Seite an Seite – Polen und Deutschland finden in der Krise zueinander

Foto: 977_​ReX_​977 /​ Shutter­stock

Der russische Überfall auf die Ukraine und der – wenn auch späte – Kurswechsel Deutsch­lands zu Sanktionen und Waffen­lie­fe­rungen hat das Verhältnis Polens zu Deutschland verändert.
Ein Kommentar der Poli­tik­wis­sen­schaft­lerinnen und Polen­ex­per­tinnen Irene Hahn-Fuhr und Małgorzata Kopka-Piątek.

Polen – schockiert, aber vorbereitet

Als in den Morgen­stunden des 24. Februar 2022 russische Kampf­ver­bände in die Ukraine einfielen, war in Polen kaum jemand überrascht, obwohl auch bei unserem östlichen Nachbarn die meisten Fachleute und Militär­ex­perten eher mit auf weitere Desta­bi­li­sierung abzie­lenden Sabota­ge­ak­tionen gerechnet hatten. Doch anstatt in eine Schock­starre zu verfallen, kam die Reaktion schnell und eindeutig:

Es war der polnische Premier­mi­nister Mateusz Morawiecki, der als einer der ersten nach möglichst umfas­senden Sanktionen, inklusive SWIFT, Stopp von Nord Stream 2 und breiter Unter­stützung und Ausrüstung für die angegriffene Ukraine verlangte. Staats­prä­sident Andrzej Duda hat gleich als erster den Antrag der Ukraine auf EU-Mitglied­schaft öffentlich unter­stützt und sich sofort in zahlreichen Beratungs­ge­sprächen mit den Ländern in der Region wie mit den USA, Frank­reich und Großbri­tannien engagiert. Die engen Bezie­hungen der regie­renden Partei Recht und Gerech­tigkeit (PiS) zum größten Putin-Verbün­deten der Region, dem ungari­schen Premier­mi­nister Victor Orbán, konnten genutzt werden, damit dieser die Sanktionen gegen Russland zumindest nicht boykottierte.

Innen­po­li­tische Polari­sierung hin oder her: Jetzt gilt es, dem gemein­samen Feind die Stirn zu bieten. Die Zivil­ge­sell­schaft und tausende Bürge­rinnen und Bürger griffen nach ihren Geldbeuteln und stürzten in die Geschäfte, um Lebens­mittel, Hygie­ne­ar­tikel und Medika­mente für die Flüch­tenden zu besorgen. Viele haben ihre Türen ukrai­ni­schen Frauen und Kindern geöffnet. Der Staat und die Kommunen folgten mit der Koordi­nierung von Hilfs­ak­tionen, Trans­porten sowie der besseren Ausstattung der Grenz­über­gänge. Seit dem Überfall haben bereits jetzt über 600.000 Menschen die polnische Grenze überquert. Es werden mit jeder Stunde mehr.

Die deutsche Politik war in Polen seit langem mit Sorge verfolgt worden. Polnische Exper­tinnen und Politiker hatten seit langem immer wieder Warnungen formu­liert, die hierzu­lande entweder nicht gehört oder mit dem Mantra „Wandel durch Handel“ beant­wortet wurden. Bereits zu Beginn der 2000er Jahre hatte die damalige polnische Regierung unter Premier­mi­nister Donald Tusk gegen den Bau von Nord Stream 1 protes­tiert. Die Pipeline war in polni­schen Augen von Anfang an ein geostra­te­gi­sches Projekt  des Kremls und eine Bedrohung der natio­nalen wie regio­nalen Sicherheit. In Polen waren die Diskus­sionen über Energie­po­litik seit jeher untrennbar mit der EU-Außen- und Sicher­heits­po­litik verbunden, die die Ordnung in diesem Teil der Welt bestimmen.

Das anfäng­liche Zögern Deutsch­lands bei Sanktionen mit Blick auf die eigenen ökono­mi­schen Kosten, die Weigerung, die Ukraine mit Abwehr­waffen zu unter­stützen und das deutsche Veto gegen Waffen­lie­fe­rungen durch andere Partner­staaten wurden in Polen mit steigender Ungeduld bis zur Aktivierung antideut­scher Stimmungen (die in der Gesell­schaft ähnlich lebendig sind wie Sorgen vor russi­scher Großmacht­po­litik) begleitet.

Es war die sonntäg­liche Regie­rungs­er­klärung von Bundes­kanzler Olaf Scholz am 27. Februar, welche in Polen als „koper­ni­ka­ni­scher Durch­bruch“ betitelt wurde. Vom linken bis zum rechten Spektrum der polni­schen Politik herrscht noch Unglauben, gemischt jedoch mit Anerkennung für den radikalen Wandel in der deutschen Außen- und Sicher­heits­po­litik: „Das Unmög­liche ist möglich geworden“, schreiben viele polnische Zeitungen.

Es geht nicht darum zu sagen, wir haben es Euch schon immer gesagt

Bisher wurde die Expertise Polens in Bezug auf den weit gefassten postso­wje­ti­schen Raum, insbe­sondere  zu Russland, aber auch zur Ukraine, Belarus, Moldau oder Georgien, nur in den engsten deutsch-polni­schen Kreisen geschätzt. Polen teilt mit diesen Ländern die gemeinsame, schwierige Geschichte, die kollektive Erfahrung mit kommu­nis­ti­scher Herrschaft, mit der Trans­for­mation und dem holprigen Weg zu Freiheit und Demokratie. Daraus resul­tiert ein diffe­ren­zierter Blick auf die heutige Realität in Mittel-Osteuropa, die sich von der vorherr­schenden Perspektive in Deutschland unter­scheidet.  Dazu gehört die ungefil­terte Wahrnehmung der inneren Repression in Russland und ein klarer Blick auf die korrupten Macht­struk­turen und das militä­rische Gewalt­po­tential des großen Nachbarn. Die Abstem­pelung der polni­schen Warnungen als russo­phobe, vergan­gen­heits­fi­xierte Zwangs­vor­stel­lungen, könnte sich bei näherer Betrachtung als Vorurteil herausstellen.

Längst leben über 2 Millionen Ukrai­ne­rinnen und Ukrainer in Polen, zum großen Teil Wirtschafts­mi­granten. Einige von ihnen waren auch nach der Annexion der Krim und der Besetzung der Regionen Luhansk und Donezk gekommen. Auch viele Belarussen sind nach Polen geflohen, um den Repres­sionen gegen die Opposition zu entgehen. Der gemeinsame Nenner für die Offenheit Polens gegenüber den Ankömm­lingen  ist der Grund für ihre Flucht: In jedem dieser Fälle ist der Aggressor Russland oder ein Land, das diesem System nahesteht, wie Belarus. Das bewirkt in Polen einen „Reflex des Herzens“, der sich jetzt auch In der großen Hilfs­be­reit­schaft gegenüber den ukrai­ni­schen Flücht­lingen zeigt.

Polen und andere postso­wje­tische Länder, die seit Jahrhun­derten Nachbarn Russlands sind, fühlen sich seit jeher von der russi­schen Großmacht­po­litik bedroht. Histo­rische Traumata wie die Teilungen des 18. Jahrhun­derts, der Hitler-Stalin-Pakt und der folgende Angriff der UdSSR auf Polen 1939 und die anschlie­ßende lange Erfahrung mit der Sowjet­union legen den Grund dafür, dass Ereig­nisse wie die Tsche­tsche­ni­en­kriege, die russische Militär­in­ter­vention in Georgien 2008, die Annexion der Krim 2014 oder die Unter­stützung für das Lukaschenko-Regime Emotionen und Reaktionen hervor­rufen, die bei einigen westlichen Partnern auf Unver­ständnis stießen. Besonders irritierend war für Polen das Argument, die angeblich gefährdete Sicherheit Russlands durch die NATO-Osterwei­terung hätte zur aggres­siven Wendung Putins geführt. In dieser Sicht­weise werden die ost-mittel­eu­ro­päi­schen Staaten wieder zur „Pufferzone“ mit begrenzter Souve­rä­nität.  Die legitimen Sicher­heits­in­ter­essen Polens, der balti­schen Staaten und der weiteren mittel- und osteu­ro­päi­schen Partner mitsamt ihrem Selbst­be­stim­mungs­recht bleiben außer Acht.

Neue Gemein­samkeit durch verschiedene Perspektiven

In Polen fehlte das diplo­ma­tische Finger­spit­zen­gefühl, in Deutschland das Verständnis und auch das Interesse für eine konstruktive Annäherung in diesen histo­risch-politi­schen Fragen. Dazu kam der Konflikt über die Justiz­reform und die Rechts­staat­lichkeit, der zur politi­schen Entfremdung beitrug und den Dialog in anderen Bereichen erschwerte. Aus diesem Tiefpunkt der deutsch-polni­schen Bezie­hungen entsteht angesichts des russi­schen Angriffs auf die europäische Friedens­ordnung eine neue Annäherung. Vielleicht führt diese Katastrophe auch dazu, dass in Polen besser verstanden wird, dass eine unabhängige Justiz und rechts­staat­liche Verfahren im eigenen Land und die Achtung des inter­na­tio­nalen Rechts zwei Seiten einer Medaille sind und dass es sich lohnt, auf europäische Partner­schaft und Solida­rität zu setzen. Das Treffen der Außen­mi­nister des Weimarer Dreiecks am 1. März 2022 in Polen ist auch ein positives Zeichen der deutschen und franzö­si­schen Partner für dieses Format, das die letzten Jahre in der Bedeu­tungs­lo­sigkeit versank. Der Satz von Außen­mi­nis­terin Annalena Baerbock: „Gerade, weil wir auf viele Fragen aus verschie­dener Perspektive blicken, können wir Europa zusam­men­halten und voran­bringen“ könnte mehr Potenzial in sich bergen, als es auf den ersten Blick scheint. Wenn aus der gegen­wär­tigen Krise eine Partner­schaft neu entsteht, hätte Putin auf einem weiteren Schlachtfeld verloren – und Europa insgesamt gewonnen.

Textende

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