Klaus Lederer: „Der Rote Gott. Stalin und die Deutschen“

Quelle: Shutter­stock

Mit seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Der rote Gott – Stalin und die Deutschen“ in der Gedenk­stätte Hohen­schön­hausen hat der Berliner Kultur­se­nator Klaus Lederer ein Zeichen gesetzt. Schonungslos benennt er die Verbrechen der SED-Regimes und kriti­siert die Verherr­li­chung Stalins. Damit unter­scheidet sich Lederer wohltuend von anderen Strömungen innerhalb der Links­partei. Inter­essant ist aber auch, wo der Redner Halt macht. Zu der großen (und für Sozia­listen peinvollen) Frage nach den Wurzeln des Terrors macht er allen­falls Andeu­tungen. War der Stali­nismus eine unglück­selige Entstellung der wahren, schönen und guten kommu­nis­ti­schen Idee? Oder war der Weg in die Barbarei schon in dem Versuch angelegt, Russland mit eiserner Hand zu indus­tria­li­sieren und eine sozia­lis­tische Gesell­schaft ohne Privat­ei­gentum, Markt und politische Opposition herzu­stellen? Insofern ist Lederers bemer­kens­werte Rede, die LibMod im Wortlaut veröf­fent­licht, nur der Beginn einer überfäl­ligen Debatte.

Der Schrift­steller Eugen Ruge, Sohn des Histo­rikers Wolfgang Ruge, gab 2012 die Erinne­rungen seines 2006 verstor­benen Vaters an die Jahre in der Sowjet­union  als Buch heraus. Bereits 2003 waren die Notizen Wolfgang Ruges unter dem Titel „Berlin – Moskau – Sosswa. Stationen einer Emigration“ erschienen. Ein Werk, an dessen Lektüre ich mich gut erinnere. Fesselnd, schockierend, emotional nur sehr schwer zu verarbeiten.

Wolfgang Ruge gehört zur Gruppe jener jungen Kommu­nisten bzw. der Kinder von deutschen Kommu­nisten, die den stali­nis­ti­schen Terror in der Sowjet­union erlebten und überlebten. 1933 war der damals 16-jährige Wolfgang gemeinsam mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Walter aus dem natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutschland emigriert. Ziel der beiden jungen Kommu­nisten war das Land, auf das sich all ihre Hoffnungen richteten: die Sowjet­union. Fassungslos erlebte Ruge dann in Moskau den stali­nis­ti­schen Terror, die Säube­rungs­wellen, ein System syste­ma­ti­scher, aber auch wahlloser Verfolgung, Unter­drü­ckung, Inhaf­tierung, Verschleppung, Folterung und Ermordung von Menschen.

Niemals wieder darf gelten: „Der Zweck heiligt die Mittel“. Das ist der Grund, warum es bei der Aufar­beitung des Stali­nismus für Linke niemals einen Schluss­strich geben darf. 

Nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjet­union wurde Ruge zusammen mit seiner zweiten Ehefrau wegen seiner deutschen Herkunft nach Kasachstan depor­tiert, ein Jahr später von ihr getrennt und in einen Gulag in den Nordural verschickt. Unter Bedin­gungen der völligen Willkür und Essens­zu­teilung nach Normer­füllung musste er Schwerst­arbeit verrichten. Drei Jahre nach Ende des Krieges zerschlugen sich Ruges Hoffnungen, das Lager als freier Bürger verlassen und zu seiner Frau zurück­kehren zu können. Seine Strafe wurde in „Ewige Verbannung“ umgewandelt. Das bedeutet, er sollte den Lagerort, einem Dekret gemäß, zeitlebens nicht mehr verlassen dürfen.

Politische „Säuberung“ der ostdeut­schen Bevölkerung

Im Jahr 1956 gelang Wolfgang Ruge gemeinsam mit seiner Frau und dem zweijäh­rigem Sohn Eugen, dem zukünf­tigen Schrift­steller, dann dennoch die Ausreise in die DDR. Dort wurde er zu einem der wichtigsten Histo­riker des Landes. Die DDR war zu diesem Zeitpunkt bereits ein dikta­to­risch-zentra­lis­ti­sches Gebilde, das auf die absolute Vorherr­schaft der Partei – der SED – ausge­richtet war. Die Vielfalt antifa­schis­ti­scher Bewegungs­formen und engagierter Personen unter­schied­licher politi­scher Tradi­tionen, die es zuvor gegeben hatte, war bereits Anfang der fünfziger Jahre im Großen und Ganzen beseitigt. Der der monopo­lis­ti­schen Partei- und Staats­struktur entspre­chende Funktio­närs­typus hatte bald alle wichtigen Ämter in den staat­lichen und gewerk­schaft­lichen Insti­tu­tionen besetzt; Basis­or­ga­ni­sa­tionen wie Betriebsräte, aber auch die spontan entstan­denen Antifa-Komitees, waren seit 1945 bzw. 1949 verboten.

Bis Anfang der fünfziger Jahre gab es über 800.000 freiwillige und unfrei­willige Partei­aus­tritte aus der 1946 gegrün­deten SED, die nun zu großen Teilen aus einem jungen Funktio­närs­körper bestand. Die SED betrachtete sich als Reprä­sen­tantin des „ersten antifa­schis­ti­schen Staats auf deutschem Boden“, die die ökono­mi­schen Wurzeln des Natio­nal­so­zia­lismus „mit Stumpf und Stiel ausge­rottet“ habe. Viele junge Funktionäre waren während der NS-Zeit sozia­li­siert worden. Nach 1945 fand eine Ausein­an­der­setzung mit der NS-Diktatur aller­dings insofern nicht statt, als der Natio­nal­so­zia­lismus gerade deshalb für überwunden erklärt werden konnte. Neben die Entna­zi­fi­zierung durch die sowje­tische Besat­zungs­macht und die aus dem Exil zurück­ge­kehrte kommu­nis­tische Führung trat zunehmend die „Säuberung“ in der Bevölkerung.

Stalin wird Teil der DDR-Inszenierung

Die Verfolgungs‑, Ausschluss- und Inhaf­tie­rungs­kam­pagnen gegen „Trotz­kisten“, „Titoisten“, „Rätekom­mu­nisten“, „Anarchisten“, „Opposi­tio­nelle“ und „Abweichler“, Sozial­de­mo­kra­tinnen und Sozial­de­mo­kraten und nicht linien­treue Kommu­nis­tinnen und Kommu­nisten, der Einsatz von Geheim­dienst und Polizei gegen bürger­liche Antifa­schis­tinnen und Antifa­schisten, gegen dieje­nigen, die sich nicht willfährig einfügen wollten oder sich auch nur vermeintlich gegen die neuen Macht­haber gewandt haben, sind voller politi­scher und persön­licher Dramatik gewesen. Waren doch viele von ihnen angetreten, eine bessere und neue Welt aufzu­bauen. In der Sprache der stali­nis­ti­schen »Sieger« wurden sie als »Renegaten« diffa­miert, ausge­grenzt und mundtot gemacht.

Die Person Josif Wissa­ri­o­no­witsch Stalins spielte dabei für die Selbst­in­sze­nierung in der DDR eine entschei­dende Rolle. In der Sonder­aus­stellung, zu deren Eröffnung wir hier in der Gedenk­stätte Hohen­schön­hausen zusammen gekommen sind, sind die Genese, die diversen Ausprä­gungen und die Funktion dieses „Perso­nen­kultes“, wie es später sehr verengend hieß, das Thema.

In Ost-Berlin wurde die Frank­furter Allee in Stalin­allee umbenannt und in den folgenden Jahren zur Pracht­straße umgestaltet. In Versamm­lungen hielt man dem „Genossen Stalin“ einen Platz im Präsidium frei, was uns heute als grotesk anmutet. Und wir wissen, dass der 70. Geburtstag Stalins am 21. Dezember 1949 aufwendig mit Aufmär­schen und Festver­an­stal­tungen gefeiert und insze­niert wurde, dass Lieder, Gedichte und Lobestexte auf den Diktator verfasst, während seine Gegner und Opfer rückwirkend auch aus dem kollek­tiven Gedächtnis elimi­niert wurden. Mit dem Tod Stalins erlosch diese Verherr­li­chungs­welle in der DDR keineswegs. Nur schlei­chend wurden Denkmäler abgebaut und Straßen und Städte – wie Stalin-Stadt, das zu Eisen­hüt­ten­stadt wurde – umbenannt.

Gegner des Stali­nismus treffen auf taube Ohren

Es ist ein wichtiger Aspekt der Aufar­beitung der SED-Herrschaft, sich mit diesem „Perso­nenkult“ und der damit verbun­denen Geschichts­fäl­schung ausein­an­der­zu­setzen. Der Umgang mit dem Stali­nismus in der DDR ist dafür bedau­er­li­cher­weise ein sehr ertrag­reiches Feld. Um „in Ungnade Gefallene“, Verhaftete oder Ermordete retuschierte Fotos und die Geheim­haltung von Berichten über den sowje­ti­schen Terror gehören dazu. Die Verherr­li­chung Stalins sollte die SED-Herrschaft legiti­mieren, zugleich zeigt sie aber, wie abhängig die SED von der Sowjet­union war. Wolfgang Leonhard hat in seinen Erinne­rungen „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ nicht nur den frühen stali­nis­ti­schen Terror in Sowjet­russland geschildert, sondern auch die Versuche von SED-Funktio­nären, eine Emanzi­pation von der Linie der KPdSU und einen „deutschen Weg zum Sozia­lismus“ zu eröffnen, was zum Scheitern verur­teilt und für die Betref­fenden nicht folgenlos war. Für Leonhard war dieser Bruch mit dem Stali­nismus, der nach den ersten anfäng­lichen Zweifeln erst über Jahre reifen musste, 1949 Anlass, aus der Sowje­ti­schen Besat­zungszone über Prag nach Belgrad in Jugoslawien zu flüchten.

Trotz des Wissens um den stali­nis­ti­schen Terror und obwohl sie zum Teil selbst dessen Opfer geworden waren, schwiegen viele Remigranten aus der Sowjet­union und betei­ligten sich am Aufbau der DDR und des dikta­to­ri­schen Systems. Einige wollten zumindest im Privaten sprechen, stießen aber auf taube Ohren. Wolfgang Ruge etwa erhielt 1955 in der sowje­ti­schen Gefan­gen­schaft Besuch von seiner Mutter. Als er ihr sagen wollte, „was (ihm) seit langem auf der Seele (lag): dass Stalin ein Verbrecher und Mörder sei“, habe sie sich „demons­trativ die Ohren“ zugehalten und erklärt, „dass sie derartige Aussprüche unter keinen Umständen hören wolle.“

Warum gerade Menschen, die solche Grausam­keiten erlitten hatten und die auch noch von Partei und Staats­si­cherheit Zeit ihres Lebens misstrauisch beobachtet wurden, diesem stali­nis­ti­schen Staats­system loyal gegenüber blieben, gehört zu den noch nicht schlüssig beant­wor­teten Fragen an die Geschichte des Kommu­nismus. Ein Urteil sollte man hier jedoch nicht leicht­fertig fällen. „Es war eine Freude, Kommunist zu sein, sich als kleines Rädchen der riesigen Maschine zu wissen, die Ungarn und die ganze Welt einer schönen, gerechten Zukunft entge­gen­führen würde“, begann György Hódos seine Bericht „Schau­pro­zesse“ über die stali­nis­ti­schen Säube­rungen. Und beschreibt, wie viele vom Terror Betroffene Folter, Prozesse, Ermordung bis zum Schluss für einen Fehler im System hielten, der sofort abgestellt würde, wenn das weise Väterchen Stalin davon wüsste…

Niemals wieder darf gelten: „Der Zweck heiligt die Mittel“

Wenn wir heute über Stalin sprechen, können wir uns nicht darauf zurück­ziehen, die Figur Stalins auf die psychi­schen Erkran­kungen eines „Führers und großen Lehrers“ zurück­zu­führen. Auch die Dokumen­tation der verzer­renden Verharm­losung durch den Stalin-Kult wird als Erklärung nicht reichen. Sicherlich ist es lehrreich und auf eine erschre­ckende Weise faszi­nierend, vom Wirken des „großen Führers des Sowjet­volks“ aus Beschrei­bungen zu erfahren, wie sie Simon Sebag Monte­fiore mit „Am Hof des roten Zaren“ vorgelegt hat. Der Stali­nismus bedarf aber darüber hinaus der konkreten histo­ri­schen Betrachtung als ein planmä­ßiges System der Vernichtung, Terro­ri­sierung, der Freiheits­be­raubung und Ausgrenzung vermeint­licher oder wirklicher „Abweichler“, als Schaffung und Sicherung der Herrschaft von und der Gefolg­schaft gegenüber einer Bürokra­ten­kaste, die auch die Wirkungs­macht Stalins in Deutschland, der DDR und der Bundes­re­publik berück­sichtigt. Und selbst die gesell­schaft­liche Linke, die in Ost wie West, positiv wie negativ auf das partei­bü­ro­kra­tische Sozia­lis­mus­modell Bezug nahm, hat die bleibende Aufgabe, sich mit dem „langen Schatten des Stali­nismus“, wie der Histo­riker Christoph Jühnke es in seinem gleich­na­migen Buch tut, auseinanderzusetzen.

An einem Ort, der auf brutale Weise ganz unmit­telbar zum Leidensort für die Opfer des Stali­nismus in der DDR wurde, eröffnen wir heute eine Ausstellung, die die Auswüchse des Stalin­kultes, seine Protagonist*innen und Opfer in Bezug auf das Nachkriegs­deutschland vorstellt. Ich wünsche der Ausstellung, dass sie eine vertiefte Ausein­an­der­setzung mit dem Stali­nismus anregen und befördern kann und Anregungen für die weitere zeitge­schicht­liche Diskussion zur Aufar­beitung der frühen SBZ/​DDR sowie dem westdeut­schen Umgang mit Stalin und dem Stali­nismus zu geben vermag. Deshalb wünsche ich dieser Ausstellung ein breites öffent­liches Echo und zahlreiche Besucher.

Wolfgang Ruge hat übrigens bereits kurz nach dem Ende der SED-Herrschaft ein Buch unter dem Titel „Stali­nismus – eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte“ veröf­fent­licht. Dieses Buch war für mich die erste syste­ma­tische Betrachtung dieses Herrschafts­systems, welches mir bleibende Eindrücke verschafft und mir geholfen hat, die Augen zu öffnen. Es trägt eine wichtige Botschaft in sich: Dass niemals wieder gelten darf: „Der Zweck heiligt die Mittel“. Und das ist auch der Grund, warum es bei der Aufar­beitung des Stali­nismus für Linke niemals einen Schluss­strich geben darf.

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