Die Heldinnen der belarussischen Proteste
Vom Regime unterschätzt waren es oft Frauen, die bei den Demonstrationen in Belarus am sichtbarsten agierten und die Botschaften der Protestierenden der Weltöffentlichkeit vermitteln. Einige gingen aktiv an die Front, andere erhoben sich, als die Männer, denen sie zuvor zuarbeiteten, verhaftet wurden. Historisch bleibt: Das Gesicht der Proteste ist weiblich.
Von den Bildern und Filmen, welche die seit August 2020 andauernden Proteste in Belarus dokumentieren, werden uns vor allem die allgegenwärtigen weiß-rot-weißen Flaggen in Erinnerung bleiben. Die Demonstrationsmenge füllte die eher für Militärparaden entworfenen, sehr breiten Minsker Straßen. Friedliche Demonstrationen von Tausenden Menschen gaben auf eine seltsame Art und Weise den überdimensionalen Straßen und Plätzen einen besseren, menschlicheren Charakter. Wir hatten uns schon daran gewöhnt, dass Demonstrationen Chaos und Unordnung mit sich bringen, aber diesmal entdeckten wir verwundert Bilder, auf denen Demonstranten sofort nach der Demonstration aufräumen. Mehr noch – bevor sie auf Bänke stiegen, um bessere Aussicht auf das Geschehen zu haben, zogen sie ihre Schuhe aus. Es waren so viele Menschen – dies wärmt das Herz.
Frauen mit weiß-rot-weißen Regenschirmen gegen Polizeikolonnen
Andere Bilder erzählten von Auseinandersetzungen im Sinne eines „Wir-gegen-sie“. Wir sahen zahlreiche Versuche, die Polizeikolonne zu durchbrechen; wir sahen Leute über den Rasen der Innenhöfe fliehen; wir sahen wie Polizeitransporter brutal gegen die Menge fahren – es waren Geschichten von Schlägen, Erniedrigung und Verhaftungen. Aber am ikonischsten wirkten die Bilder von protestierenden Frauen. Zahlreiche Frauenmärsche; Frauen, die versuchen vor die Polizeireihe zu treten, um angegriffene Männer zu verteidigen; Frauen mit weiß-rot-weißen Regenschirmen; Frauen in Weiß, die auf diese Art und Weise gegen die Gewalt der Sicherheitskräfte protestierten. Die Proteste in Belarus in den Jahren 2020–2021 verbanden nahtlos die nationale Symbolik mit der Ermächtigung der Frauen.
Nina Baginskaja: Mit über 70 nicht zu alt für Zivilcourage
Die über 70-jährige Nina Baginskaja nahm jahrelang an kleinen Protesten teil und musste dafür oft Bußgelder zahlen sowie andere Unannehmlichkeiten hinnehmen. Auf einem der Filme war zu sehen, wie die Rentnerin die historische weiß-rot-weiße belarussische Flagge verteidigte, die ihr ein OMON-Mitglied zu entreißen versuchte. Zwei junge Belsat-Journalistinnen, Katerina Andrejewa und Daria Tschulzowa, berichteten im Fernsehen über die Proteste. Wir sahen sie dann im Gerichtssaal im charakteristischen „Käfig“, wie sie hinter Gittern das Victory-Zeichen zeigten. Außerdem Maria Kolesnikowa, eine der Protestanführerinnen, die während einer Demo mit Megaphon fotografiert wurde. Gezeigt wurde auch Swetlana Tichanowskaja während einer Rede nach der Bekanntgabe des Ergebnisses der Präsidentschaftswahlen. Dazu viele, viele Bilder von anderen Frauen, deren Namen unbekannt bleiben.
Mächtige Burschen der OMON-Einheiten, doppelt so groß wie Nina Baginskaja, nahmen ihr die Flagge weg. Katerina Andrejewa und Daria Tschulzowa wurden zu zwei Jahren Strafkolonie verurteilt. Maria Kolesnikowa zerriss ihren Reisepass, nachdem sie vom Sicherheitsdienst festgenommen wurde. Man wollte sie zwingen, das Land zu verlassen. Sie wurde verhaftet. Swetlana Tichanowskaja konnte ihre politische Aktivität in Belarus nach den nichtdemokratischen Wahlen nicht mehr fortsetzen. Ihr Mann wurde verhaftet. Sie selbst wurde gezwungen, nach Litauen auszureisen.
Frauen, die historische Verantwortung übernehmen
Die meisten dieser Frauen wollten gar keine politische Rolle spielen. Sie wurden eher dazu gezwungen. Die Proteste brachen zu einem besonderen Zeitpunkt aus – als auf der ganzen Welt die Corona-Pandemie herrschte, die von den belarussischen Behörden nicht als Realität anerkannt wurde. Belarus versuchte sogar Internetseiten zu blockieren, damit die belarussische Gesellschaft von der Corona-Pandemie nicht erfährt. Die Menschen in Belarus hörten jedoch allmählich davon und fühlten sich von den Politikern eher verlassen als repräsentiert. Die von der eigenartigen postsowjetischen patriarchalischen Kultur nicht beachteten Frauen haben diese fehlende Repräsentation doppelt zu spüren bekommen. Männer wurden von dem in Belarus jahrzehntelang autokratisch regierenden Alexander Lukaschenko für Feinde gehalten, er sah sie als Bedrohung für sein Amt. Noch vor den Schein-Präsidentschaftswahlen wurden Männer schnell inhaftiert oder auf andere Weise unterdrückt. Dies betraf u. a. den Blogger und Präsidentschaftskandidaten Sergej Tichanowski, den Geschäftsführer des wichtigen Minsker „Belarus Hi-Tech Parks“ Waleryj Zepkalo, sowie den Finanzfachmann Viktor Babariko. Während Lukaschenko sich auf Männer fokussierte, fingen Frauen an, aktiver zu handeln. Unter ihnen war die Ehefrau von Sergej Tichanowski – die Übersetzerin und Lehrerin Swetlana Tichanowskaja –, die Leiterin der Präsidentschaftskampagne von Viktor Babariko, Maria Kolesnikowa, sowie die Ehefrau von Waleryj Zepkalo, Veronika.
Die Macht der Bilder
Diese und viele andere Frauen wurden zu wichtigen Protestfiguren. Die Frauenmärsche waren eine Ad-hoc-Form der Demonstrationen. Weiße Kleidung sollte den Widerstand gegen die Gewalt symbolisieren. Unter den Protestierenden waren von Anfang an überwiegend Frauen. Sie wurden verhaftet, geschlagen und gefoltert. Vor allem Frauen haben die ersten Märsche gegen Wahlfälschungen in Minsk organisiert. Im Internet und in westlichen Medien sahen wir auf Filmen und Bildern Frauen, die gegenüber OMON-Einheiten standen – sie gaben der belarussischen Protestbewegung eine symbolische Ressource. Damit hatte Lukaschenko nicht gerechnet. Die Entschlossenheit der Frauen und ihr Mut sind auch auf Fotos zu sehen, die kleinere Ortschaften oder Straßenbilder zeigen,– auch einzelne Transparente und Protestakte einsamer Frauen verleihen den Protesten einen breiteren Rahmen.
Es wurde deutlich, dass Frauen in Belarus eine wichtige Rolle spielen. Sie ließen sich neue und innovative Protestformen einfallen, die es unmöglich machten, zum Status quo zurückzukehren. Dies war besonders hart, denn Belarus unter Lukaschenko knüpfte sehr stark an die sowjetische Tradition mit ihrer besonderen Form des Patriarchats an. Lukaschenko hat selbstverständlich das Empowerment der ganzen Gesellschaft nicht gewollt – insbesondere Frauen hatten keine politische Stimme. Im Jahre 2020 wurde die Stimme der Frauen immer politischer und in verschiedenen Kontexten immer mehr in anderen Ländern, auch in Polen, hörbar.
Dissidentinnen gab es auch in der Sowjetunion
Die Minsker Behörden knüpften an die sowjetischen Werte und die sowjetische Weltordnung an. Die Protestantinnen in Belarus hätten jedoch an Dissidentinnen aus der UdSSR anknüpfen können. An dieser Stelle möchte ich eine der größten, obwohl etwas vergessenen, russischen Dissidentinnen in Erinnerung rufen – Natalja Gorbanewskaja. Sie starb 2013 und war im Westen kaum bekannt. Nach dem Einmarsch der Sowjetarmee in die Tschechoslowakei 1968 organisierte sie mit einigen Freunden auf dem Roten Platz in Moskau einen Protest gegen die Invasion. Dazu brauchte man damals sehr viel Mut. Die russische Dissidentin brachte am 25. August 1968 auf den Roten Platz zusammen mit ein paar Personen u. a. die tschechoslowakische Flagge und das Transparent „Für unsere und Eure Freiheit“. Blitzschnell wurden alle vom KGB festgenommen.
Gorbanewskaja gehörte zu dieser Zeit zu den Initiatoren einer kleinen, damals sehr begrenzten Protestbewegung – sie war nicht nur Mitorganisatorin der Solidaritätsdemonstration mit der Tschechoslowakei. Vor allem war sie Herausgeberin und Autorin. Sie schrieb für die „Chronik der laufenden Ereignisse“ – eine im Samisdat (Selbstverlag) erscheinende Zeitschrift, die mit Schreibmaschine abgetippt wurde und später zum Anhaltspunkt und Muster für Dissidenten in allen kommunistischen Ländern wurde. Die „Chronik“ berichtete trocken über Repressionen und Protestakte und wurde später zum Muster für Dissidenten in anderen Ländern des kommunistischen Blocks. Die Dichterin wurde verhaftet, später in einer psychiatrischen Klinik zwangsweise behandelt. Mitte der 1970er wurde sie dann letztendlich zur Migration gezwungen. Gorbanewskaja reiste nach Frankreich aus. Sie hatte enge Kontakte zu Polen und seiner Kultur. Zu ihrem Lebensende nahm sie die polnische Staatsbürgerschaft an.
Die Botschaft des von ihr 1968 auf dem Roten Platz gehaltenen Transparentes – „Für unsere und Eure Freiheit“ – bleibt aktuell. Diese Überlieferung dürfen wir nicht vergessen, genauso wie die Empathie und Solidarität mit Personen, die aktuell für die Freiheit und ein menschenwürdiges Leben in Belarus kämpfen. Wir sollten uns daran in Warschau, Berlin und anderen europäischen Städten erinnern. Mit keiner unserer Gesten riskieren wir so viel wie Gorbanewskaja auf dem Roten Platz im Jahre 1968.
Mateusz Fałkowski ist Soziologe und stellvertretender Direktor des Pilecki-Instituts in Berlin
Übersetzt aus Polnischen von Beata Kubas Łącka
Im Pilecki-Institut, Pariser Platz 4a, Berlin findet derzeit eine Ausstellung zu den belarussischen Protesten statt: „Belarus lebt!“
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