Hat sich das junge Frank­reich von der Politik abgewandt?

Screen­shot Youtube Mcfly et Carlito

Die erschre­ckend niedrige Wahl­be­tei­li­gung junger Wähler in Frank­reich von 13% bei den Regio­nal­wahlen im Juni lässt vermuten, dass eine ganze Gene­ra­tion poli­tik­ver­drossen sei. Doch die Ursachen sind viel­fäl­tiger, und die Teilnahme an der Präsi­dent­schafts­wahl dürfte höher ausfallen, wie Albrecht Sonntag analysiert.

Dem deutschen Feuil­leton dürften McFly und Carlito – mit bürger­li­chem Namen eigent­lich David Coscas et Raphaël Carlier, zwei Mitt­drei­ßiger aus der Pariser Vorstadt – kaum ein Begriff sein. Und selbst in den fran­zö­si­schen Redak­tionen hob eine hektische Suche nach Infor­ma­tionen über das Humo­risten-Duo an, als ihnen Emmanuel Macron im Februar ganz im Sinne einer ihrer YouTube-Sendungen öffent­lich eine Wette anbot. Sollte es ihnen gelingen, einen Videoclip zu produ­zieren, der ihren jugend­li­chen Abon­nenten den Respekt der Corona-Abstands- und Hygiene-Regeln nahelegen und mindes­tens 10 Millionen Aufrufe erreichen würde, dann seien sie in den Elysée-Palast einge­laden, um dort mit dem Staats­prä­si­denten ein weiteres ihrer Programme, einen soge­nannten „Anekdoten-Wett­be­werb“ durchzuführen.

Ist das nun billigste Anbie­de­rung an eine schwierig zu errei­chende Wähler­gruppe oder ein prag­ma­ti­sches Abholen der jungen Franzosen in ihrem eigenen Medien-Universum? Tatsache ist, dass poli­ti­sche Botschaften über die Fern­seh­nach­richten oder die landes­weiten Radio­sender kaum noch zu den Jung­wäh­lern durch­si­ckern. Die poli­ti­sche Elite trägt dieser Erkenntnis bereits Rechnung, wie einige Auftritte promi­nenter Vertreter von Regierung und Oppo­si­tion, neben quasi-obli­ga­to­ri­scher Präsenz auf Instagram oder TikTok, in Medien wie dem Video­games-Strea­ming­portal „Twitch“ oder dem beacht­li­chen Online-News­portal „Brut“ belegen.

Man ist sich dessen bewusst, dass sich die Gene­ra­tion der 18- bis 24-Jährigen gemeinhin von den poli­ti­schen Akteuren unver­standen fühlt. Und tatsäch­lich redeten führende Politiker oft erschre­ckend an den Sorgen und Wünschen dieser Alters­gruppe vorbei. Der Höhepunkt dieses flagranten Mangels an Einfüh­lungs­ver­mögen wurde im April 2005 erreicht, als Jacques Chirac den zum Refe­rendum stehenden Euro­päi­schen Verfas­sungs­ver­trag in einem eigens mit jungen Leuten gefüllten TV-Studio disku­tieren und positiv darstellen wollte. 

Was als Selbst­läufer gedacht war, endete als Kommu­ni­ka­tions-Desaster. Chirac zeigte sich voll­kommen über­rascht und desta­bi­li­siert von den Ängsten und der Skepsis seiner Gesprächs­partner. Seine Hilf­lo­sig­keit gipfelte in dem verzwei­felten Ausruf „Je ne vous comprends pas!“ – „Ich verstehe Sie nicht!“. Tref­fender hätte er es kaum ausdrü­cken können.

Emmanuel Macron will auf jeden Fall vermeiden, den Kontakt zur Welt der jungen Franzosen zu verlieren. Grade in der nicht-enden-wollenden COVID-Krise dürfen die jetzt 20-Jährigen auf keinen Fall zu einer „verlo­renen“ oder „geop­ferten Gene­ra­tion“ werden, wie in vielen Artikeln und Kommen­taren befürchtet wird.

Dass nach der extrem niedrigen Wahl­be­tei­li­gung von gerade mal 13% der Jung­wähler bei den Regio­nal­wahlen im Juni in allen Partei­zen­tralen die Alarm­glo­cken läuten, ist nach­voll­ziehbar. Die Befürch­tung, diese Gene­ra­tion habe sich von der Politik fast komplett abgewandt, drängt sich auf. Von der Zahl der Nicht­wähler auf mangelndes Poli­tik­in­ter­esse zu schließen, ist aller­dings in Frank­reich ein riskantes Unter­fangen. Die Zusam­men­hänge sind um einiges komplexer.

Struk­tu­relle Konstanten und selektive Wahlbeteiligung

Zunächst einmal ist das Phänomen der Massen-Enthal­tung bei den Erst­wäh­lern keines­falls neu oder uner­wartet. Bei Kommunal‑, Regional- oder Euro­pa­wahlen ist ihre Wahl­be­tei­li­gung seit Jahr­zehnten in der Regel um die 20% schwächer als die der anderen Altersgruppen.

Dies liegt teilweise in struk­tu­relle Konstanten begründet, die von der renom­mierten Jugend­for­scherin Anne Muxel (Sciences Po) nach jeder Wahl in Erin­ne­rung gerufen werden: viele Erst­wähler seien noch in der Kommune ihrer Eltern regis­triert, wohnten aber am Wahltag bereits an einem anderen Arbeits- oder Studi­enort. (Zu einer unkom­pli­zierten Briefwahl hat sich die Republik noch nicht durch­ringen können, es müssen aufwän­dige Voll­machten ausge­füllt und beglau­bigt werden.) Dazu komme, dass sich die jungen Franzosen tradi­tio­nell eine Art „Latenz“ gönnen zwischen dem Erreichen des 18. Lebens­jahrs und dem effek­tiven Wahr­nehmen des Wahlrechts.

Was sie mit den anderen Alters­gruppen gemein haben, ist ein zuneh­mender Hang zu einer peri­odi­schen, selek­tiven Wahl­be­tei­li­gung, je nach gefühlter Betrof­fen­heit durch den als nächstes anste­henden Urnengang. Und da zeigt sich, dass die Fünfte Republik mit ihrer Kombi­zange aus unge­bro­chener Hyper­zen­tra­li­sie­rung und obses­sio­nell-hyste­ri­scher Fixierung auf die Präsi­dent­schafts­wahl ihre eigenen Bürger zum Desin­ter­esse an allen anderen Wahlen erzieht.

Man muss schon sehr motiviert sein, um enthu­si­as­tisch den Regio­nal­wahlen entge­gen­zu­fie­bern. Von den aller­meisten Franzosen werden die Regionen als anonyme Verwal­tungs­or­gane wahr­ge­nommen, die Gymnasien reno­vieren und für das (als unzu­läng­lich empfun­dene) Angebot an Regio­nal­zügen verant­wort­lich sind. Die von der Regierung Hollande ange­gan­gene Terri­to­ri­al­re­form von 2015 sollte dies ändern, wurde aber aus den unter­schied­lichsten Motiven heraus gänzlich zerredet und verlor dabei ihre Kohärenz. „Verkorkst“ wäre wohl die zutref­fendste Beschreibung.

Ganz ohne Gestal­tungs­kraft sind die Gebiets­kör­per­schaften natürlich nicht. Zum Beispiel können sie in der lokalen Wirt­schafts­för­de­rung manches bewegen und tun dies auch mit einer gewissen Effizienz, unter anderem durch ihre Kompetenz in der Verwal­tung euro­päi­scher Förder­mittel. Dennoch: wenn’s um die großen Fragen geht, ist die Region bei der Wähler­schaft, ob jung oder alt, nicht auf dem Radar.

Zumal das Auf und Ab der COVID-Maßnahmen in den vergan­genen 18 Monaten die Allmacht des Zentral­staats einmal mehr nach­haltig unter Beweis gestellt hat. Die Regio­nalen Gesund­heits-Agenturen (ARS), vor zehn Jahren eigent­lich als dezen­tra­li­siertes Organ ins Leben gerufen, sind keines­wegs den gewählten Regio­nal­ver­samm­lungen unter­stellt und wurden in der Krise heftig als leblose, fern­ge­steu­erte Tech­no­struktur kriti­siert. Auch über punk­tu­elle, lokale Lockdowns und deren even­tu­elle Locke­rungen entscheidet kein gewählter Volks­ver­treter, sondern nach wie vor der Präfekt, seit Napoleon der direkte Arm des Zentral­staats in den Départements.

Da nimmt es nicht wunder, wenn die Präsi­dent­schafts­wahl im kommenden April wieder einmal die ganze Aufmerk­sam­keit der Wähler­schaft auf sich zieht. Sie wird als wegwei­sender, hoch pola­ri­sierter und emotio­na­li­sierter Showdown zwischen Gesell­schafts­ent­würfen verstanden. Bei allen Unwäg­bar­keiten darf man davon ausgehen, dass sich auch die Jung­wähler unmit­telbar ange­spro­chen fühlen werden. Knapp zwei Drittel geben jetzt schon an, im April sicher zur Wahl gehen zu wollen.

Wert­ver­lust des Wahlakts

Von diesem alles über­la­gerndem Drama im 5‑Jahresrhythmus abgesehen, hat das Wahl­ri­tual in den Augen vieler Bürger seine Feier­lich­keit verloren. Für die jungen Leute ist es, einer vor kurzem erschie­nenen Studie der Sozio­logen Vincent Tiberj und Laurent Lardeux zufolge, „nur eine Hand­lungs­mög­lich­keit unter vielen“ – und in der Tat ist eine beacht­liche Zahl junger Leute in Demons­tra­tionen aller Art präsent, unter­schreibt Peti­tionen wie „L’Affaire du siècle“ (die juris­tisch gegen die klima­po­li­ti­schen Versäum­nisse des Staats vorgeht), engagiert sich auf unter­schied­lichste Weise im Vereins­wesen oder mobi­li­siert sich und andere auf dem Internet. Das Bild von der desin­ter­es­sierten, indi­vi­dua­li­sierten, enttäuscht vom Gemein­wesen abge­wandten Jugend ist ein Mythos.

Genauso wie das oft kolpor­tierte Gerücht, unter den 18- bis 24-Jährigen sei Marine Le Pens Rassem­blement National mitt­ler­weile zur stärksten Partei avanciert. In Wahrheit liegen die Wahl­ab­sichten bei den Jung­wäh­lern mit 20% zwar hoch, aber genau im Durch­schnitt aller anderen Alters­klassen. Daran hat auch die Berufung des erst 23-jährigen Jordan Bardella zum Vize­par­tei­chef und Wahl­kampf­leiter Le Pens bisher nichts verändert.

Emmanuel Macron scheint dagegen im Lauf seiner Amtszeit trotz aller COVID-bedingten Schwie­rig­keiten an Popu­la­rität bei den jungen Leuten gewonnen zu haben. Einer Odoxa-Umfrage vom vergan­genen Dezember zufolge, halten ihn 49% dieser Alters­gruppe für einen „guten Präsi­denten“, 58% finden ihn „sympa­thisch“. Bei den Wahl­ab­sichten liegt er augen­blick­lich bei 29%, während 2017 nur 18% im ersten Wahlgang für ihn gestimmt haben (sein Gesamt­re­sultat lag bei 24,01%). Das sind zusätz­liche Stimmen, die er brauchen wird. Für einen Kandi­daten zur Wieder­wahl, der sich nach wie vor weniger als Besitz­stands­be­wahrer denn als Träger eines Zukunfts­pro­jekts für Frank­reich insze­niert, ist es eine Frage der Glaub­wür­dig­keit, einen signi­fi­kanten Teil der Jugend überzeugt zu haben.

Bei all diesen Erwä­gungen sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass es sich bei den Jung­wäh­lern um eine genauso hete­ro­gene Gruppe handelt wie bei der rest­li­chen fran­zö­si­schen Gesell­schaft, für deren Ausein­an­der­driften der einfluss­reiche Poli­to­loge und Meinungs­for­scher Jérôme Fourquet (IFOP) den Neolo­gismus der „Archi­pe­li­sie­rung“ geprägt hat. Die Risse zwischen sozialen Veran­ke­rungen, ökono­mi­schen Perspek­tiven, kultu­rellen Prägungen oder poli­ti­schen Wert­vor­stel­lungen sind womöglich noch prägnanter als in anderen Generationen.

Was sie alle gemein haben, ist eine tiefe Frus­tra­tion mit der reprä­sen­ta­tiven Demo­kratie. Auf die alljähr­liche Einstiegs­frage in meinem Erst­se­mester-Kurs, wo das aktuelle Unbehagen an der Demo­kratie wohl herrühren könne, erhalte ich unwei­ger­lich die Antwort: „es sind immer dieselben, die an der Macht sind“. Als ob 2017 mit einem jungen, aus dem Nichts kommenden Präsi­denten und, einem zu zwei Dritteln rund­um­er­neu­erten Parlament mit einer Welle von Polit-Neulingen aus der Zivil­ge­sell­schaft nicht statt­ge­funden hätte!

Im Laufe des Semesters gelingt es dann in der Regel, diese spontan formu­lierte Wahr­neh­mung zu diffe­ren­zieren, und es stellt sich heraus, dass es weniger um Einzel­per­sonen oder gar Gene­ra­tio­nen­kon­flikte geht als vielmehr um die Unfä­hig­keit der fran­zö­si­schen Republik, ihre funda­men­talen Verspre­chen einzu­lösen. Die reprä­sen­ta­tive, parla­men­ta­ri­sche Demo­kratie erscheint als System, in dem Ungleich­heiten sich weiter vertiefen, statt behoben zu werden, in dem soziale Mobilität trotz meri­to­kra­ti­schem Anspruch ins Stocken gerät, in dem effektive Maßnahmen gegen die kommende Klima­ka­ta­strophe syste­ma­tisch verwäs­sert werden. Es gelingt diesem System nicht einmal, Rassismus und Diskri­mi­na­tion aus der ihm dienenden Polizei fern zu halten!

Weniger privi­le­gierte junge Leute derselben Gene­ra­tion, die sich in prekären Arbeits­ver­hält­nissen oder gar außerhalb des Arbeits­markts befinden, mögen nicht über das gleiche Vokabular verfügen wie die Studenten in den Hörsälen (oder vor ihren Bild­schirmen), teilen aber, glaubt man den Jugend­for­schern, dieselben Wahr­neh­mungen. Wie in anderen Alters­gruppen hängt es aller­dings von einer Vielzahl sehr persön­li­cher Faktoren ab, welche Konse­quenzen aus diesem Befund gezogen werden und welches Wahl­ver­halten letztlich daraus abge­leitet wird.

Epilog im Elysée

Was die gar nicht mehr ganz so jungen Herren McFly und Carlito betrifft, so gewannen sie ihre Wette auf beein­dru­ckende Art und Weise: ihr harmlos geträl­lertes Liedchen zu den COVID-Hygiene-Regeln wurde zwölf Millionen Mal aufge­rufen. Fünfzehn Millionen Klicks gab es dann für den Besuch der beiden im Elysée-Palast, wo sie einem glänzend aufge­legten Präsi­denten eine „starke Leistung“ beim Anekdoten-Wett­be­werb attes­tierten. Zumal dieser die Gele­gen­heit nutzte, ein weiteres Jugend­idol, den PSG-Superstar Kylian Mbappé per Telefon humorvoll mit einzubeziehen.

Immerhin ist dem Präsi­denten trotz vier mehr als ereig­nis­rei­chen Jahren das Lachen noch nicht vergangen. Ob das reicht, um in einer ziemlich verun­si­cherten Wähler­gruppe neue Sympa­thien zu gewinnen, wird sich erst im kommenden Frühjahr erweisen.

 

P.S.

Urlaubs­lek­türe-Empfeh­lung für deutsche Leser: die diffe­ren­zierte, gründlich recher­chierte und inter­kul­tu­rell einfühl­same Bilanz der Macron-Jahre von Joseph de Weck, gerade unter dem Titel „Emmanuel Macron, der revo­lu­tio­näre Präsident“ beim Weltkiosk-Verlag erschienen (20 Euro).

Textende

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