Israel vor der Wahl: Droht eine „Ungarisierung“ des Landes?
Kommt Netanyahu am 01. November zurück an die Macht, wird er wohl ein Bündnis mit den Rechtsextremen eingehen. Was das für das Land bedeuten könnte, analysiert Richard C. Schneider.
Und wieder einmal stellt sich die Frage: Quo vadis, Israel? Am 1. November wird zum fünften Mal innerhalb von drei Jahren eine neue Regierung gewählt. Viele ausländische Beobachter halten das politische System in Israel inzwischen für marode. Doch das stimmt nur zum Teil. Das System würde funktionieren, wenn ein Mann seinen Hut nehmen und der Politik Adieu sagen würde: Benjamin Netanyahu. Denn seit Jahren geht es bei den Wahlen nur noch um ein Thema: Ist man für oder gegen Bibi, wie der Ex-Premier in Israel genannt wird. Es geht nicht mehr um politische Ideen oder Visionen, es geht nicht mehr um links oder rechts, es geht schon gar nicht mehr um die Palästinenser, sondern nur noch um die Frage: Wer ist für den Mann, der wegen mutmaßlicher Korruption in drei Fällen vor Gericht steht, und wer ist gegen ihn.
Nach den letzten Wahlen bildete sich deshalb eine kuriose Koalition aus acht Parteien, die unterschiedlicher nicht sein konnten: linke Befürworter einer Zwei-Staaten-Lösung saßen mit rechten Nationalisten zusammen, die einen Teil des Westjordanlandes annektieren wollen. Und sie alle saßen zusammen – zum ersten Mal in der israelischen Geschichte – mit einer arabischen Partei, der Ra’am, die den Muslimbrüdern nahesteht. Was sie alle einte: Die Überzeugung, dass Netanyahu das Land mit sich in den Abgrund reißen würde, nur damit er seinen Prozess beenden kann, nur um ja nicht in den Knast gehen zu müssen, falls er verurteilt würde. Diese Regierung hielt gerade mal ein Jahr, die ideologischen Unterschiede waren größer als der gemeinsame Widerstand gegen den Ex-Premier.
Nun ist Yair Lapid Interimspremier und wenn man den Umfragen trauen darf, dann könnte er nur noch kurze Zeit im Amt sein. Denn Netanyahu könnte es gelingen, tatsächlich 61 Mandate in der Knesset mit seinem rechten Block zu erringen, er könnte möglicherweise an die Macht zurückkehren. Das ist für die Hälfte der israelischen Bevölkerung bereits eine schlechte Nachricht. Doch es gibt noch eine schlechtere: Er wird voraussichtlich mit den beiden Rechtsextremisten Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich, die mit ihren beiden Parteien auf Vermittlung von Netanyahu eine gemeinsame Wahlliste anführen, koalieren. Koalieren müssen, denn diese Wahlliste wird voraussichtlich, nach dem Likud von Netanyahu und Yesh Atid von Yair Lapid, drittstärkste Kraft im Parlament werden.
Ben Gvir und Smotrich sind Rassisten und homophob, hassen liberale Juden und wollen das Justizsystem grundlegend verändern. Während Ben Gvir sich vor allem zu Themen wie der Vertreibung all jener Araber aus Israel äußert, die seiner Meinung nach gegenüber dem Staat „illoyal“ sind, hat sich Smotrich vor wenigen Tagen über seine Idee einer Justizreform ausgelassen, die in zwei Sätzen zusammenzufassen ist: Gerichte, nicht einmal mehr das Oberste Gericht, sollen keine Möglichkeit mehr erhalten, Gesetzesentscheidungen einer Regierung kippen zu können. Und: Die Anklagepunkte gegen Netanyahu sollen zukünftig keine Verbrechen mehr sein, damit wäre dann der Prozess gegen Netanyahu erledigt, er wäre frei und würde wohl auch noch Immunität erhalten.
Mit anderen Worten: Was sich die beiden vorstellen ist ein Staat, der autoritär wäre, keine Demokratie mehr – wie wackelig diese Demokratie in ihrem aktuellen Zustand auch sein mag. Dementsprechend schrill verläuft der Wahlkampf in seinen letzten Zügen. Alle Parteien, die sich als Mitte oder Links verstehen, warnen vor eine „Ungarisierung“ Israels, warnen vor einer autoritären Katastrophe und dem Ende des Staates, wie man ihn bis jetzt kannte.
Und Netanyahu? Er erklärt in den letzten Tagen, dass er auf alle Fälle mit den Rechtsextremisten koalieren will, dass sie natürlich auch Ministerposten bekämen. Als jetzt eine Aufnahme publik wurde, in der Smotrich Netanyahu einen notorischen Lügner nannte, machte „BiBi“ gute Miene zum bösen Spiel. Er nahm – zumindest öffentlich – die Äußerungen nicht so ernst, er verzeihe Smotrich. Man solle sich doch jetzt auf das Wesentliche konzentrieren. Netanyahu dürfte allerdings durchaus nervös sein. Denn die Wahlliste von Ben Gvirs „Otzma Yehudit“ (Jüdische Macht) und dem „Religiösem Zionismus“ von Smotrich, die ausgerechnet er selbst vermittelt hat, da er Angst hatte, dass Smotrich unter der 3,25% Hürden bleiben könnte und er, Netanyahu, dann niemals 61 Mandate zusammen bekäme, diese Wahlliste also entreißt seinem Likud immer mehr Mandate. Nach letzten Umfragen könnte der Likud bis zu fünf Mandate zugunsten Ben Gvirs und Smotrich‘ verlieren. Die Geister, die er rief, könnten ihm in einer Koalition das Leben noch zur Hölle machen. Es könnte natürlich sein, dass Netanyahu versuchen wird, eine der zentristischen Parteien in die Koalition zu bringen. Aber ob er es wirklich tut und vor allem, ob es ihm gelingen würde – das ist im Augenblick eher zweifelhaft.
Die US-Demokraten blicken derweil skeptisch auf die Entwicklungen in Israel. Erst kürzlich warnte der demokratische US-Senator Bob Menendez Netanyahu davor, mit der extremen Rechten zu koalieren. Das würde die Beziehung zu den USA massiv beschädigen. Menendez ist der Vorsitzende des außenpolitischen Komitees des US-Senats, also nicht einfach irgendwer. Netanyahu was „not amused“, natürlich nicht. Aber – da sollte man sich keine Illusionen machen – er wird die Warnung in den Wind schlagen. Denn erst einmal will er sich aus den Klauen der Justiz befreien, im Falle eines Wahlsiegs wäre das wohl seine Priorität. Und was die US-Demokraten sagen? Netanyahu rechnet wahrscheinlich damit, dass spätestens im November 2024 das Thema erledigt sein dürfte, wenn Trump oder ein anderer Republikaner die Präsidentschaftswahl gewinnt. Was bis dahin aus Israel wird? Das müssen am 1. November die Bürger entscheiden. Es liegt an ihnen, in was für einem Staat sie am Morgen nach der Wahl aufwachen möchten.
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