Wahl in Georgien – Unruhige Zeiten für den gekaperten Staat
Während Europa und die Welt auf die USA blickt, droht Georgien eine neue Phase innerer Unruhen. Der Ausgang der Wahl zum Nationalparlament ist umstritten. Ein Blick auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation in dem zu einem Fünftel von Russland besetzten Land zeigt besorgniserregende Entwicklungen.
Das Ergebnis der Wahl in Georgien am 31. Oktober 2020 hat politische Beobachter ebenso überrascht wie die Umfrageinstitute: Keines, das auch nur annähernd richtig gelegen hätte. Einbußen der Regierungspartei „Georgischer Traum“, angeführt von dem undurchsichtigen Milliardär Bidsina Iwanischwili, blieben ebenso aus, wie ein Zugewinn der größten Oppositionspartei „Vereinte Nationale Bewegung“, nach wie vor stark geprägt von dem geschassten, aber von der Ukraine aus Einfluss nehmenden, Ex-Staatspräsidenten Micheil Saakaschwili.
Neben den beiden Groß-Parteien „Georgischer Traum“ mit 48,15% (2016: 48,68%, 2012: 54,92%) und „Vereinte Nationale Bewegung“ mit 27,14% (2016: 27,11%; 2012: 40,22%) haben sieben weitere Parteien die neuerdings geltende 1%-Hürde und damit den Einzug ins Parlament geschafft; eine mit knapp 4%, vier mit rund 3% und zwei Parteien mit knapp mehr als 1%.
Damit ist zwar die starke politische Polarisierung nicht aufgebrochen, aber einer Reihe junger Parteien die Chance gegeben, ihre Ziele über den parlamentarischen Alltag besser zu vermitteln. Vorausgesetzt sie nehmen ihre Mandate an, wonach es derzeit nicht aussieht: Alle kleinen Oppositionsparteien haben sich dem Aufruf von Saakaschwilis Vereinter Nationaler Bewegung angeschlossen und erklärt, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen und ihre Mandate nicht anzutreten. Stattdessen rufen Sie die Bevölkerung zu Protesten und Streiks auf und fordern Neuwahlen wegen angeblich massiven Wahlbetrugs. Ein Vorwurf, dem der Bericht der internationalen Wahlbeobachtungsmission der OSZE klar widerspricht. Georgien dürften einmal mehr unruhige Zeiten bevorstehen.
Ein müde regiertes Volk
Die Wahlbeteiligung von 56% zeigt, wie politikmüde die Menschen im Land sind. Sie gleicht jenem typisch georgischen Schulterzucken, das eine Schicksalsergebenheit in allen Lebenslagen ausdrückt.
Seit Erlangung der Unabhängigkeit, 1990, als sie bei über 80% lag, sank sie kontinuierlich. 2004, als die friedliche „Rosenrevolution“ Eduard Schewardnadse zum Rücktritt gezwungen hatte, gingen noch rund 70% zu den Urnen, um ihren gefeierten Helden „Mischa“ Saakaschwili mit 96% (sic!) der Stimmen zum Staatspräsidenten zu wählen.
Acht Jahre später, also nur 18 Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit, hatten bereits 40% das Vertrauen in die georgische Politik verloren: Nur noch 59,8% ließen sich 2008 mobilisieren, um mit einer 55% gegen 40%-Entscheidung, Saakaschwili wieder abzuwählen, und sich dem gleichsam aus dem Nichts erschienenen, zuvor nur als „Mann ohne Gesicht“ bekannten, Oligarch Bidsina Iwanischwili zuzuwenden.
Interessant indes ist, wo auch in 2020 wieder die höchsten Wahlbeteiligungen verzeichnet wurde: In den Kaukasusregionen entlang der russischen Grenze, an der Schwarzmeer-Küste und in Regionen entlang der sogenannten „Administrative Border Lines“, also der faktisch, aber nicht völkerrechtlich bestehenden Grenzen zu den von Russland besetzten Gebieten Abchasien und Tskhinvali/Süd-Ossetien. – Wenn also etwas noch ein paar mehr Wähler mobilisieren kann in Georgien, dann scheint es die Angst vor dem Erzfeind Russland zu sein.
Währungsverfall, Inflation, Arbeitslosigkeit
Verwundern kann diese Politikmüdigkeit weiter Teile der georgischen Bevölkerung nicht: Die Währung des Landes verlor seit Übernahme der Regierung durch Iwanischwili und seine Gefolgsleute im Januar 2013 mehr als die Hälfte ihres Werts. Die Auslandsverschuldung hat sich annähernd verdoppelt. Die jährliche Handelsbilanz sank in den ersten beiden Regierungsjahren des „Georgischen Traums“ auf ein Allzeittief, das um ein 3‑faches niedriger lag als im Durchschnitt der Saakaschwili-Jahre. Seitdem verbesserte sie sich zwar leicht, blieb aber ‚stabil‘ im negativen Bereich und auf einem Wert, der um ein 2.5‑faches niedriger liegt als während der Jahre unter Saakaschwili.
Die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts liegt – abgesehen von einem Vergleich mit dem Jahr des Augustkriegs 2008 und dem darauffolgenden – konstant erheblich unterhalb der Rate, die die georgische Wirtschaft während der Jahre unter Saakaschwili erzielt hat.
Dagegen stieg der Verbraucherpreisindex von knapp über 100 auf 145, die Kerninflationsrate von minus 0,5% in 2012 auf 6.5% in 2020 und die Inflationsrate für Nahrungsmittel, die in den Saakaschwili-Jahren kaum über, oft unter Null Prozent lag, auf deutlich über 15%.
Auf dem „Gini-Index“ der World Bank, der die Ungleichverteilung von wirtschaftlichem Vermögen in einem Land ausweist, steht Georgien auf dem schlechtesten Platz unter allen der EU angehörenden Nationen, mit Werten, die, nach kurzer Erholung unter Saakaschwili, seit 2008 kontinuierlich sinken und auch in 2019 weiter gesunken waren. Im Klartext: Die Reichen in Georgien werden immer reicher, die Armen immer ärmer.
Verheerende Bilanz nach acht Regierungsjahren
Desaströser kann eine Bilanz nach acht Jahren Regierungszeit kaum ausfallen. Und dabei wurde noch nicht nach der Entwicklung von Löhnen und Gehältern gefragt. Oder nach Fortschritten im Bildungs- und Gesundheitssystem. Oder nach der Unabhängigkeit der Justiz und der Korruptionsanfälligkeit von Behörden und Polizei. Oder, last but not least, welche Länder die wichtigsten Handelspartner des Landes sind (an zweiter Stelle steht, groteskerweise, Russland) und wo die Milliarden Euro an Fördergeldern geblieben sind, die von der EU und vielen anderen westlichen Institutionen Jahr für Jahr in das Land fließen und dort zu einem erheblichen Teil zu versickern scheinen, ohne dass jemals wirklich die Frage nach Effizienz und Nachhaltigkeit gestellt zu werden scheint.
Mit den Antworten auf diese Fragen fiele das Gesamtbild noch verheerender aus. Zwar stiegen die Löhne und Gehälter im Durchschnitt auf knapp das Doppelte; nach Abzug von Verlusten durch Währungsverfall, Inflation und Verteuerung von Nahrungsmitteln, Strom, Gas, Wasser, Gesundheit und das von den Georgiern so heiß geliebte Auto, bleibt dem Durchschnittsbürger nicht mehr, sondern deutlich weniger im Portemonnaie.
Wer krank wird, muss betteln gehen
Angesichts dessen sollte niemand krank werden in der Familie, oder die Waschmaschine, der Gefrierschrank, geschweige denn das so geliebte Auto kaputt gehen. Sonst muss man im Verwandten- und Freundeskreis betteln gehen oder das bisschen Schmuck, Geschirr oder Besteck, das die Sowjetzeit überlebt hat, auf der Straße zum Verkauf anbieten.
Armut ist allgegenwärtig in diesem Land. Erfasst wird die Armutsrate aber ebenso wenig, wie es eine aufrichtige Erwerbslosenstatistik gibt: Offiziell liegt die Arbeitslosenquote bei rund 14%. Experten schätzen sie auf bis zu 45%. Denn als „erwerbstätig“ gilt bereits, wer auch nur einen kleinen Nutzgarten hat, in dem etwas Obst und Gemüse als Beitrag zur Selbstversorgung oder zum Verkauf am Straßenrand reift. Das gilt für die komplette Landbevölkerung, also mehr als die Hälfte der 3.8 Millionen Einwohner im Land.
Fehlende Alternativen zum Universitätsstudium
Ähnliche Augenwischerei betreibt die georgische Regierung mit dem nach wie vor enormen Problem der Jugendarbeitslosigkeit. Laut offizieller Statistik soll sie sich von 34% (2013) auf 26% (2020) verringert haben. In Wahrheit verbirgt sich dahinter eine Über-Akademisierung, denn im gleichen Zeitraum stieg der Anteil an Studierenden um fast 20%. Junge Menschen, die in wenigen Jahren der Heerschar an Taxifahrern, Schwarzarbeitern und Straßenverkäufern beitreten wird. Eine Wirtschaft, die den Jungakademikern adäquate Arbeitsplätze anbieten könnte, gibt es ebenso wenig, wie eine Alternative zur Universität, in Form von Lehrberufen. Zwar gibt es zahlreiche Initiativen, das von Deutschland bekannte „Duale Ausbildungssystem“ einzuführen – aber wo sollen die Ausbilder herkommen, wenn es keine Fachbetriebe gibt und nach wie vor keine Behörden geschaffen wurde, um diesen Weg systematisch aufzubauen, Ausbildungsbetriebe zu zertifizieren und in den Basisschulen dafür zu werben?
Um nicht missverstanden zu werden: Die Abwahl von Saakaschwili im Oktober 2012 war eine dringend notwendige Befreiung. Doch rückblickend zeigt sich, dass die Skeptiker Recht behalten sollten: Auch dieser Befreiung folgte nur eine neue Form von Kaperung dieses wunderbaren Landes. Bidsina Iwanischwili, der als Weißer Ritter erschienen war, erwies sich als Schwarzer Fürst – mit Helikopter, eigener Bank, Milliardenkonten in Steueroasen – und einer unstillbaren Gier nach mehr. Er regiert das Land, als wäre es sein Besitz und saugt es aus. Keine politische Entscheidung, ohne sein „Ja“. Kaum ein wirtschaftliches Großprojekt ohne Verknüpfung mit seinem Imperium. Immer mehr fadenscheinige Gerichtsverfahren gegen unbequeme Kontrahenten.
„Georgien ist heute nicht besser, aber immerhin anders schlecht.“ Auf diesen sarkastischen Nenner brachte es jüngst ein namhafter Satiriker. So gesehen hatten seine Landsleute bei der Wahl am 31. Oktober nur die Entscheidung zwischen Pest und Cholera.
Wenn es dennoch einen Hoffnungsschimmer gibt, dann liegt der bei den erwähnten, wenigen Ausnahmen unter den jüngst gegründeten, kleinen Oppositionsparteien, die die 1%-Hürde schafften. Zum Beispiel bei „Girchi“ („Tannenzapfen“), die landesweit auf 2,9%, in einigen städtischen Wahlbezirken mit vorwiegend junger Bevölkerung und hohem Anteil an Erstwählern aber bis zu knapp 10% erreichen konnten – und das, ohne über wesentliche finanzielle Mittel und Zugang zu großen Medien zu verfügen. Gegründet wurde die Partei von engagierten jungen Menschen, die sich der herrschenden georgischen Politik mit einer erstaunlich differenzierten Kombination aus klar benannten, westlich liberalen Werten und ebenso konkreten wie realitätsnahen Vorschlägen zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung des Landes entgegenstellen. – Ginge die Saat von Parteien wie „Girchi“ auf, gäbe es doch noch Hoffnung für Georgien.
Zunächst aber sind einmal mehr die Mediationskünste westlicher Diplomaten vor Ort gefragt. Sie sollen in einem Konflikt vermitteln, der wie der zornige, kleine Bruder dessen erscheinen mag, was Donald Trump und die Republikanische Partei zur Zeit in den USA inszenieren:
Die Gruppe der Oppositionsparteien in Georgien besteht – entgegen dem Fazit der internationalen Wahlbeobachter – darauf, dass das Wahlergebnis vom 31.10. substanziell gefälscht worden sei und die Wahlen wiederholt werden müssten. Belege dafür gibt es nicht, aber die Behauptung allein, kombiniert mit der Drohung, man werde die Mandate nicht annehmen und damit die Zustimmung zur Konstitution des neu gewählten Parlaments verweigern, hat ausgereicht, um mehrfach in den letzten beiden Wochen Zehntausende in Tbilisi und anderen Städten auf die Straße zu bringen.
Zwar blieben die Proteste, zu denen die Opposition aufgerufen hat, bislang weitgehend friedlich. Sie schufen aber auch jene Form der „Sackgassen-Situation“, die sich in Georgien erfahrungsgemäß rasch in ein Pulverfass verwandeln kann. Trotz ziemlich klarem Ergebnis bei den Wahlen ist also keineswegs entschieden, welchen Kurs der gekaperte Staat Georgien in den nächsten Jahren aufnehmen wird.
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