Kandi­da­ten­status für die Ukraine

Foto: Presi­dential Office of Ukraine

Im Rahmen unseres Pro­jek­tes „Öst­li­che Part­ner­schaft Plus“ ver­öf­fent­li­chen wir eine Reihe von Input Papers zum Thema: Perspek­tiven und Wege zum EU-Kandi­da­ten­status für die Ukraine, Georgien und die Republik Moldau.

Für die Ukraine analy­siert Dmytro Shulga die politische Lage und formu­liert seine Hand­lungs­emp­feh­lun­gen an die Ent­schei­dungs­trä­gerInnen in Berlin und Brüssel, warum die EU ein geopo­li­ti­scher Akteur werden sollte und dem Trio im Juni einen EU-Kandi­da­ten­status verleihen sollte.

Wir leben in einer für Europa histo­risch bedeut­samen Zeit, die histo­rische Entschei­dungen erfordert. Die großan­ge­legte russische Invasion der Ukraine vom 24. Februar 2022 markiert das definitive Ende der europäi­schen Ordnung nach dem Kalten Krieg. Wie haben es mit einer histo­ri­schen Zeiten­wende für Deutschland und ganz Europa zu tun.

Am 28. Februar 2022, dem fünften Tag der russi­schen Invasion, reichte Präsident Wolodymyr Selenskyj den Antrag auf eine EU-Mitglied­schaft der Ukraine ein und erfüllte damit einen lang gehegten Wunsch der Ukrainer:innen.

Gemäß Artikel 49 des EU-Vertrags kann ein europäi­scher Staat, der die europäi­schen Werte[1] achtet, eine Mitglied­schaft in der EU beantragen. Die Mitglied­staaten der EU müssen hierzu einstimmig Beschlüsse[2] fällen, und zwar nach Anhörung der Europäi­schen Kommission und nach Zustimmung des Europäi­schen Parla­ments.

In der Praxis müssen die Mitglied­staaten der EU zunächst den Antrag prüfen und dem Land durch einstim­migen Beschluss den Status eines Beitritts­kan­di­daten verleihen. Dann können sie mit dem Land auch Beitritts­ver­hand­lungen eröffnen, die sich auf 35 Kapitel konzen­trieren, nämlich auf bestimmte Politik­be­reiche mit der Übernahme und einer Umsetzung des Rechts­be­stands (des „Acquis“) der EU. Sind die Verhand­lungen erfolg­reich abgeschlossen, muss einstimmig ein Beitritts­vertrag abgeschlossen werden.

Nach der Antrags­stellung durch die Ukraine gab das Europäische Parlament bereits am 1. März eine Stellung­nahme ab, in der es sich für einen Status der Ukraine als Mitglieds­kan­didat aussprach. Diese Resolution wurde mit einer überwäl­ti­genden Mehrheit von 637 Ja-Stimmen (bei insgesamt 705 Abgeord­neten) verab­schiedet. Am 7. März forderten die Mitglied­staaten der EU (der Rat der EU) dann die Europäische Kommission zu einer Stellung­nahme auf.

In der Erklärung von Versailles beim infor­mellen EU-Gipfel vom 10. und 11. März 2022 hielten die Staats- und Regierungschef:innen der EU-Staaten fest: „Bis zu der Stellung­nahme [der Kommission] werden wir unver­züglich unsere Bezie­hungen weiter stärken und unsere Partner­schaft vertiefen, um die Ukraine auf ihrem europäi­schen Weg zu unter­stützen. Die Ukraine ist Teil unserer europäi­schen Familie [Hervor­hebung durch d. Verfasser].“

Anschließend folgte die Europäische Kommission der Standard­me­tho­do­logie zur Ausar­beitung ihrer Stellung­nahme und bat die ukrai­nische Regierung um die notwen­digen Infor­ma­tionen, die in einem ausge­füllten Frage­bogen vorzu­legen sind. Das erfolgte am 9. Mai.

Derzeit bereitet die Europäische Union ihre Stellung­nahme zum Antrag der Ukraine vor und legt die Ergeb­nisse einer Analyse vor, inwieweit das Land die politi­schen, wirtschaft­lichen und sekto­ralen Mitglied­schafts­kri­terien erfüllt (Grad der Annäherung an das EU-Acquis).[3] Es wird erwartet, dass die Stellung­nahme der Kommission im Juni vorliegen wird und dass sie positiv ausfallen, also für die Ukraine den Status eines Beitritts­kan­di­daten empfehlen wird.

Anschließend werden die EU-Staaten bei der Tagung des Europäi­schen Rats am 23. und 24. Juni eine politische Entscheidung treffen müssen. Entweder werden sie der Ukraine den Kandi­da­ten­status zusprechen (und die Bedin­gungen für die Eröffnung von Beitritts­ver­hand­lungen formu­lieren), oder sie werden ihn nicht verleihen und statt­dessen etwas Gerin­geres anbieten (den Status eines „poten­zi­ellen Kandi­daten“ mit einigen Vorbe­din­gungen zur Erlangung eines tatsäch­lichen Kandi­da­ten­status’ oder nur die Formu­lierung einer „Aussicht auf Mitglied­schaft“). Oder die Entscheidung wird vertagt, wenn kein Konsens erreicht wird.

 

Acht Gründe, warum Deutschland die Entscheidung unter­stützen muss, der Ukraine den Kandi­da­ten­status zu verleihen

1. Weil es von einer absoluten Mehrheit der EU-Bürger:innen unter­stützt wird, auch in Deutschland.

Nach Beginn der großan­ge­legten russi­schen Invasion hat sich in der EU die öffent­liche Meinung zur Ukraine drama­tisch gewandelt. Eine Meinungs­um­frage der Jean-Jaures-Stiftung vom März 2022 ergab eine Unter­stützung für einen EU-Beitritt der Ukraine von 69 % in Deutschland, 62 % in Frank­reich, 71 % in Italien und 91 % in Polen. Der Unter­su­chung zufolge liegt die Unter­stützung für eine ukrai­nische EU-Mitglied­schaft in Deutschland bei CDU-Anhängern bei 71 % und bei SPD-Anhängern sogar noch höher, nämlich bei 79 %. Sogar in Ostdeutschland, wo der Wider­stand gegen eine EU-Erwei­terung tradi­tionell groß ist, waren 56 % für einen Beitritt. Nur bei den AfD-Anhängern war eine Mehrheit dagegen (59 %).[4]

Das offizielle Meinungs­for­schungs­in­strument der EU, das Euroba­ro­meter, zeigte in einer Umfrage im Auftrag der Europäi­schen Kommission vom April 2022 ähnliche Ergeb­nisse auf. Diesen offizi­ellen EU-Daten zufolge unter­stützen 66 % der EU-Bürger eine EU-Mitglied­schaft der Ukraine, in Deutschland waren es 61 %.5


2. Weil es nur um einen Kandi­da­ten­status geht und nicht um eine Mitglied­schaft, die erst in einigen Jahren erfolgen könnte.

Die Ukraine als Beitritts­kan­didat anzuer­kennen ist nicht gleich­be­deutend mit einem EU-Beitritt, es eröffnet lediglich die Möglichkeit von (langwie­rigen) Beitritts­ver­hand­lungen, deren Ausgang nicht feststeht.

Es gibt kein „Schnell­ver­fahren“ oder eine „Abkürzung“ zu einer EU-Mitglied­schaft; es gibt ein Standard­ver­fahren. Die Erwar­tungen der Ukraine gehen jetzt lediglich dahin, dass es einen „schnellen Gang durch das Standard­ver­fahren“ geben wird. In erster Linie demons­triert die ukrai­nische Regierung ihre Bereit­schaft und Fähigkeit, sämtliche, notwendige technische Schritte so schnell wie möglich zu unter­nehmen, und sie erwartet das Gleiche von der EU. So benötigte die ukrai­nische Regierung in Zeiten des Krieges nur einen Monat, um den Frage­bogen der Europäi­schen Kommission auszu­füllen. Dazu hatten frühere Anwärter viele Monate (mitunter über ein Jahr) gebraucht.

Dennoch ist klar, dass ein EU-Beitritt Jahre brauchen wird, selbst im besten Fall. In der jüngsten Geschichte einer erfolg­reichen EU-Erwei­terung der vergan­genen 20 Jahre hatte die Verhand­lungs­phase von der Eröffnung bis zum Abschluss drei bis sechs Jahre gedauert.[6] Hinzu kommen ein bis zwei Jahre für die offizi­ellen Unter­schriften, die Ratifi­zie­rungen und das Inkraft­treten. Somit könnte die Ukraine selbst beim günstigsten Szenario, bei dem sie im Juni 2022 den Kandi­da­ten­status erhält und die Verhand­lungen bald eröffnet und erfolg­reich abgeschlossen werden, frühestens in fünf bis sieben Jahren der EU beitreten.

3.Weil die Ukraine diesen Status durch die Erfüllung der Kriterien objektiv verdient.

Es gibt einen umfas­senden Konsens in der ukrai­ni­schen Regierung wie auch in der Zivil­ge­sell­schaft, dass die Ukraine den Status als EU-Beitritts­kan­didat nicht wegen einer Vorzugs­be­handlung verdient, sondern aus objek­tiven Gründen, da sie erheb­liche Fortschritte bei der Annäherung an die EU macht und so die erfor­der­lichen Kriterien erfüllt.

Die Ukraine hat ihre Annäherung an das EU-Acquis vor über zwei Jahrzehnten begonnen. Vor der Einrei­chung des Beitritts­an­trags hat die Ukraine das Assozi­ie­rungs­ab­kommen mit der EU nach dessen Unter­zeichnung 2014 acht Jahre lang erfüllt. Das ist ein sehr weitge­hendes Abkommen, da es bereits den größten Teil des EU-Acquis abdeckt. Bis 2017 hat die Ukraine erfolg­reich die Visali­be­ra­li­sie­rungs­kri­terien umgesetzt, was dabei half, den gesamten insti­tu­tio­nellen Rahmen zur Korrup­ti­ons­be­kämpfung aufzu­bauen und in Gang zu setzen. Die Bestim­mungen des Assozi­ie­rungs­ab­kommens zu einer vertieften und umfas­senden Freihan­delszone (DCFTA), die seit 2016 gelten, sehen eine tiefgrei­fende sektorale Integration in den Binnen­markt der EU vor.[7] Praktisch ist es so, dass die Ukraine bereits sämtliche Kapitel für eine Eröffnung von Beitrags­ver­hand­lungen aufge­schlagen hat.[8]

Die Fortschritte bei der Umsetzung des Assozi­ie­rungs­ab­kommens unter­liegen einer jährlichen Prüfung durch die Europäische Kommission. In einer Reihe von Sektoren werden durch Experten zusätzlich Evalu­ie­rungen vorge­nommen. 2021 unter­nahmen die ukrai­nische Regierung und die Europäische Kommission eine umfas­sende Prüfung, inwieweit sämtliche Ziele des Assozi­ie­rungs­ab­kommens erreicht wurden. Laut Einschätzung der ukrai­ni­schen Regierung sind bis Ende 2019 bereits 63 % der notwen­digen Hausauf­gaben im Rahmen des Assozi­ie­rungs­ab­kommens erledigt worden.[9]

Die Europäische Kommission hat zwar keine eigenen Prozent­zahlen zum Vergleich vorgelegt, doch bestand der wichtigste Indikator darin, dass die Europäische Kommission im Laufe der Jahre 2020 und 2021 damit begann, eine Reihe von Entschei­dungen zur weiteren sekto­ralen Integration der Ukraine in den EU-Markt vorzu­be­reiten – und zwar in Anerkennung der erledigten Hausauf­gaben aus den entspre­chenden Kapiteln des Assozi­ie­rungs­ab­kommens (zum Zollwesen, zu techni­schen Vorschriften, zu elektro­ni­schen Kommu­ni­ka­ti­ons­wegen, zur öffent­lichen Auftrags­vergabe usw.).[10]

Im Bereich der Recht­staat­lichkeit ist ein solider insti­tu­tio­neller Rahmen zur Korrup­ti­ons­be­kämpfung aufgebaut worden, der funktio­niert hat und in Zeiten des Krieges weiter funktio­niert. Am proble­ma­tischsten erschien das Gerichts­system, also wurden 2021 eine neue Strategie und neue gesetz­liche Bestim­mungen verab­schiedet, mit denen eine Verwal­tungs­reform des Justiz­systems ermög­licht werden sollte. Die Umsetzung wurde mit Unter­stützung der EU begonnen und wird während des Krieges fortge­führt. Daher ruft die ukrai­nische Zivil­ge­sell­schaft die EU auf, die Reform­fort­schritte anzuer­kennen (Die Fortschritte wurden in der Tat gemeinsam erreicht – mit der Unter­stützung und dem Engagement der EU) und der Ukraine den Status eines Beitritts­kan­di­daten zu verleihen. Das wäre der effek­tivste Rahmen, um die Reformen weiter voran­zu­treiben.[11]

Foto: privat

Da das Monitoring zur Umsetzung des Assozi­ie­rungs­ab­kommens und dessen Evalu­ierung erfolgt sind, verfügte die Europäische Kommission tatsächlich über ausrei­chend Kennt­nisse über die Ukraine, bevor sie sich an die Prüfung des Beitritts­an­trags machte. Gleichwohl bat sie die ukrai­nische Regierung um Antwort mit Hilfe eines Frage­bogens, der einen ähnlichen Umfang hatte wie im Falle früherer Anwärter.[12] In Zeiten des Krieges schaffte es die ukrai­nische Regierung, den gesamten Fragen­ka­talog in nur einem Monat zu beant­worten (während es bei anderen Anwärtern bis zu einem Jahr oder mehr dauerte, bis ein solcher Frage­bogen ausge­füllt wurde), und das mit hoher Qualität (da die Europäische Kommission keine Nachfragen übermittelte).

Insgesamt haben die ukrai­ni­schen Insti­tu­tionen während des Krieges eine überra­schend hohe Stabi­lität und Funktio­na­lität gezeigt. Die frühere Annäherung an das EU-Acquis und die Politik der EU haben zu dieser Wider­stands­fä­higkeit beigetragen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die erfolg­reiche Testung des Elektri­zi­täts­systems der Ukraine und dessen letzt­liche vollständige Synchro­ni­sierung mit dem europäi­schen ENTSO-E-Netzwerk inmitten eines echten Krieges.

Zum Vergleich lassen sich die Stellung­nahmen der Europäi­schen Kommission und die Entschei­dungen des Rates zum Kandi­da­ten­status früherer Anwärter zu Rate ziehen. 1999 hatte die Türkei den Kandi­da­ten­status erhalten, während dort noch die Todes­strafe galt. Im Westbalkan wurde Nordma­ze­donien 2005 Beitritts­kan­didat, Monte­negro 2010, Serbien 2012 und Albanien 2014. Nur Bosnien-Herze­gowina und Kosovo bleiben „poten­zielle Beitritts­kan­di­daten“ – also de facto Länder, die nicht einmal grund­le­gende Kriterien erfüllen. Der Kosovo wird nicht von allen EU-Staaten anerkannt. Die verfas­sungs­recht­liche Ordnung von Bosnien-Herze­gowina entspricht laut der Stellung­nahme der Europäi­schen Kommission von 2019 nicht den europäi­schen Standards. Die Regierung dort benötigte für die Beant­wortung des Frage­bogens 14 Monate und war zudem nicht in der Lage, dies im vollen Umfang zu tun.

Also ist in der Ukraine die Ansicht Konsens, dass das Land bereits weiter fortge­schritten ist als „poten­zielle Beitritts­kan­di­daten“ und somit objektiv den Status eines EU-Beitritts­kan­di­daten verdient.[13] Es wird erwartet, dass die Stellung­nahme der Europäi­schen Kommission dies bestä­tigen wird.

4. Weil die ukrai­nische Gesell­schaft diese Anerkennung ihres Kampfes für europäische Werte erwartet.

Die öffent­liche Meinung in der Ukraine hat stets eine Mitglied­schaft in der EU unter­stützt. 2019 wurde das Ziel eines EU-Beitritts sogar in der ukrai­ni­schen Verfassung festge­schrieben. Seit der großan­ge­legten russi­schen Invasion ist die gesell­schaft­liche Unter­stützung für einen EU-Beitritt der Ukraine sprunghaft auf 91 % gestiegen.[14]

Es gibt diesbe­züglich einen allge­meinen Konsens unter den politi­schen Eliten in der Regierung und der Opposition sowie in der Zivil­ge­sell­schaft, einschließlich der Watch Dog-Gruppen, die die recht­staat­lichen Reformen überwachen und voran­treiben, und einschließlich der Sozial­partner.[15] Ein Beitritt zur EU ist zu einem Teil der ukrai­ni­schen natio­nalen Idee geworden, wie auch die Abwehr der russi­schen Invasion.

Es herrscht auch breite Überein­stimmung, dass die Ukraine die gemein­samen grund­le­genden europäi­schen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit und der Demokratie buchstäblich verteidigt.

Im Grunde werden die Mitglied­staaten der EU nun entscheiden, ob sie die Ukraine als europäi­schen Staat anerkennen, der die europäi­schen Werte teilt und die grund­le­genden demokra­ti­schen und markt­wirt­schaft­lichen Kriterien erfüllt. Die ukrai­nische Gesell­schaft erwartet von der EU ein klares „Ja“.

Jedes Szenario, das als Antwort auf den Antrag der Ukraine keinen (vollen) Kandi­da­ten­status beinhaltet, würde von der ukrai­ni­schen Gesell­schaft sehr negativ aufge­nommen.

5. Weil es das stärkste politische Signal an Wladimir Putin senden würde, dass sein Krieg zwecklos ist.

Putin hat die Ukraine angegriffen, weil sie in einer „Grauzone“ außerhalb von EU und NATO verblieb. Er wollte die Ukraine daran hindern, sich weiter nach Westen zu bewegen, und Kyjiw zurück in Moskaus „Einfluss­sphäre“ bzw. in die „russische Welt“ zwingen. Schritte Richtung NATO sind zu Kriegs­zeiten tatsächlich nicht machbar und es ist nicht klar, ob sich das nach dem Krieg verwirk­lichen lässt.

Gleich­zeitig würde ein Kandi­da­ten­status eine Anerkennung der Ukraine als poten­zi­elles EU-Mitglied darstellen. Das bedeutet für die EU die Chance, zu einem geopo­li­ti­schen Akteur zu werden und ihre Verant­wortung für Frieden und Stabi­lität auf dem Kontinent wahrzu­nehmen. Putin müsste die neue Realität einer zukünf­tigen EU-Mitglied­schaft der Ukraine anerkennen, wie er auch Schwedens und Finnlands Antrag auf eine NATO-Mitglied­schaft akzep­tieren musste. Das würde den Kreml dazu bringen, den verhee­renden Krieg zu beenden, da dessen politische Ziele ohnehin nicht erreicht werden können

6. Weil eine angestrebte EU-Mitglied­schaft und der Beitritts­prozess den besten Rahmen für den Wieder­aufbau nach dem Krieg bieten.

Nach dem Krieg wird die Ukraine „verbessert aufbauen“ müssen, also nicht einfach das ersetzen, was zerstört wurde, sondern in jedwedem Sinne ein besseres Land wieder aufbauen. Eine Kandi­datur und ein Beitritts­prozess können dazu beitragen, dass die Reformen in der Ukraine tiefer verankert und für die schwierige Zeit nach dem Krieg nachhal­tiger gestaltet werden.

Es wird zudem dabei helfen, beim Wieder­aufbau der Ukraine die Förder­gelder der EU effizient einzu­setzen und den Rahmen für einen strate­gi­schen Ansatz zu bieten, mit dem die Infra­struktur, die Wirtschaft und die Gesell­schaft der Ukraine in die Netzwerke der EU integriert werden können. Eine EU-Kandi­datur und der Beitritts­prozess können dazu beitragen, dass europäische Unter­nehmen die Möglich­keiten wahrnehmen, die sich bei den enormen Anstren­gungen zum Wieder­aufbau des Landes ergeben. Und ein Kandi­da­ten­status würde private Inves­ti­tionen anziehen, sodass weniger öffent­liche Gelder aus den Haushalten der EU-Staaten benötigt würden.

7. Weil es um eine faire Behandlung der eigenen Leistungen geht.

Die Integration der Ukraine und des Westbalkan in die EU schließen sich nicht gegen­seitig aus oder stehen in Konkurrenz zuein­ander, sondern sind absolut mitein­ander vereinbar. Bei der EU-Erwei­terung sollte das Prinzip einer fairen Behandlung gelten, bei der kein Land wegen der Probleme oder Fehler anderer blockiert wird.

Entschei­dungen zur Ukraine sollten nicht aufgrund von Fehlern anderer aufge­schoben werden, etwa wegen des Unver­mögens von Bosnien-Herze­gowina, seine verfas­sungs­recht­liche Ordnung zu ändern, wegen der Nicht­an­er­kennung des Kosovo durch einige EU-Staaten, wegen Serbiens prorus­si­scher Regierung oder wegen Bulga­riens Blockade der Verhand­lungen zwischen der EU und Nordmazedonien.

Das Gleiche gilt für das osteu­ro­päische Trio. Einer­seits gibt es das allge­meine Interesse, die EU-Hoffnungen von Moldau, Georgien und der Ukraine zu verwirk­lichen. Anderer­seits sollte jeder Anwärter aufgrund der eigenen Leistungen bei der Erfüllung der Kriterien begut­achtet werden. Das ist nur gerecht.

8. Weil Deutschland eine Führungs­rolle übernehmen sollte, um einen Konsens in der EU zu erreichen.

Deutschland hat zwar nach der Invasion umgehend ein Ende seiner tradi­tio­nellen Ostpo­litik verkündet (die in der Ukraine weitgehend als Beschwich­tigung Russlands betrachtet wurde), doch ist es bei wichtigen Fragen wie den Waffen­lie­fe­rungen und Sanktionen langsam vorge­gangen und hängt anderen hinterher. Parado­xer­weise ist es bisher Großbri­tan­niens Brexit-Premier Boris Johnson gewesen, der an der Spitze der europäi­schen Antwort auf die russische Invasion in die Ukraine steht.

In Bezug auf einen Kandi­da­ten­status der Ukraine ist Deutschland wieder einmal ein großes Hindernis für diese histo­rische Entscheidung Europas. Die meisten EU-Staaten sind für einen Kandi­da­ten­status der Ukraine, unter anderem elf mittel- und osteu­ro­päische Mitglied­staaten, die formal zu einer Beschleu­nigung der europäi­schen Integration der Ukraine aufge­rufen haben.[16] Eine Reihe europäi­scher Staaten ist aber noch unent­schlossen und schaut, wie die Haltung Deutsch­lands aussehen wird.

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Mehr Infor­ma­tionen

Geschichts­trächtige Zeiten erfordern histo­rische Entschei­dungen, und diese histo­ri­schen Entschei­dungen müssen schnell getroffen werden. Unter­nimmt man zu wenig und tut dies zu spät, landet man auf dem Weg zum Schutt­haufen der Geschichte. Die Glaub­wür­digkeit und Handlungs­fä­higkeit der EU werden jetzt stark von Deutschland abhängen. Ein Zögern Deutsch­lands würde nur erneut das Image deutscher Politiker beschä­digen. Anderer­seits lässt sich der Gang der Geschichte nicht aufhalten: Es ist klar, dass die Ukraine früher oder später ein Beitritts­kan­didat und dann ein Mitglied der EU werden wird.

Also stehen deutsche Politiker jetzt vor der Wahl, ob sie von anderen getrieben werden oder eine Führungs­rolle übernehmen, um dem Willen und den Erwar­tungen der eigenen Bürger:innen zu entsprechen, die Bezie­hungen zu den mittel- und osteu­ro­päi­schen EU-Staaten zu verbessern und in der EU einen Konsens herzu­stellen. Die drängende strate­gische Entscheidung für einen Kandi­da­ten­status der Ukraine könnte die Folgen der Fehler der deutschen Außen­po­litik aus den letzten Jahrzehnten beheben. Darüber hinaus könnte dies ohne Übertreibung zu einem zentralen Element einer fried­lichen, sicheren, stabilen und prospe­rie­renden Zukunft Europas werden.

Fazit und Ausblick

Der Ukraine im Juni 2022 den Kandi­da­ten­status zu verleihen, wäre eine logische Entscheidung, die alle zufrie­den­stellen wird: die Ukrainer, die osteu­ro­päi­schen Mitglied­staaten, das Europäische Parlament, die Bürger:innen Deutsch­lands und auch die der EU. Sogar der Westbalkan wäre zufrieden, da dadurch ein Momentum geschaffen würde, um die sonst festge­fahrene Erwei­te­rungs­po­litik der EU wieder in Gang zu bringen. Nur Putin wäre wütend, müsste es aber akzep­tieren und dürfte sich zweimal überlegen, ob es für ihn noch Sinn macht, den Krieg fortzusetzen.

Ein Kandi­da­ten­status wird nicht in unmit­tel­barer oder kürzerer Zukunft in eine Mitglied­schaft münden, da klar ist, dass es kein Schnell­ver­fahren oder eine Abkürzung geben wird, sondern ein Standard­ver­fahren zum Beitritt, das selbst bei zügigem Ablauf Jahre dauern wird. Ein Kandi­da­ten­status würde aber einen nützlichen Rahmen für das Engagement der EU beim Wieder­aufbau der Ukraine nach dem Krieg bieten.

Die Ukraine verdient jetzt den vollen und bedin­gungs­losen Kandi­da­ten­status, weil sie objektiv die Standard­kri­terien erfüllt und die europäi­schen Werte gegen die brutalste Aggression verteidigt, die es in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat. Die ukrai­nische Gesell­schaft erwartet im Juni diese Entscheidung des Europäi­schen Rates und wird alles, was keinen vollen Kandi­da­ten­status bedeutet, als nicht objektiv oder unver­nünftig betrachten.

Ein Teil der Entscheidung sollte in der Formu­lierung von Zeitrahmen und Bedin­gungen für den nächsten Schritt bestehen, nämlich für die Eröffnung von Beitritts­ver­hand­lungen. Hier könnten als Teil der Kondi­tio­na­lität ausste­hende Reform­fragen identi­fi­ziert werden, aller­dings nach, und nicht vor der Verleihung des Kandidatenstatus.

Die Eröffnung und Durch­führung von Beitritts­ver­hand­lungen wird Zeit erfordern. Also sollte die EU konkrete, greifbare kurzfristige Schritte anbieten, um die Ukraine näher an die EU zu bringen und durch eine zuneh­mende Integration in den EU-Binnen­markt gemäß den Bestim­mungen des Assozi­ie­rungs­ab­kommens der Bevöl­kerung einen unmit­tel­baren Nutzen zu vermitteln.

Anderer­seits könnte die EU dieses Momentum nutzen, um ihre Erwei­te­rungs­me­tho­do­logie zu überdenken: das „Regatta“-Prinzip zur fairen Behandlung; die Umkehr­barkeit im Fall von Rückschritten bei der Erfüllung der Kriterien; Ergänzung von Kriterien für die Abstimmung der Außen­po­litik; Überein­kommen, dass neue EU-Mitglieder im Rat nicht ihr Vetorecht einzu­setzen und eine Reform der Entschei­dungs­me­cha­nismen der EU auf Grundlage einer quali­fi­zierten Mehrheit.

Bei diesen Bemühungen auf dem Weg in die EU braucht die Ukraine die Unter­stützung Deutsch­lands. Ebenso braucht Deutschland die Unter­stützung der Ukraine, um die Fehler der ferneren und jüngeren Vergan­genheit zu beheben, und um in der Lage zu sein, sich um Europas Zukunft zu kümmern.

Anmer­kungen

¹ Gemäß Artikel 2 des EU-Vertrags sind dies: Achtung der Menschen­würde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechts­staat­lichkeit und die Wahrung der Menschen­rechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minder­heiten angehören.
² In den Formaten des Europäi­schen Rates und des Rates der EU.
³ So called Copen­hagen criteria.
⁴ The poll was commis­sioned by the Jean Jaures foundation and Yalta European Strategy (YES) and conducted by a leading French polling firm IFOP.
⁵ See details here: Euroba­ro­meter.
⁶ Negotia­tions with Poland, Czech Republic, Hungary, Slovenia, Estonia, Cyprus conducted over 1998–2003; Slovakia, Latvia, Lithuania, Malta – 2000–2003; Romania, Bulgaria – 2000–2005; Croatia – 2005–2011.
⁷ For a detailed explanation of the EU-Ukraine AA/​DCFTA content and imple­men­tation progress in sectoral integration to the Single market see.
⁸ As explained by the Brussels-based Centre for European Policy Studies (CEPS) in its Opinion on Ukraine’s EU appli­cation.
⁹ See Ukrainian government’s report on imple­men­tation of Association Agreement as of end of 2021.
¹⁰ For more details see: Report on Integration.
¹¹Joint call of Ukrainian CSOs to EU member states to grant Ukraine EU candidate status promptly, as recognition of joint reform achie­ve­ments (in German).
¹² Questi­on­naire: Infor­mation requested by the European Commission to the Government of Ukraine for the prepa­ration of the Opinion on the appli­cation of Ukraine for membership of the European Union, Part I and Part II.
¹³ This opinion is also shared e.g. by the Brussels-based Centre for European Policy Studies (CEPS), which compared Ukraine with candidate countries of the Western Balkans.
¹⁴ Ukrinform: Support for EU accession hits record high at 91% in Ukraine.
¹⁵ Latest joint decla­ration of the EU-Ukraine Civil Society Platform under the Association Agreement, which unites NGOs, employers and trade unionists on both sides.
¹⁶ Open letter by Presi­dents in support of Ukraine’s swift candidacy to the European Union.


Text as of: 26.05.2022

Dmytro Shulga, Inter­na­tional Renais­sance Foundation, Ukraine
E‑mail: shulga@irf.ua

Gefördert durch:

 

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