Juden in Deutschland: Prekäre Gegenwart, unsichere Zukunft

Die Neue Synagoge in Berlin. Foto: hydebrink/shutterstock.com

Wenn man nachfragt, wie Juden in Deutschland zu diesem Land stehen, so muss man unter­scheiden, von welchen Juden die Rede sein soll. Doch die Angst, dass der Antise­mi­tismus schlimmer wird, teilen inzwi­schen so gut wie alle. 

Wer wirklich wissen will, wie die Lage der Juden in Deutschland ist, muss nur ein paar Tage der RIAS auf Twitter folgen, der „Recherche- & Infor­ma­ti­ons­stelle Antise­mi­tismus“. Sie berichtet nonstop über antise­mi­tische Ereig­nisse, auch über solche, die nicht in den Straf­ver­fol­gungs­be­reich fallen, mit anderen Worten: sie erzählt vom normalen Alltag von Juden in Deutschland. Und der ist, um es ein wenig euphe­mis­tisch zu sagen: nicht unproblematisch.

Nein, hier geht es jetzt nicht darum, zu unter­suchen, wie sich der Antise­mi­tismus ausdrückt, es geht um das Lebens­gefühl der Juden in Deutschland und um die Bedro­hungslage bzw. um das Bedro­hungs­gefühl. Denn das bestimmt das Leben vieler Juden mehr als die Frage, wie oft jeder einzelne Jude de facto antise­mi­tisch angegriffen worden ist. Wobei es kaum Juden gibt, die noch keine antise­mi­tische Erfahrung in Deutschland gemacht haben. Und dazu braucht es nicht die Größen­ordnung eines Anschlags wie in Halle, es reichen die kleinen, miesen Äußerungen und Bemer­kungen im Beruf, im Kollegen- oder auch Freundeskreis.

Wenn man nachfragt, wie Juden in Deutschland zu diesem Land stehen, so muss man unter­scheiden, von welchen Juden die Rede sein soll. Denn – um es ein wenig pauschal zu sagen – es gibt verschiedene „Gruppen“, die unter­schiedlich auf Deutschland reagieren.

Da ist zunächst die immer kleiner werdende Gruppe der überwiegend osteu­ro­päi­schen Holocaust-Überle­benden, die aus unter­schied­lichsten Gründen nach 1945 in Deutschland stran­deten und blieben. Ihre Verfol­gungs­ge­schichte machte sie gegenüber Deutschen misstrauisch und vorsichtig, aller­dings waren viele von ihnen froh, dass die Bundes­re­publik ein relativ sicherer Ort war, um ein neues Leben aufzu­bauen. Doch man blieb überwiegend auf innerer Distanz zu dem Land, erst recht, da die meisten dieser Überle­benden aus Osteuropa stammten und somit Deutschland nicht das „Heimatland“ war, Deutsch nicht die Mutter­sprache. Man war nicht nur Überle­bender, nicht nur jüdisch, sondern auch „fremd“ und blieb es. Ein Heimat­gefühl konnte und wollte sich nicht einstellen.

Für die Kinder dieser Überle­benden stellte sich das Verhältnis zu Deutschland ganz anders dar. Viele verließen die Bundes­re­publik so schnell sie konnten. Meistens nach dem Abitur, manchmal auch erst während des Studiums. Dieje­nigen, die gingen, hatten drei präfe­rierte Ziele: Israel, die USA und Großbri­tannien. Dieje­nigen aber, die blieben, mussten ihre schizoide Identität in irgend­einer Form bewäl­tigen: In Deutschland geboren, mit Deutsch als Mutter­sprache, als Kinder von Verfolgten und Überle­benden, irgendwie schon auch selbst „deutsch“, aber eben doch auch nicht, blieb man als Kinder der Überle­benden, als sogenannte „Zweite Generation“, in der eigenen „Heimat“, die man aber nicht unbedingt als solche begriff und deshalb lieber in Anfüh­rungs­zeichen schrieb. Die Ambivalenz einer solchen Existenz ist offen­sichtlich, was sich häufig darin ausdrückte, dass diese Kinder der Überle­benden wiederum ihre Kinder, wenn möglich, zum Studium ins Ausland schickten, wo sie dann auch meistens blieben. Manche der Zweiten Generation schafften es, sich zu integrieren, doch die Erfah­rungen mit antise­mi­ti­schen Vorfällen machten auch sie zu Deutschen „cum grano salis“, mit dem Bewusstsein, dass nichts wirklich sicher ist in diesem Land, auch wenn man prinzi­piell darauf vertraute, dass man in der Bundes­re­publik als stabile Demokratie relativ sicher lebte. Selbst wenn ihr „Deutschsein“ von der Umwelt immer wieder in Frage gestellt wurde.

Anders gestaltete sich das Heimat­gefühl häufig für Juden aus der DDR. Als Kinder von jüdisch-deutschen Kommu­nisten waren sie in der DDR groß geworden, also im echten Heimatland der Eltern vor dem Krieg. Ideolo­gisch hatten sie gelernt, dass es nicht „um Rassen, sondern um Klassen“ geht. Doch wer mit diesen DDR-Juden redet, die heute zwischen 60 und 70 sind, wird häufig hören, dass sie dennoch das Gefühl des „Anders­seins“ auch in der DDR erlebt hatten, manche erzählen sogar von antise­mi­ti­schen Vorfällen in der NVA, wobei ihnen dann häufig gesagt wurde: „Du bist ja nicht gemeint!“ – ein Gemein­platz, den Juden in der BRD übrigens auch oft zu hören bekamen.

Schließlich gibt es die Juden aus der ehema­ligen Sowjet­union, die heute rein zahlen­mäßig die Mehrzahl der Juden in Deutschland stellen. Diese Juden hatten zu Deutschland ein völlig anderes Verhältnis als die zuvor erwähnten Gruppen. Denn die meisten von ihnen hatten gegen Nazi-Deutschland in der Roten Armee gekämpft, sie waren nicht von Hitler verfolgt worden, sondern von Stalin. Und nachdem sie in den 90er Jahren des letzten Jahrhun­derts als sogenannte „Kontin­gent­flücht­linge“ in Deutschland aufge­nommen wurden, waren sie dem deutschen Staat dankbar für einen Neustart, der für sie Freiheit, Wohlstand und Sicherheit bedeutet – im Gegensatz zur alten UdSSR. Deutschland war für sie das Land der Hoffnung und nicht – wie für die anderen – das Land der Täter oder deren Nachkommen.

Die Kinder dieser sowje­ti­schen Juden, die teilweise noch in Russland, der Ukraine oder Moldawien oder dann schon in Deutschland geboren wurden, sehen Deutschland eindeutig als ihr Heimatland an. Sie wollen da sein. Und sie wollen dableiben. Russland ist für sie keine Alter­native, aber auch Israel nicht.

Last but not least: Die Israelis, die in Deutschland leben. Doch diese Gruppe ist in unserem Zusam­menhang zu vernach­läs­sigen. Sie sind Juden, ja. Aber sie leben als Israelis in Deutschland mit einer Heimat, in die sie jederzeit zurück­kehren können. Ihre Heimat ist und bleibt Israel, aber sie haben – zumeist Berlin – als Wohnort gewählt, weil es ihnen da gut geht. Aber es besteht kein Zweifel: wenn alles zusam­men­brechen würde, könnten sie „nach Hause“ zurück­kehren, ein Privileg, das „deutsche Juden“ so nicht haben. Sie hätten sicherlich Israel als Zufluchtsort, aber Heimat im eigent­lichen Sinne kann das hebrä­isch­spra­chige Land in der Levante nicht werden, besonders nicht für dieje­nigen, die älter sind.

Wie gesagt, diese Einteilung und Einschätzung ist natürlich pauschal, Ausnahmen bestä­tigen die Regel, das ist völlig klar. Doch aufgrund des wachsenden Antise­mi­tismus in Deutschland, fragen sich natürlich mehr und mehr jüdische Menschen, welche Zukunft sie hier haben werden, wenn überhaupt. Keine Frage: die meisten, die in Deutschland leben, wollen hierbleiben. Es ist das Zuhause, wenngleich ein schwie­riges, und niemand emigriert freiwillig ohne gewich­tigem Grund, natürlich nicht.

Doch der wachsende antise­mi­tische und rassis­tische Diskurs in Deutschland, der wahrlich nicht nur von der AfD geführt wird, sondern auch von anderen Gruppie­rungen im Lande, machen den Boden, auf dem man steht, unsicher und wackelig. Die anti-israe­li­schen Befind­lich­keiten, die häufig einher­gehen mit antise­mi­ti­schen Stereo­typen und nur wenig zu tun haben mit einer seriösen Kritik an der israe­li­schen Politik, lassen auch deutsche Juden nervös werden, da diese Ressen­ti­ments sie immer in einen Topf mit „den Zionisten“ werfen. Wenn bei anti-israe­li­schen Demos „Hamas, Hamas, Juden ins Gas!“ gerufen wird, sind eben alle gemeint. Wenn deutsche Juden mit deutschem Pass beschimpft werden für das, was „ihr mit den Paläs­ti­nensern“ macht und somit in Verant­wortung gezogen werden für die Politik eines Landes, in dem sie weder leben noch dessen Bürger sie sind, dann ist das schlichtweg antise­mi­tisch. Diese Form des Antise­mi­tismus, die sogenannte „Israel­kritik“ oder auch „Antizio­nismus“, findet man vor allem in linken und in musli­mi­schen Kreisen.

Der anwach­sende Antise­mi­tismus, der immer gewalt­be­reiter und bedroh­licher wird, die Tatsache, dass jüdisches Leben in Deutschland inzwi­schen hinter Panzerglas und Stachel­draht statt­finden muss, macht mehr und mehr deutlich, dass es immer fraglicher wird, ob Juden tatsächlich eine Zukunft in Deutschland haben. Die Angst, dass alles immer schlimmer wird, teilen inzwi­schen so gut wie alle der oben genannten Gruppen. Die Sorge ist real, die Gespräch unter­ein­ander sind eindeutig. Ebenso die ständige Verwun­derung der nicht­jü­di­schen Umwelt, die nicht glaubt oder nicht versteht, wie schwierig es inzwi­schen geworden ist, als Jude in Deutschland zu leben. Das flackert immer nur kurz auf: Nach einem Anschlag in der Größen­ordnung von Halle. Da sind dann alle entsetzt. Doch das verflüchtigt sich schnell wieder. Und niemand will wissen oder verstehen, wie der „kleine“ Antise­mi­tismus ausschaut: Die spitzen Bemer­kungen, die Vorur­teile, das Ressen­timent, das immer häufiger sicht- und hörbar wird im Alltag.

Um all dem zu entgehen, muss man am besten ein „unsicht­barer“ Jude sein. Ohne religiöse Insignien, ohne goldenen David­stern um den Hals. Am besten als Individuum und auf keinen Fall in der Nähe einer jüdischen Insti­tution. Dann ist das Leben „sicher“. Ist es das wirklich?

Sichtbare Juden müssen inzwi­schen Angst haben auf Deutsch­lands Straßen. So ist das. 2020. Eine Realität, die PoC schon lange kennen.

Wie also sehen Juden in Deutschland das Land, in dem sie leben? Keine Frage: mit zuneh­mender Skepsis. Mit berech­tigten Vorwürfen gegenüber dem Staat und dessen Insti­tu­tionen, die viel reden und wenig tun. So manche wollen für ihr Leben hier kämpfen, sind nicht bereit zu gehen. Doch viele andere machen sich inzwi­schen häufiger Gedanken, ob man nicht Deutschland verlassen m u s s. Nur wohin? Die beiden „natür­lichen“ Ziele wären die USA und Israel. Doch die Verei­nigten Staaten des Donald Trump sind kein Traumziel mehr. Und Israels politische Entwicklung unter Premier Netanyahu gefällt vielen deutschen Juden auch nicht. Die Verlo­ckung in ein Land zu ziehen, dessen Führer best buddy von Trump, Orban und Bolsonaro ist, hält sich in Grenzen.

Insofern sind Juden in Deutschland mal wieder in einer Art Mause­falle. Nein, wir haben noch nicht Verhält­nisse wie 1933 oder gar 1938, aber wir sind längst schon über das „Wehret den Anfängen“ hinaus. Wir, Deutschland, sind bereits mittendrin.