Kann die EU das Rätsel Belarus lösen?

Proteste am 23. August 2020 in Minsk, Belarus, Foto: Castleski/​Shutterstock

Das über vier Monate andau­ernde Patt zwischen dem bela­ru­si­schen Herrscher Aljaksandr Lukaschenka und den demo­kra­ti­schen Demons­tranten stellt eine ernste Heraus­for­de­rung für die EU dar. Während die Gemein­schaft ihre Absicht erklärt, zum geopo­li­ti­schen Akteur aufsteigen zu wollen, muss sie fest­stellen, dass sie nur wenig Einfluss­mög­lich­keiten auf die Krise in ihrer direkten Nach­bar­schaft hat.

Brüssel war rheto­risch aktiv – und verur­teilte Gewalt, Straf­ver­fol­gung und Folter gegen Demons­tranten in Belarus. Nach anfäng­li­cher Verzö­ge­rung folgten Sank­tionen. Die ersten zwei Sank­ti­ons­pa­kete setzten Lukaschenka und dutzende für Repres­sionen Verant­wort­li­cher auf Sperr­listen. Das dritte Paket zielt nicht nur auf Funk­tio­näre sondern auch auf neun Wirt­schafts­leute, die dem Regime nahe­stehen. Die Euro­päi­sche Bank für Wieder­aufbau und Entwick­lung (EBRD) und Euro­päi­sche Inves­ti­ti­ons­bank (EIB) froren ihre Akti­vi­täten im Land ein, mit Ausnahme der noch abzu­schlie­ßenden Projekte.

Weitere Maßnahmen waren größ­ten­teils huma­ni­tären Charak­ters: Die EU versprach, Mittel, die als Hilfen für Minsk gedacht waren, auf die Zivil­ge­sell­schaft und unab­hän­gige Medien umzu­leiten. Die balti­schen Staaten und Polen erleich­terten das Visa-Regime für Belarusen, die vor Verfol­gung fliehen. Vilnius und Warschau beher­bergen nun praktisch alle Anführer der bela­ru­si­schen Oppo­si­tion, die nicht in ihrer Heimat inhaf­tiert sind.

Es ist aller­dings bittere Tatsache, dass die aller­meisten wenn nicht alle dieser Maßnahmen nur geringen Einfluss auf den Entwick­lungs­ver­lauf der Krise in Belarus haben. Lukaschenka hat die Idee der Balance zwischen West und Ost aufge­geben, seine Repu­ta­tion in der EU ist deshalb für ihn kaum von Bedeutung. Seine Entourage und hoch­ran­gige Funk­tio­näre stehen zu Hause vor so gravie­renden Risiken, dass die Unter­drü­ckung der Proteste für sie ungleich wichtiger ist als die Aussicht, von der Sank­ti­ons­liste der EU ausge­spart zu bleiben. Das gleiche gilt für die mit Lukaschenka verbunden Geschäfts­leute; Sie würden eher ihre Profite und Vermögen aufgeben, als sich mit ihrem poli­ti­schen Gönner anzulegen.

Sektorale Sank­tionen, z.B. ein Import­verbot für Ölpro­dukte, liegen momentan nicht auf dem Tisch. Selbst, wenn die Situation eskaliert, wären solche Maßnahmen in der EU kaum konsens­fähig. Darüber hinaus würden solche Maßnahmen die bela­ru­si­sche Wirt­schaft voll­ständig in die Abhän­gig­keit von Russland treiben und die Lage noch kompli­zierter machen.

Das Fehlen effek­tiver Hebel auf Seiten der EU spiegelt die tiefe geopo­li­ti­sche Asym­me­trie – Belarus ist und wird immer deutlich abhän­giger von Russland bleiben. Diese Abhän­gig­keit ist umfassend. Russland ist rele­vanter als die EU in Fragen des Außen­han­dels, Inves­ti­tionen, mili­tä­ri­scher Inte­gra­tion, der Präsenz im Bereich von Kultur und Information.

Ange­sichts dieses Defizits an Instru­menten zur kurz­fris­tigen Einfluss­nahme auf die Entwick­lungen in Belarus, sollte die EU sich auf ihre mittel­fris­tigen Einfluss­mög­lich­keiten konzen­trieren. Es sollte keine Energie darauf verwendet werden, Lukaschenka zu einer Verhal­tens­än­de­rung zu bewegen. Sollte er je sein Verhalten ändern, wird dies in erster Linie aufgrund einhei­mi­schen oder russi­schen Drucks geschehen. Die EU sollte statt­dessen alles dafür tun, die Wahr­schein­lich­keit zu erhöhen, dass ein Wandel in Belarus, wann immer er kommt, in Richtung eines demo­kra­ti­scheren Systems abläuft und nicht die Unab­hän­gig­keit des Landes gefährdet.

Für dieses Ziel sollte Brüssel die richtigen Ansatz­punkte finden, um Einfluss auszuüben. Es gibt drei Mächte, die Lukaschenka zu einer Macht­über­gabe drängen können: das Bela­ru­si­sche Volk, seine eigene Führungs­elite und Russland.

Es gibt kaum etwas, dass die EU tun kann, die Entschie­den­heit des bela­ru­si­schen Volks im Kampf für Demo­kratie zu erhöhen – sie tun bereits mehr, als irgend­je­mand erwartet hatte. Die EU kann allen­falls ein Sicher­heits­netz für diese mutigen Leute aufspannen. Es ergibt Sinn, die huma­ni­täre und medi­zi­ni­sche Hilfe für Opfer der Bruta­lität der Polizei fort­zu­führen und zu verstärken und substan­zi­elle Mittel für die bela­ru­si­schen Soli­da­ri­täts­in­itia­tiven zur Verfügung zu stellen. Diese Initia­tiven im Exil helfen den Menschen in Belarus, ihre Busgelder für poli­ti­schen Akti­vismus zu bezahlen und Kosten für strei­kende Arbeiter zu über­nehmen. Die EU und ihre Mitglied­staaten können auch Bildungs­mög­lich­keiten und Stipen­dien für Studenten und Akade­mi­ke­rinnen ausweiten, die vor der Repres­sion fliehen, sowie die Grenzen für Belarusen öffnen, soweit das während der Pandemie möglich ist.

Zwar werden diese Maßnahmen die Dynamik der Proste nicht direkt beein­flussen. Aber sie werden die Wahr­neh­mung der EU unter den Sympa­thi­santen der Proste erheblich verbes­sern. Die Leute werden sich an dieje­nigen erinnern, die ihnen in harten Zeiten beistanden.

Zweitens sollte die Arbeit mit der bela­ru­si­schen Büro­kratie nicht abge­bro­chen werden. Der Fakt, dass die meisten Funk­tio­näre zum Macht­haber gehalten haben, bedeutet nicht, dass diese Unter­stüt­zung ewig anhalten wird. Viele der hoch­ran­gigen Funk­tio­näre haben reali­siert, dass das Land sich in die falsche Richtung entwi­ckelt. Sie sind einfach noch nicht so weit, etwas dagegen zu unter­nehmen. Im wahr­schein­li­chen Szenario ausblei­bender Reformen und wach­sender Frus­tra­tion Russlands mit Lukaschenka wird die bela­ru­si­sche Wirt­schaft in freien Fall geraten.

Die EU sollte auf den Moment vorbe­reitet sein, wenn das Ausmaß der Probleme selbst die konser­va­tive bela­ru­si­sche Büro­kratie dazu zwingt, nach einem Ausweg aus der Blockade zu suchen. Brüssel sollte mit einer Option für dieje­nigen Mitglieder der Eliten zur Stelle sein, die immer noch Gutes für ihr Land wollen. Wenn sie einen realis­ti­schen Anreiz am Horizont erkennen, werden sie eher geneigt sein, eine Demo­kra­ti­sie­rung des Landes voranzubringen.

Ein wirt­schaft­li­cher Unter­stüt­zungs­plan für ein demo­kra­ti­sches Belarus wird bereits in der EU disku­tiert. Damit dieses Instru­ment effektiv sein kann, muss das Angebot über­zeu­gend sein. Nach der ukrai­ni­schen Erfahrung mit west­li­cher Unter­stüt­zung, die in Minsk als unzu­rei­chend und mit strenger Kondi­tio­na­lität überladen wahr­ge­nommen wurde, miss­trauen bela­ru­si­sche Funk­tio­näre solchen Instru­menten generell und haben ihre Zweifel an deren Mehrwert. Deshalb sollte das Angebot sehr klar und konkret sein: Wenn das Land einen demo­kra­ti­schen Wandel vollzieht – eine von der OSZE aner­kannte Wahl – bekommt es Geld. Zusätz­liche Kondi­tionen, kompli­zierte Instru­mente, vage Verspre­chen wie „Hilfe für den Beitritt von Belarus zur WHO“ und zu viel diplo­ma­ti­scher Jargon um dieses Angebot würden es in den Augen der poten­zi­ellen Adres­saten nur aushöhlen. Die Summe der ange­bo­tenen Unter­stüt­zung sollte auch erheblich sein – wenigs­tens 3 Mrd. Euro, in etwa die Größen­ord­nung auslän­di­scher Unter­stüt­zung, die die bela­ru­si­schen Wirt­schaft jedes Jahr benötigt, um aufrecht­erhalten zu werden.

Um der Botschaft Gehör zu verschaffen sollte die EU die maximal mögliche diplo­ma­ti­sche Präsenz in Belarus aufrecht erhalten. Sollten die bela­rus­si­scher Funk­tio­näre Hinter­tür­ge­spräche führen wollen, sollten sie hierzu in Minsk die Möglich­keit haben.

Schließ­lich muss die EU mit Russland umgehen. Das heißt nicht, über die Köpfe der Belarusen hinweg über das Schicksal von Belarus zu entscheiden. Das ist ohnehin kaum möglich. Statt­dessen kann Brüssel eine Reihe klarer Botschaften an Moskau senden, die Anreize für eine konstruk­tive Rolle in der bela­ru­si­schen Krisen schaffen. Letztlich wollen weder Russland noch der Westen ein weiteres Problem nach Art der Ukraine schaffen, mit dem sie für Jahre zu tun haben.

Die erste Botschaft sollte sein, dass niemand die beab­sich­tigt, Belarus aus den von Russland ange­führten Inte­gra­ti­ons­al­li­anzen heraus­zu­ziehen. Allen verfüg­baren Umfragen zufolge wollen die Belarusen selbst die Grenze zu Russland offen­halten und die wirt­schaft­liche Inte­gra­tion fort­setzen. In Belarus ist die Unter­stüt­zung für eine EU-Mitglied­schaft gering. Trotz der allge­gen­wär­tigen Vertrau­ens­krise zwischen der EU und Moskau sollten diese Versi­che­rungen gegenüber russi­schen Entschei­dungs­trä­gern bei jeder Gele­gen­heit bekräf­tigt werden.

Die EU sollte klar machen, dass sie jede Entschei­dung akzep­tieren wird, die von den Belarusen in freien Wahlen getrof­fenen wird – auch wenn sie auf einen russ­land­freund­li­chen Politiker fällt (was sie nach dem aktuellen Stand der öffent­li­chen Meinung vermut­lich tun würde). Das Haupt­pro­blem, das der Westen mit Lukaschenka hat, ist dessen Bruta­lität und die Verweh­rung von Grund­rechten für sein Volk, nicht seine Orien­tie­rung nach Moskau. Inter­es­san­ter­weise legen die letzten Umfragen nahe, dass die Belarusen zunehmend über die Unter­stüt­zung Russlands für Lukaschenko frus­triert sind und ihre Sympa­thien für Russland sich abkühlen, was für beide Seiten gefähr­lich ist. Dieses Argument sollte gegenüber Moskau betont werden.

Zweitens muss Moskau zu verstehen gegeben werden, dass es einen Preis zahlen wird, sollte es die Schwäche von Lukaschenka kapi­ta­li­sieren wollen. So könnte Moskau es darauf anlegen, ihn in eine tiefere Inte­gra­tion zu zwingen oder andere wirt­schaft­liche oder mili­tä­ri­sche Zuge­ständ­nisse aus ihm heraus­zu­pressen. In einem ersten Schritt könnte die EU die Idee möglicher bela­rus­be­zo­gener Sank­tionen in Umlauf setzen, die sich gegen russische Entitäten richten, die von der Unter­stüt­zung des Lukaschenka-Regimes direkt profi­tieren. Die EU sollte auch klar­ma­chen, dass sie keine Abkommen zwischen Moskau und der ille­gi­timen Führung von Belarus aner­kennen wird, die die staat­liche Souve­rä­nität des Landes einschränken.

Die Bela­rus­krise kann zu einem wichtigen Lack­mus­test für die Fähigkeit der EU werden, mit Problemen in ihrer Nach­bar­schaft umzugehen. Benötigt werden adäquate poli­ti­sche und finan­zi­elle Ressourcen, Hingabe, Geduld und Flexi­bi­lität. All dies mag in diesen turbu­lenten Tagen Mangel­ware sein. Aber das braucht es, um ein erfolg­rei­cher geopo­li­ti­scher Akteur zu sein.

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