Juden in Deutschland: Prekäre Gegenwart, unsichere Zukunft
Wenn man nachfragt, wie Juden in Deutschland zu diesem Land stehen, so muss man unterscheiden, von welchen Juden die Rede sein soll. Doch die Angst, dass der Antisemitismus schlimmer wird, teilen inzwischen so gut wie alle.
Wer wirklich wissen will, wie die Lage der Juden in Deutschland ist, muss nur ein paar Tage der RIAS auf Twitter folgen, der „Recherche- & Informationsstelle Antisemitismus“. Sie berichtet nonstop über antisemitische Ereignisse, auch über solche, die nicht in den Strafverfolgungsbereich fallen, mit anderen Worten: sie erzählt vom normalen Alltag von Juden in Deutschland. Und der ist, um es ein wenig euphemistisch zu sagen: nicht unproblematisch.
Nein, hier geht es jetzt nicht darum, zu untersuchen, wie sich der Antisemitismus ausdrückt, es geht um das Lebensgefühl der Juden in Deutschland und um die Bedrohungslage bzw. um das Bedrohungsgefühl. Denn das bestimmt das Leben vieler Juden mehr als die Frage, wie oft jeder einzelne Jude de facto antisemitisch angegriffen worden ist. Wobei es kaum Juden gibt, die noch keine antisemitische Erfahrung in Deutschland gemacht haben. Und dazu braucht es nicht die Größenordnung eines Anschlags wie in Halle, es reichen die kleinen, miesen Äußerungen und Bemerkungen im Beruf, im Kollegen- oder auch Freundeskreis.
Wenn man nachfragt, wie Juden in Deutschland zu diesem Land stehen, so muss man unterscheiden, von welchen Juden die Rede sein soll. Denn – um es ein wenig pauschal zu sagen – es gibt verschiedene „Gruppen“, die unterschiedlich auf Deutschland reagieren.
Da ist zunächst die immer kleiner werdende Gruppe der überwiegend osteuropäischen Holocaust-Überlebenden, die aus unterschiedlichsten Gründen nach 1945 in Deutschland strandeten und blieben. Ihre Verfolgungsgeschichte machte sie gegenüber Deutschen misstrauisch und vorsichtig, allerdings waren viele von ihnen froh, dass die Bundesrepublik ein relativ sicherer Ort war, um ein neues Leben aufzubauen. Doch man blieb überwiegend auf innerer Distanz zu dem Land, erst recht, da die meisten dieser Überlebenden aus Osteuropa stammten und somit Deutschland nicht das „Heimatland“ war, Deutsch nicht die Muttersprache. Man war nicht nur Überlebender, nicht nur jüdisch, sondern auch „fremd“ und blieb es. Ein Heimatgefühl konnte und wollte sich nicht einstellen.
Für die Kinder dieser Überlebenden stellte sich das Verhältnis zu Deutschland ganz anders dar. Viele verließen die Bundesrepublik so schnell sie konnten. Meistens nach dem Abitur, manchmal auch erst während des Studiums. Diejenigen, die gingen, hatten drei präferierte Ziele: Israel, die USA und Großbritannien. Diejenigen aber, die blieben, mussten ihre schizoide Identität in irgendeiner Form bewältigen: In Deutschland geboren, mit Deutsch als Muttersprache, als Kinder von Verfolgten und Überlebenden, irgendwie schon auch selbst „deutsch“, aber eben doch auch nicht, blieb man als Kinder der Überlebenden, als sogenannte „Zweite Generation“, in der eigenen „Heimat“, die man aber nicht unbedingt als solche begriff und deshalb lieber in Anführungszeichen schrieb. Die Ambivalenz einer solchen Existenz ist offensichtlich, was sich häufig darin ausdrückte, dass diese Kinder der Überlebenden wiederum ihre Kinder, wenn möglich, zum Studium ins Ausland schickten, wo sie dann auch meistens blieben. Manche der Zweiten Generation schafften es, sich zu integrieren, doch die Erfahrungen mit antisemitischen Vorfällen machten auch sie zu Deutschen „cum grano salis“, mit dem Bewusstsein, dass nichts wirklich sicher ist in diesem Land, auch wenn man prinzipiell darauf vertraute, dass man in der Bundesrepublik als stabile Demokratie relativ sicher lebte. Selbst wenn ihr „Deutschsein“ von der Umwelt immer wieder in Frage gestellt wurde.
Anders gestaltete sich das Heimatgefühl häufig für Juden aus der DDR. Als Kinder von jüdisch-deutschen Kommunisten waren sie in der DDR groß geworden, also im echten Heimatland der Eltern vor dem Krieg. Ideologisch hatten sie gelernt, dass es nicht „um Rassen, sondern um Klassen“ geht. Doch wer mit diesen DDR-Juden redet, die heute zwischen 60 und 70 sind, wird häufig hören, dass sie dennoch das Gefühl des „Andersseins“ auch in der DDR erlebt hatten, manche erzählen sogar von antisemitischen Vorfällen in der NVA, wobei ihnen dann häufig gesagt wurde: „Du bist ja nicht gemeint!“ – ein Gemeinplatz, den Juden in der BRD übrigens auch oft zu hören bekamen.
Schließlich gibt es die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, die heute rein zahlenmäßig die Mehrzahl der Juden in Deutschland stellen. Diese Juden hatten zu Deutschland ein völlig anderes Verhältnis als die zuvor erwähnten Gruppen. Denn die meisten von ihnen hatten gegen Nazi-Deutschland in der Roten Armee gekämpft, sie waren nicht von Hitler verfolgt worden, sondern von Stalin. Und nachdem sie in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts als sogenannte „Kontingentflüchtlinge“ in Deutschland aufgenommen wurden, waren sie dem deutschen Staat dankbar für einen Neustart, der für sie Freiheit, Wohlstand und Sicherheit bedeutet – im Gegensatz zur alten UdSSR. Deutschland war für sie das Land der Hoffnung und nicht – wie für die anderen – das Land der Täter oder deren Nachkommen.
Die Kinder dieser sowjetischen Juden, die teilweise noch in Russland, der Ukraine oder Moldawien oder dann schon in Deutschland geboren wurden, sehen Deutschland eindeutig als ihr Heimatland an. Sie wollen da sein. Und sie wollen dableiben. Russland ist für sie keine Alternative, aber auch Israel nicht.
Last but not least: Die Israelis, die in Deutschland leben. Doch diese Gruppe ist in unserem Zusammenhang zu vernachlässigen. Sie sind Juden, ja. Aber sie leben als Israelis in Deutschland mit einer Heimat, in die sie jederzeit zurückkehren können. Ihre Heimat ist und bleibt Israel, aber sie haben – zumeist Berlin – als Wohnort gewählt, weil es ihnen da gut geht. Aber es besteht kein Zweifel: wenn alles zusammenbrechen würde, könnten sie „nach Hause“ zurückkehren, ein Privileg, das „deutsche Juden“ so nicht haben. Sie hätten sicherlich Israel als Zufluchtsort, aber Heimat im eigentlichen Sinne kann das hebräischsprachige Land in der Levante nicht werden, besonders nicht für diejenigen, die älter sind.
Wie gesagt, diese Einteilung und Einschätzung ist natürlich pauschal, Ausnahmen bestätigen die Regel, das ist völlig klar. Doch aufgrund des wachsenden Antisemitismus in Deutschland, fragen sich natürlich mehr und mehr jüdische Menschen, welche Zukunft sie hier haben werden, wenn überhaupt. Keine Frage: die meisten, die in Deutschland leben, wollen hierbleiben. Es ist das Zuhause, wenngleich ein schwieriges, und niemand emigriert freiwillig ohne gewichtigem Grund, natürlich nicht.
Doch der wachsende antisemitische und rassistische Diskurs in Deutschland, der wahrlich nicht nur von der AfD geführt wird, sondern auch von anderen Gruppierungen im Lande, machen den Boden, auf dem man steht, unsicher und wackelig. Die anti-israelischen Befindlichkeiten, die häufig einhergehen mit antisemitischen Stereotypen und nur wenig zu tun haben mit einer seriösen Kritik an der israelischen Politik, lassen auch deutsche Juden nervös werden, da diese Ressentiments sie immer in einen Topf mit „den Zionisten“ werfen. Wenn bei anti-israelischen Demos „Hamas, Hamas, Juden ins Gas!“ gerufen wird, sind eben alle gemeint. Wenn deutsche Juden mit deutschem Pass beschimpft werden für das, was „ihr mit den Palästinensern“ macht und somit in Verantwortung gezogen werden für die Politik eines Landes, in dem sie weder leben noch dessen Bürger sie sind, dann ist das schlichtweg antisemitisch. Diese Form des Antisemitismus, die sogenannte „Israelkritik“ oder auch „Antizionismus“, findet man vor allem in linken und in muslimischen Kreisen.
Der anwachsende Antisemitismus, der immer gewaltbereiter und bedrohlicher wird, die Tatsache, dass jüdisches Leben in Deutschland inzwischen hinter Panzerglas und Stacheldraht stattfinden muss, macht mehr und mehr deutlich, dass es immer fraglicher wird, ob Juden tatsächlich eine Zukunft in Deutschland haben. Die Angst, dass alles immer schlimmer wird, teilen inzwischen so gut wie alle der oben genannten Gruppen. Die Sorge ist real, die Gespräch untereinander sind eindeutig. Ebenso die ständige Verwunderung der nichtjüdischen Umwelt, die nicht glaubt oder nicht versteht, wie schwierig es inzwischen geworden ist, als Jude in Deutschland zu leben. Das flackert immer nur kurz auf: Nach einem Anschlag in der Größenordnung von Halle. Da sind dann alle entsetzt. Doch das verflüchtigt sich schnell wieder. Und niemand will wissen oder verstehen, wie der „kleine“ Antisemitismus ausschaut: Die spitzen Bemerkungen, die Vorurteile, das Ressentiment, das immer häufiger sicht- und hörbar wird im Alltag.
Um all dem zu entgehen, muss man am besten ein „unsichtbarer“ Jude sein. Ohne religiöse Insignien, ohne goldenen Davidstern um den Hals. Am besten als Individuum und auf keinen Fall in der Nähe einer jüdischen Institution. Dann ist das Leben „sicher“. Ist es das wirklich?
Sichtbare Juden müssen inzwischen Angst haben auf Deutschlands Straßen. So ist das. 2020. Eine Realität, die PoC schon lange kennen.
Wie also sehen Juden in Deutschland das Land, in dem sie leben? Keine Frage: mit zunehmender Skepsis. Mit berechtigten Vorwürfen gegenüber dem Staat und dessen Institutionen, die viel reden und wenig tun. So manche wollen für ihr Leben hier kämpfen, sind nicht bereit zu gehen. Doch viele andere machen sich inzwischen häufiger Gedanken, ob man nicht Deutschland verlassen m u s s. Nur wohin? Die beiden „natürlichen“ Ziele wären die USA und Israel. Doch die Vereinigten Staaten des Donald Trump sind kein Traumziel mehr. Und Israels politische Entwicklung unter Premier Netanyahu gefällt vielen deutschen Juden auch nicht. Die Verlockung in ein Land zu ziehen, dessen Führer best buddy von Trump, Orban und Bolsonaro ist, hält sich in Grenzen.
Insofern sind Juden in Deutschland mal wieder in einer Art Mausefalle. Nein, wir haben noch nicht Verhältnisse wie 1933 oder gar 1938, aber wir sind längst schon über das „Wehret den Anfängen“ hinaus. Wir, Deutschland, sind bereits mittendrin.