Riskante Reflexe der EU

Foto: Beautiful landscape /​ Shut­ter­stock

Führende EU-Politiker, einschließ­lich der Präsi­dentin der EU-Kommis­sion, haben sich ange­sichts des Krieges in der Ukraine für eine sofortige Einlei­tung des Verfah­rens zur Aufnahme des Landes in die EU ausge­spro­chen. Ein äußerst riskanter Vorschlag.

Der Volksmund weiß, wie wichtig es ist, „in der Hitze des Gefechts einen kühlen Kopf zu bewahren“. Ein erschre­ckendes Gegen­bei­spiel bieten derzeit EU-Politiker bis hoch zur Präsi­dentin der EU-Kommis­sion, Ursula von der Leyen, mit ihrer Idee einer „kurz­fris­tigen EU-Aufnahme“ der Ukraine. Der Vorschlag ist nicht nur unklug, er ist in mehr­fa­cher Hinsicht dumm, unver­ant­wort­lich und gefährlich.

Dumm, weil es überhaupt kein Verfahren für eine „kurz­fris­tige“ Aufnahme gibt. Der Mecha­nismus, der einer Mitglied­schaft in der EU voraus­geht, ist ebenso präzise und unwi­der­ruf­lich fest­ge­legt, wie die Voraus­set­zungen, die erfüllt sein müssen, bevor über eine Mitglied­schafts­op­tion abschlie­ßend entschieden werden kann – mit einem Veto-Recht jedes einzelnen der 27 Mitgliedsstaaten.

Aus den diversen, einzu­hal­tenden Fristen für die einzelnen Schritte, deren Prüfung, Ergeb­nis­be­kannt­gabe und Möglich­keit zur Einspruchs­er­he­bung ergibt sich ein Zeitraum von 18 Monaten als Mindest­dauer für das Gesamt­ver­fahren. Wie zynisch ist es, andert­halb Jahre als „kurz­fristig“ zu bezeichnen gegenüber einem Land, das sich buch­stäb­lich mit Leib und Seele gegen einen über­mäch­tigen Feind und den Verlust seiner Souve­rä­nität und Freiheit stemmt, und das schon zwei Wochen nach dem Einmarsch von Putins Truppen am Rand des Zusam­men­bruchs steht?

Fehlende euro­päi­sche Sicherheitsarchitektur

Unver­ant­wort­lich, weil nicht nur den Menschen in der Ukraine, sondern generell der Eindruck vermit­telt wird, dass es ein greif­bares Mittel gebe, um die Ukraine vor der drohenden, ersti­ckenden Umklam­me­rung durch Russland zu schützen, indem die EU das Land mal eben im Schnell­ver­fahren zum Mitglied erkläre und in ihre Arme schließe.

Unver­ant­wort­lich auch deshalb, weil (sogar seitens der höchsten Reprä­sen­tantin der EU!) sugge­riert wird, eine EU-Mitglied­schaft könne unter bestimmten Umständen politisch verschenkt werden und damit das ersetzen, was die EU über Jahre versäumt hat und nun ein wesent­li­cher Grund ist für das Ausmaß der Kriegs­ka­ta­strophe in der Ukraine: sich um eine euro­päi­sche Sicher­heits­ar­chi­tektur zu kümmern.

Gefähr­lich, weil der leicht­fer­tige Vorschlag, wie man sieht, weitere, mit der EU asso­zi­ierte osteu­ro­päi­sche Staaten wie Georgien und Moldau zum Tritt­brett­fahren ermutigt hat und ihrer­seits Anträge auf eine sofortige Aufnahme von Mitglieds­ver­hand­lungen stellen ließ, ohne dass die Regie­rungen dieser Länder – deren Bevöl­ke­rung mehr­heit­lich einen pro-euro­päi­schen Kurs befür­wortet – die dafür zwingend voraus­ge­setzten Fort­schritte vorweisen könnten.

Kalt­schnäu­ziger Tritt­brett­fahrer: Georgien

Im Fall Georgiens ist die erfolgte Abgabe eines Antrags zur sofor­tigen Aufnahme von Mitglieds­ver­hand­lungen von zusätz­li­cher Deli­ka­tesse. Oder, weniger diplo­ma­tisch ausge­drückt: von einem geradezu unver­fro­renen Maß an Provo­ka­tion, bedenkt man die Kalt­schnäu­zig­keit, mit der dasselbe Personal der amtie­renden geor­gi­schen Regierung im vergan­genen Jahr Verein­ba­rungen mit der EU über Nacht gebrochen und die daraufhin ange­drohte Sperrung weiterer EU-Subven­tionen mit Aussagen quit­tierte wie: „Georgien braucht das Geld der EU nicht!“, und „Georgien verbittet sich die dauernde Einmi­schung der EU.“

Ein ausge­streckter Mittel­finger wäre wohl die bildliche Über­set­zung auch für das Verhalten der geor­gi­schen Macht­haber in der Zeit davor gewesen: Milli­arden Euro an EU-Geldern sind nicht erst in den Jahren seit seiner Aufnahme in die „Östliche Part­ner­schaft“, 2009, und seiner Asso­zi­ie­rung, 2014, in das Land am Südkau­kasus geflossen. Wer indes grund­le­gende, über­prüf­bare und nach­hal­tige Verbes­se­rungen sucht, der sucht weitest­ge­hend vergebens. Die Armut hat nie dage­we­sene Dimen­sionen erreicht, der Reichtum einiger weniger und deren Rück­sichts­lo­sig­keit in Bezug auf liberale Struk­turen, wirt­schaft­liche Teilhabe, soziale Gerech­tig­keit, poli­ti­schen Anstand auch. Von Umwelt‑, Natur- und Klima­schutz zu schweigen.

Die in den Jahren nach 2004 ziemlich erfolg­reich bekämpfte und weit­ge­hend besiegte Korrup­tion in Georgien verbreitet sich wieder rasant. Das Justiz­system ist trotz viel­fa­cher Mahnungen immer noch nicht refor­miert, Staats­an­wälte und Richter, mit zählbaren Ausnahmen, partei­po­li­tisch besetzt oder käuflich – oder beides. Die EU muss sich vorwerfen lassen, dass sie all dem nichts Entschei­dendes entge­gen­ge­setzt hat.

Optionen bedenken, statt Illu­sionen wecken

Sollte die Vernunft, die sich bezüglich des Vorschlags einer „Sofort­auf­nahme“ der Ukraine in die EU bislang auf den Präsi­denten des Rates der EU, Charles Michel, zu beschränken scheint (er nannte den Vorschlag „legitim, aber eher symbo­lisch“), auch bei denen einkehren, die sich derzeit an ihrer aber­wit­zigen Idee berau­schen, wäre man gut beraten, selbige unver­züg­lich leise beiseite zu legen. Eine ernst­hafte Befassung mit den inzwi­schen vorlie­genden Anträgen müsste, wenn es mit rechten Dingen zugeht, bei jedem der drei Länder zu einem ableh­nenden Bescheid führen. Peinlich genug, dass der Vorfall beispiel­haft zeigt, wie planlos die EU derzeit dasteht und agiert, wenn es um die Frage des perspek­ti­vi­schen Umgangs mit den diversen asso­zi­ierten Ländern geht.

Statt uner­füll­bare Hoff­nungen zu wecken, täte man in Straßburg und Brüssel gut daran, sich endlich Gedanken darüber­zu­ma­chen, welche realis­ti­schen Optionen es  für eine Ukraine von morgen geben kann; welche Möglich­keiten die EU zur Vermitt­lung eines raschen Frie­dens­schlusses hat und wo die Grenzen ihres Einflusses liegen. Nicht zuletzt: welche Arten an Vorsorge jetzt getroffen werden müssen, um die EU als hand­lungs­fä­higes Konstrukt zu erhalten, falls der (gar nicht so unwahr­schein­liche) „worst case“ eintreten sollte, die russische Wirt­schaft zusam­men­bricht, Putin den Gashahn gen Westen zudreht, statt­dessen den Gasfluss nach Osten lenkt und stra­te­gisch noch stärker auf eine Konso­li­die­rung seiner Bezie­hungen mit China und eine Stabi­li­sie­rung bzw. Auswei­tung des russi­schen Einflusses im Nahen und Mittleren Osten, sowie wirt­schaft­lich inter­es­santen Regionen in Afrika setzen sollte. Wohl­ge­merkt: Die USA wären von einem Zusam­men­bruch der russi­schen Wirt­schaft sicher­heits­po­li­tisch eher marginal betroffen. Europa hingegen massiv.

Erst wenn all diese Erwä­gungen bedacht und in Gestalt von mittel- bis lang­fris­tigen Stra­te­gien nebst konkreten Hand­lungs­op­tionen ausfor­mu­liert sind, kann die Rede davon sein, dass die EU-Politik „aufge­wacht“ sei und „geopo­li­tisch zu denken begonnen“ habe.

Bis dato handeln die Spitzen der EU wie gewohnt: Sie verwech­seln „Reflex“ mit „Reflexion“, und sie versuchen „Reagieren“ als „Agieren“ zu verkaufen. Das Risiko der Folgen daraus ist größer als je zuvor. Denn was am 24. Februar 2022 früh­mor­gens begonnen hat, ist keine Krise mehr. Es ist Krieg.

Textende

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