Grün-Schwarz ist das neue Schwarz-Grün

Foto: Shut­ter­stock, photocosmos1

Die CDU hat keinen Plan für sich und das Land und ist zerrissen. Armin Laschet kann keine klaren Signale in die Mitte senden, die sich längst den Grünen zuwendet. Als deren Juni­or­partner kann der Union die Erneue­rung eher gelingen als als Kanz­ler­partei oder gar in der Oppo­si­tion, meint unser Autor Markus Schubert.

An einem heißen Sams­tag­mittag im September 2009 blinzele ich auf einer Kaffee­haus-Terrasse sitzend in den Sonnen­strahl, der sich in der gotischen Spitze des höchsten Kirch­turms der Welt bricht. Die Frau am Tisch hat mir eben einen Job im Führungs­team ihres Bundes­mi­nis­te­riums angeboten. Meine Skepsis ange­sichts der zu Ende gehenden Perfor­mance des Kabinetts Merkel I ist offenbar mit Händen zu greifen, denn schließ­lich greift sie zu einem schla­genden Argument: „Ab Montag regieren wir mit den Grünen, dann ist alles anders. Dann geht es nicht mehr um Vergan­gen­heits­ver­län­ge­rung, sondern um Zukunftsgestaltung.“

Bekannt­lich kam es anders. Nicht nur dass ich ein paar Tage später freund­lich absagte, die bürger­li­chen Wähler stärkten auch die FDP so deutlich zu Lasten der Union, dass Schwarz-Gelb unaus­weich­lich war. Diese Koalition endete 2013 mit dem auf der CDU-Wahlparty frene­tisch gefei­erten Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag, aber eben auch mit der Rückkehr der Union in die Große Koalition, auch weil die Grünen das machtlose Zuschauen noch nicht satt­hatten. Anders als vier Jahre später, als aber die FDP vor der Verant­wor­tung zurück­schreckte. Angeblich auch, weil die CDU in den Verhand­lungen den Grünen bereits näher stand als den Liberalen, was vermut­lich stimmt.

Nun war immer klar, schon aufgrund der demo­gra­phi­schen Dynamik, dass das Fenster für Schwarz-Grüne Koali­tionen sich zwar schon in den frühen 90ern geöffnet hatte – mit geplatzten Sondie­rungen in Baden-Würt­tem­berg (1992 und 2006),  mit einer am Ende von Konser­va­tiven sabo­tierten Koalition in Hamburg, einer erfolg­rei­cheren Wieder­auf­lage in Hessen und in diversen 3er-Bünd­nissen (Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Sachsen) – dass es sich aber auch zu schließen begann, weil in etlichen Bundes­län­dern (Baden-Würt­tem­berg aber auch Berlin und Hamburg) und nun eben auch im Bund, die Grünen schon vor die CDU schieben. Die Alter­na­tive ist dann – und in Baden-Würt­tem­berg nicht nur rech­ne­risch sondern zum zweiten Mal auch politisch – eine von den Grünen ange­führte Koalition mit der CDU. Ergo: Grün-Schwarz ist das neue Schwarz-Grün.

Wie konnte die CDU diese Entwick­lung zulassen? Nun, das perma­nente aggior­na­mento einer christ­lich-demo­kra­ti­schen Partei an das was Polemiker „Zeitgeist“ nennen und in Wahrheit „Werte­wandel“ ist, hat für die CDU nur die Kanzlerin und lang­jäh­rige Bundes­vor­sit­zende absol­viert, sich dabei oft eher auf andere poli­ti­sche Kräfte in Bundes­re­gie­rung, Bundestag und Bundesrat stützend als auf die eigene Partei und ihre mühsame program­ma­ti­sche Erneue­rung. Das gilt für ihr Wirken in der Flücht­lings­krise ebenso wie zuvor bei der Rettung des Euro und des Zusam­men­halts in der EU, beim Klima­schutz und zuletzt in der Pandemie.

Sichtbar geworden ist diese Kluft mehr und mehr in der ausge­henden Kanz­ler­schaft, als die CDU die Kanzlerin zum Aufgeben des Partei­vor­sitzes nötigte und diese sich natur­gemäß noch weniger um den Kurs der CDU kümmerte, während die beiden Nach­folger nicht die Macht­basis hatten, um die CDU beherzt zu führen und zu formen. Zudem wurde gleich zwei Mal augen­fällig, wie breit der Rückhalt in der Partei für einen aus der Zeit gefal­lenen Mann wie Friedrich Merz noch ist.

Die fatale Sehnsucht nach Polarisierung

Bei der Abstim­mung über den neuen CDU-Vorsit­zenden ging es Anfang des Jahres (wie schon bei der Wahl AKK vs. Merz) auch um zwei gegen­läu­fige Auffas­sungen von der Rolle der CDU im Partei­en­system.  Spoiler: Eine führt erkennbar ins Verderben.

Angela Merkel hat die CDU als dominante Anker­partei in der poli­ti­schen Mitte forma­tiert, gegen die bei Ausschluss von Extrem­par­teien nicht regiert werden kann, die ihrer­seits aber möglichst mehrere Koali­ti­ons­op­tionen im Viel­par­tei­en­system hat. Außerdem soll die Union nie pola­ri­sieren, um dem poli­ti­schen Konkur­renten nicht die Mobi­li­sie­rung von schlum­mernden Wähler­po­ten­tialen zu ermöglichen.

Somit tritt die CDU weniger profi­liert auf, setzt über 16 Jahre hinweg aber mehr und nach­hal­tiger Werte und Programme um, als wenn sie ihre temporäre Abwahl aus feder­füh­render Regie­rungs­ver­ant­wor­tung riskiert (wie 1998 – 2005).

Daraus haben manche aber ein ungutes CDU-Binnen­ge­fühl entwi­ckelt. Insbe­son­dere gelernte Oppo­si­ti­ons­po­li­tiker, Dinner Speaker und Aufmerk­sam­keits­su­chende wie Merz. Sie setzen auf eine umfas­sende Mobi­li­sie­rung eines angeblich nicht abge­ru­fenen CDU-Wähler­po­ten­tials, rekla­mieren dafür die Hälfte der bishe­rigen AfD-Wähler für sich – ergänzt um die FDP als ‚natür­li­chen‘ Koali­ti­ons­partner. Und das gelinge durch eine stärkere Pola­ri­sie­rung des Partei­en­sys­tems, am besten durch einen scharf­kan­tigen und breit­bei­nigen Spit­zen­mann. Dagegen spricht vieles, wenn nicht alles.

Bezeich­nen­der­weise kam die stärkste Unter­stüt­zung aus Landes­ver­bänden, die ihre eigene Wähler­basis bereits in stra­te­gisch bedeut­samem Ausmaß verspielt haben (Hamburg und Baden-Württemberg).

Bei den letzten Land­tags­wahlen – in Thüringen und Hamburg – ergibt die Addition von CDU und FDP zzgl. 50 Prozent der AfD-Stimmen in Erfurt 38, 4 Prozent und mithin keine Mehrheit. In Hamburg – wo der Landes­ver­band personell und inhalt­lich liberal aufge­stellt noch die Stadt führte – wären es auf diese Weise 18, 8 Prozent. (Der junge CDU-Landes­vor­sit­zende träumte übrigens von Merz und Schwarz-Gelb.) Noch nicht einmal einge­preist ist der absehbare weitere Verlust von Wählern in der poli­ti­schen Mitte (zu den Grünen aber auch zurück zur SPD).

Das Merzsche Axiom führt also eher zum gegen­sei­tigen Einlullen in einer schrump­fenden politisch-kommu­ni­ka­tiven Blase aus der schmaler werdenden Mitglie­der­schaft, einer gleich­falls schmaler werdenden unbe­irr­baren Stamm­wäh­ler­schaft und eines rechts­kon­ser­va­tiven bis rechts­extremen Clusters aus Abtrün­nigen, AfD-Vorfeld­ver­bänden, rechter Publi­zistik und Beob­ach­tungs­ob­jekten des Verfas­sungs­schutzes – im Netz auf Über­le­bens­größe aufgeblasen.

Die Pola­ri­sie­rung der Wähler­schaft verspricht (abgesehen vom Verlust des poli­ti­schen Kompasses) keine Maxi­mie­rung des CDU-Wähler­an­teils, es erhöht das Risiko einer Mobi­li­sie­rung und Mehr­heits­bil­dung gegen die Union. Frisches Anschau­ungs­ma­te­rial bilden die Repu­bli­kaner in den USA, die von der Tea Party bis Trump auf einer schiefe Ebene immer weiter Richtung rechter Rand des poli­ti­schen Spektrums rutschten, auch die finale Mobi­li­sie­rungs­kon­kur­renz verloren und schließ­lich mit Faschisten und Schamanen mit Putsch- und Lynch­ge­lüsten auf den Fluren des Kongresses endeten.

Söder hat seine Lektion gelernt

Während Röttgen und Laschet erkennbar und erklär­ter­maßen Merkels Erfolgs­kon­zept fort­setzen wollen, hatte auch Markus Söder nach ausge­dehnten Ausflügen in den Popu­lismus  („Ende des geord­neten Multi­la­te­ra­lismus“, Anti-Islam-Kampagne, Kruzifix-Folklore) die Lektion gelernt: „Wir wissen mitt­ler­weile, dass viele Wähler der AfD vorher Nicht­wähler waren. Das sind Menschen, die sich schon vor Jahren von der Demo­kratie verab­schiedet haben – poli­ti­sche Geis­ter­fahrer wie Reichs­bürger, die sich jetzt auf einem großen Parkplatz bei der AfD versam­meln und glauben, eine neue Mehrheit zu sein. Diese durch rheto­ri­sche Annä­he­rung zurück­ge­winnen zu wollen, erscheint kaum möglich.“ Und weiter bekannte er in einem Interview mit der Augs­burger Allge­meinen im Februar 2020: „Wir können keinen erfolg­rei­chen Wahlkampf führen, wenn wir grund­le­gend mit der Vergan­gen­heit brechen. 15 Jahre mit Angela Merkel als Kanzlerin waren eine sehr erfolg­reiche Regie­rungs­zeit für die Union und für Deutschland.“

Weil die CSU in dieser Hinsicht inter­es­san­ter­weise flexibler ist, und ihrem Vorsit­zenden erst nach rechts und jetzt genauso diszi­pli­niert wieder in die Mitte folgte, kann Armin Laschet (wie vor ihm Annegret Kramp-Karren­bauer) keine Signale in die von den Grünen mehr und mehr über­nom­mene Mitte senden, ohne in Wider­spruch zu Partei­gre­mien, Partei­basis und medial präsenten Figuren wie Merz, Maaßen und ihren Followern von Amthor bis zur „Werte“-Union zu geraten. Der Versuch, diese Kräfte einzu­binden, sorgt für ein voll­kommen verschwim­mendes Profil. Den Rollen­tausch Markus Söders als Exponent der liberalen Union, den Grünen zugewandt und entschlossen, das Merkel-Erbe zu bewahren, hat Laschet entweder noch gar nicht umrissen (und manche stramm konser­va­tive Söde­rianer in der CDU auch nicht) oder er kann ihn nicht parieren, weil Merz und Maaßen dies mit ihrer medialen Dauer­prä­senz verhin­dern. Seinen Wider­sa­cher Merz hat sich Laschet als eine Art Antidot gegen die in der Partei gras­sie­rende Söder-Begeis­te­rung ins Team geholt, aber damit das Abstands­gebot gegen Rechts­po­pu­lismus miss­achtet. Mixed messages Tag für Tag sind damit programmiert.

Bleibt Laschet Kanzlerkandidat?

Mit jeder Woche, da die Grünen in Führung liegen und man sich an diese Balken­ver­schie­bung in der Umfra­gen­grafik auch gewöhnt, wächst in der CDU die Panik. Söder und seine Unter­stützer werden ja die Nadel­stiche gegen Laschet weiter setzen, wissend dass es beacht­liche Unter­stüt­zung für ihn vor allem unterhalb der obersten CDU-Führungs­ebene geübt. Und eben nicht nur von den Merzia­nern, sondern auch von Merke­lia­nern, durch Söder geschickt bedient.

Und dann gibt es da auch eine erheb­liche Unsau­ber­keit in der Argu­men­ta­tion von Armin Laschet, die v.a. CDU-Dele­gierten des letzten Bundes­par­tei­tags aber natürlich auch der CSU aufstoßen muss: Laschet lässt immer wieder aufscheinen, dass seine Wähler auf dem Parteitag ihn implizit zum Kanz­ler­kan­di­daten bestimmt haben, weil er ja durch die Wahl zum Vorsit­zenden das Zugriffs­recht erworben hat, was das Partei­prä­si­dium jetzt quasi nach­träg­lich bestätigt hat. (Ins Negative gewendet verwen­deten seine Anhänger das Argument, dass der neue CDU-Vorsit­zende demon­tiert würde, wenn man ihm die Kanz­ler­kan­di­datur jetzt vorenthielte.)

Die Kehrseite der Argu­men­ta­tion wäre ja: Die CSU-Dele­gierten, die Söder zu ihrem Partei­chef wählten, hätten damit praktisch zugleich für seinen Verbleib in Bayern gestimmt. Absurd. Aber auch für die CDU allein ist das Argument einfach falsch: Einen beacht­li­chen Teil seiner Stimmen (zumal im 2. Wahlgang, als große Teile des Elek­to­rats von Norbert Röttgen zu ihm wech­selten) verdankt er der Tatsache, dass er die Kanz­ler­kan­di­datur – also die eigene oder eben eine von Markus Söder – bewusst offenließ, bzw. auf eine spätere einver­nehm­liche Lösung vertagte. Während Röttgen eine Kanz­ler­kan­di­datur Söders im Vorfeld sogar explizit für möglich hielt.

Bei Friedrich Merz war dagegen klar, dass er den Partei­vor­sitz allein deshalb anstrebt, um Kanzler zu werden.  So dass Söder also nicht zum Zuge kommen würde. – Wen hätten Dele­gierte der CDU, die sich eine Kanz­ler­kan­di­datur Söders wünschten, also wählen können? Klar: Erst Röttgen, keines­falls Merz – und daher am Ende Laschet.

Die Debatte über die Unions-Kanz­ler­kan­di­datur wird noch wochen­lang auf mal kleinerer, mal größerer Flamme weiter­gehen. Die CSU hat Laschet übrigens auch noch nicht zum Kanz­ler­kan­di­daten nominiert. Ein geord­netes Verfahren zur Nomi­nie­rung existiert ohnehin nicht.

Söder hat dazu nach der Abstim­mung im CDU-Bundes­vor­stand drei Zitate platziert, die er sich stil­si­cher eklek­ti­zis­tisch von Caesar, Angela Merkel und Paulchen Panther entlieh: „Die Würfel sind gefallen.“ – Diesen Satz benutzte Caesar, um die Auslösung des Bürger­kriegs zu begründen, der darüber entscheiden sollte, wer in Rom lang­fristig politisch das Sagen hat. „In der Ruhe liegt die Kraft.“ Soll heißen, Söder hat es nicht eilig, eine Entschei­dung zu suchen, weil: – „Ich komm wieder, keine Frage“ – er am Ende ohnehin triumphiert.

Was hat Söder seit seinem takti­schen Rückzug gewonnen? Nun, Laschets Gegner und Söders Befür­worter in der CDU, im Vorstand, in der Bundes­tags­frak­tion, in Landes­ver­bänden und an der viel­be­schwo­renen Basis haben sich – zum Teil öffent­lich – bekannt. Söder hat jetzt ein defi­niertes Unter­stüt­zer­feld in der Schwes­ter­partei, er weiß, dass hinter manchen Laschet-Stimmen im Vorstand die gegen­läu­fige Stimmung im jewei­ligen Heimat­ver­band steht. Und Söder und Laschet wissen, dass der andere das weiß, und dass es alle wissen.

Die Meinung in der gemein­samen Bundes­tags­frak­tion wurde – anders als von Söder gewünscht – nicht abgefragt. Weil der CDU-Vorstand in der Nacht unter Druck zur Abstim­mung schritt, kann Söder leicht behaupten (lassen), dies sei aus Furcht vor einer abseh­baren Nieder­lage in der Fraktion geschehen. Dort schlum­mern auch weitere Eska­la­ti­ons­po­ten­tiale. Söder weiß jetzt außerdem, dass er die bedin­gungs­lose Unter­stüt­zung der CSU in Bayern und Berlin hat, selbst wenn er die Schwes­ter­partei in Exis­tenznot stürzt.

Viel­leicht wird das Thema erst nach einem äußeren Anlass wie einer Wahl­nie­der­lage in Sachsen-Anhalt im Juni (Haseloff war erklärter Söder-Befür­worter!) wieder öffent­lich aufge­rufen. Laschets Leute werden dann vor Panik warnen und darauf verweisen, dass Programm und Wahl­kampf­pla­nung für September praktisch stehen und es einem Selbst­mord gleich­käme, drei Monate vor der Wahl den Spit­zen­kan­di­daten auszu­tau­schen. Söder und die CSU werden dann kühl darauf verweisen, dass der Schwer­punkt einer modernen Kampagne ohnehin in den wenigen Wochen nach der Sommer­pause bis zur Wahl liegt.

Bis dahin wird ihm aber niemand mehr schiere Machtgier unter­stellen können. Denn formal hat er ja seine Ansprüche – wie von der CDU nach ihrem Gremi­en­votum ultimativ verlangt – zurück­ge­zogen. Er hat – so hat er es danach gestreut – aus „Verant­wor­tung für die Union“ und ihre Geschlos­sen­heit entschieden, der „Verant­wor­tung für das Land“ nicht nach­zu­kommen. Soll heißen: Die CDU wollte lieber mit dem eigenen Chef in die Nieder­lage gehen, als sich von einem CSU-Kanz­ler­kan­di­daten den Wahlsieg besorgen zu lassen. Ein Schluss­wort klingt anders.

Wen oder was will Angela Merkel?

An dieser Stelle rufen manche nach der Kanzlerin. Hätte sie nicht einen Nach­folger aufbauen müssen? Oder im aktuellen Perso­nal­kampf Position beziehen? Das hätte sie, wenn überhaupt, in ihrer Rolle als Partei­vor­sit­zende tun können (und hat es ja getan mit der Berufung ihrer späteren Nach­fol­gerin zur Gene­ral­se­kre­tärin). Den Vorsitz aber hat man ihr ja entzogen. Sie hätte sonst auch das Verfahren zwischen CDU und CSU um die Kanz­ler­kan­di­datur energisch und selbstlos mode­rieren können.

Oder hätte sie recht­zeitig zurück­treten müssen, um Annegret Kramp-Karren­bauer oder eben Armin Laschet den Weg ins Kanz­leramt zu ebnen? Die Antwort: Nein, konnte sie nicht. Die SPD hatte weder Interesse an Neuwahlen noch daran, dem nächsten CDU-Kanzler ins Amt zu verhelfen und einen unschätz­baren Start­vor­teil für die Wahl 2021 zu verschaffen. Die FDP wäre viel­leicht bereits gewesen, vor einem Jahr einen Kanzler Laschet ins Amt zu wählen – aber die Grünen? Wohl kaum. Sie haben höhere Ziele. Und um sie zu erreichen ist die vage Option auf die Führung einer Grün-rot-roten Koalition ein wichtiger Baustein.

Aber muss der Kanzlerin denn nicht daran gelegen sein, dass die CDU das Kanz­leramt behält, anstatt es an die Grünen zu verlieren? Die Antwort ist ein viel­schich­tiges Nein. Was konnte man beob­achten? Zum einen hat nichts die Autorität des neuen CDU-Chefs so beschä­digt wie Merkels TV-Kritik an Laschets Abwei­chungen von den Bund-Länder-Corona-Beschlüssen. Als wäre das nicht genug gewesen, ließ sie Laschets Vorschlag, die nächste Bund-Länder-Runde mit Kanzlerin und Ministerpräsident*innen vorzu­ziehen (für den „Brücken-Lockdown“) unkom­men­tiert, nur um die folgende reguläre Sitzung ebenfalls abzu­blasen und sich im Bundestag eine Mehrheit für die Bundes-Notbremse zu besorgen. Auf demü­ti­gen­dere Weise ist noch kein Kanz­ler­kan­didat ins Abseits gestellt worden. Nicht mal in der SPD.

Man könnte das als Partei­nahme für Söder inter­pre­tieren, zumal er sich ja permanent und mit Kutsch­fahrten und rheto­ri­scher Corona-Konse­quenz als Erbschlei­cher insze­niert. Aber auch mit ihm hätte sie ja eine lange Rechnung offen.

Das führt dann zu der Frage, die man stellen muss: Wofür sollte die Kanzlerin den Unions­par­teien überhaupt zu poli­ti­schem Dank verpflichtet sein?

Für die Mäkelei an ihrem meist pro-euro­päi­schen Kurs? Dem Krakeelen nach einem Grexit? Der Ablehnung gesamt­eu­ro­päi­scher Schuldenaufnahme?

Für die zerset­zende Kritik an ihrem flücht­lings­po­li­ti­schen Kurs, der nicht nur hardcore-C-Politik war, sondern Europa ein natio­na­lis­ti­sches Zerbre­chen mindes­tens des halben Balkans erspart hat?

Für Ultimaten, Briefe und Klage­dro­hungen der CSU dabei, für die Demü­ti­gung durch Horst Seehofer auf einem CSU-Parteitag, für den wirren Auftritt Söders in Berlin, bei dem er das „Ende des geord­neten Multi­la­te­ra­lismus‘“ ausrief? Für das Hochreden der AfD?

Für den von Jens Spahn herbei­ge­führten CDU-Partei­tags­be­schluss, der Merkels Position zur doppelten Staats­bür­ger­schaft verwarf und den feixenden Triumph, es der Vorsit­zenden mal gezeigt zu haben?

Für das Abräumen ihres loyalen Frak­ti­ons­vor­sit­zenden Kauder?

Für die zwei Mal nur äußerst knapp geschei­terte Wahl ihres Intim­feindes Merz zum Partei­chef – und zwar genau wegen seines Profils des Merkel-Intim­feinds und der in Aussicht gestellten Rück­ab­wick­lung der Moder­ni­sie­rung der CDU?

Für das Ausrufen eines „Jahr­zehnts der Moder­ni­sie­rung“ durch den frisch gewählten CDU-Chef Laschet mit Blick auf die kommende Bundesregierung?

Viel schlüs­siger wäre, wenn die Kanzlerin wie eben schon 2009 auf die Moder­ni­sie­rung der Union mittels Provo­ka­tion ihrer blass gewor­denen Program­matik durch die inzwi­schen weit mitti­geren Grünen als Koali­ti­ons­partner setzen würde. Dass sie Annalena Baerbock als charak­ter­lich wie fachlich geeignete Nach­fol­gerin sehen wird, ist offen­kundig. Dabei wird sie sich nicht erwischen lassen, aber sicher in den Sommer­mo­naten für das wie zufällige Arran­ge­ment eines viel­sa­genden Blick­kon­takt-Foto­mo­tivs auf den Hinter­bänken des Bundes­tages sorgen. Merkels Femi­nismus ist nie ein dekla­ma­to­ri­scher und auch kein ideo­lo­gi­scher. Er ist effek­tiver. Einer­seits durch das globale Inspi­rieren von Frauen, die sehen, dass man die gläserne Decke bis an die Regie­rungs­spitze durch­bre­chen kann, ande­rer­seits durch diskretes Netz­werken und Ermög­li­chen, und ja – siehe Laschet – auch mal durch brutales Ausbremsen von Ambi­tionen der Männer, die dem im Wege stehen.

Die CDU könnte in vier Jahren grün-schwarzer Regierung genau jene Moder­ni­sie­rungs­schritte nachholen, die sie bisher aus Bequem­lich­keit und Denk­faul­heit nicht bereit war zu gehen. In der Oppo­si­tion wäre sie dazu noch weniger in die Lage. Sie ist keine Programm­partei, sie ist eine Macht­ma­schine, aber eine, der im Moment die eigenen Achsen, Kolben und Federn um die Ohren fliegen. Nur eines ist sie deshalb aktuell nicht: Ein Kanz­ler­wahl­verein. Diese Kern­kom­pe­tenz ist ihr abhanden gekommen.

Wer dies für allzu abstrakte Fantasien hält, mag sich vertraut machen mit dem Hinweis des CDU-Gene­ral­se­kre­tärs in Baden-Würt­tem­berg, Manuel Hagel, dessen Verband sich gerade in eine Neuauf­lage von Grün-Schwarz mit stark redu­ziertem Eigen­an­teil gerettet hat. Der Stutt­garter Zeitung sagte der junge Mann, der nun Frak­ti­ons­chef wird und in dessen Wahlkreis hinein der höchste Kirchturm der Welt noch Schatten wirft, man wolle das Bündnis mit den Grünen nutzen, um „die Schritte, die uns schon vor zehn Jahren gut getan hätten, jetzt in einem Schwung nachzuholen.“

Grün-Schwarz ist aber kein Selbst­läufer und war es auch in Baden-Würt­tem­berg nicht. Für die Grünen bietet sich darin die Chance, die oben skiz­zierte Rolle der Merkel-CDU als Anker­partei der Mitte zu über­nehmen. Die vermeint­lich „natür­liche“ Koalition mit der SPD (ergänzt um Linke oder die FDP) bleibt dabei immer eine Option, was die Lage der Union in der Koalition nicht leichter macht. Und am Ende kann es wie 2009 eine starke Wähler­wan­de­rung von der Union zur FDP sein, die der CDU und ihrer Hoffnung auf einen Reform­partner einen Strich durch die Rechnung macht.

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