis an die Regie­rungs­spitze durch­brechen kann, anderer­seits durch diskretes Netzwerken und Ermög­lichen, und ja – siehe Laschet – auch mal durch brutales Ausbremsen von Ambitionen der Männer, die dem im Wege stehen.

Die CDU könnte in vier Jahren grün-schwarzer Regierung genau jene Moder­ni­sie­rungs­schritte nachholen, die sie bisher aus Bequem­lichkeit und Denkfaulheit nicht bereit war zu gehen. In der Opposition wäre sie dazu noch weniger in die Lage. Sie ist keine Programm­partei, sie ist eine Macht­ma­schine, aber eine, der im Moment die eigenen Achsen, Kolben und Federn um die Ohren fliegen. Nur eines ist sie deshalb aktuell nicht: Ein Kanzler­wahl­verein. Diese Kernkom­petenz ist ihr abhanden gekommen.

Wer dies für allzu abstrakte Fantasien hält, mag sich vertraut machen mit dem Hinweis des CDU-General­se­kretärs in Baden-Württemberg, Manuel Hagel, dessen Verband sich gerade in eine Neuauflage von Grün-Schwarz mit stark reduziertem Eigen­anteil gerettet hat. Der Stutt­garter Zeitung sagte der junge Mann, der nun Frakti­onschef wird und in dessen Wahlkreis hinein der höchste Kirchturm der Welt noch Schatten wirft, man wolle das Bündnis mit den Grünen nutzen, um „die Schritte, die uns schon vor zehn Jahren gut getan hätten, jetzt in einem Schwung nachzuholen.“

Grün-Schwarz ist aber kein Selbst­läufer und war es auch in Baden-Württemberg nicht. Für die Grünen bietet sich darin die Chance, die oben skizzierte Rolle der Merkel-CDU als Anker­partei der Mitte zu übernehmen. Die vermeintlich „natür­liche“ Koalition mit der SPD (ergänzt um Linke oder die FDP) bleibt dabei immer eine Option, was die Lage der Union in der Koalition nicht leichter macht. Und am Ende kann es wie 2009 eine starke Wähler­wan­derung von der Union zur FDP sein, die der CDU und ihrer Hoffnung auf einen Reform­partner einen Strich durch die Rechnung macht.

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