Konferenzbericht: „Die EU und Georgien – Was folgt aus der Wahl?“
Nach den umstrittenen Parlamentswahlen in Georgien diskutierten Experten aus Wissenschaft und Politik im Europäischen Haus in Berlin die Konsequenzen für die EU und Georgien. Welche Rolle spielen Wahlmanipulationen, geopolitische Interessen und der Druck der Straße in Tiflis? Und wie sollte die EU auf die autoritären Tendenzen der georgischen Regierung reagieren? Die Debatte wirft zentrale Fragen zur Zukunft des EU-Beitritts Georgiens auf.
Wenige Tage nach den viel kritisierten Wahlen in Georgien diskutierten im Europäischen Haus in Berlin Experten aus Wissenschaft und Politik das umstrittene Wahlergebnis zugunsten der prorussischen Regierung. Wie sind die Ergebnisse der Wahlen und die Berichte über Manipulationen zu bewerten? Welche Implikationen folgen nun für die Europäische Union im Umgang mit dem Beitrittskandidaten Georgien? Darüber diskutierten:
- Prof. Dr. Tanja Börzel, SCRIPTS
- Anikó Glogowski-Merten, MdB (FDP)
- Dr. Mikheil Sarjveladze, Friedrich-Schiller-Universität Jena
- Dr. Khatia Kikalishvili, Zentrum Liberale Moderne
Die Moderation übernahm Dr. Christian Trippe von der Deutschen Welle.
Auf die Verleihung des EU-Kandidatenstatus für Georgien im Dezember 2023 folgten in der georgischen Bevölkerung viel Euphorie – aber auch konkrete Bedingungen an die georgische Regierung bezüglich der künftigen Beitrittsverhandlungen. Die antiwestliche und antidemokratische Politik der Regierungspartei „Georgischer Traum“, inklusive stark umstrittener Gesetze, veranlasste die EU jedoch wenige Monate später, die Beitrittsverhandlungen auszusetzen. Die Parlamentswahlen in Georgien am 26. Oktober sollten somit zu einer historischen Richtungsentscheidung zwischen einem Kurs in Richtung Europa oder in Richtung Russland werden. Die Ergebnisse der Wahlen und die Berichte über erhebliche Wahlmanipulationen sollten die EU dazu bringen, sich zu positionieren und zu handeln.
In ihrer Begrüßung erinnert sich Birgit Schmeitzner, Pressesprecherin der EU-Kommissionsvertretung in Berlin, an die Zeit vor zehn Jahren, als das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Georgien geschlossen wurde. Während eines Besuchs in Georgien zu dieser Zeit habe sie „viel Aufbruchsstimmung und Positives empfunden“. Sie konstatiert, seitdem sei viel passiert: der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der Antrag Georgiens, in die EU aufgenommen zu werden, die Bewilligung des Beitrittskandidatenstatus, dessen Aussetzung und die generell besorgniserregende Entwicklung der Regierung.
Mikheil Sarjveladze von der Friedrich-Schiller-Universität Jena und selbst Georgier ist sich sicher, die Parlamentswahlen seien „massiv gefälscht“. „Beweise dafür werden aktuell gesammelt, unter anderem von den Oppositionsparteien, aber auch von NGOs in Georgien, die die Wahlen beobachten.“ Einige NGOs forderten sogar, dass die Stimmen von ca. 180 Wahllokalen als ungültig erklärt werden, da dort die Wahlrechtsverstöße besonders schwer seien. Wenn Sarjveladze von Wahlfälschung spricht, meint er damit „ein System, in dem der ganze Staatsapparat einbezogen ist – inklusive Regierungspartei, Polizei und Geheimdienst“. Weiter berichtet er von Methoden wie der Umregistrierung von Wählern, der Organisierung von kriminellen Banden, die Wähler einschüchtern, und der Mobilisierung der administrativen Ressourcen, also dem großen Druck auf Menschen, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind. Bezüglich der nächsten Schritte fordert der Georgier von der EU und dem Westen, nicht lange zu warten, sondern jetzt Druck auf die georgische Regierung auszuüben, und befürwortet eine „internationale unabhängige Untersuchungskommission“. Letztlich gibt er noch zu bedenken, dass die EU Georgien aktuell nicht nur als „demokratischen, sondern auch als geopolitischen Partner verliert“.
Die Bundestagsabgeordnete Anikó Glogowski-Merten (FDP) ist sich jedoch sicher: „Europa hat Georgien nicht verloren.“ Sie glaubt, das Herz der großen Mehrheit der georgischen Bevölkerung schlage weiterhin für Europa. Auf die Frage von Moderator Christian Trippe, wie sich der Widerspruch erklären lasse, dass einerseits eine große Mehrheit (ca. 80 %) der Bevölkerung in die EU möchte und gleichzeitig so viele Menschen für den prorussischen „Georgischen Traum“ stimmten, weist Glogowski-Merten darauf hin, dass die Manipulationen und Einflussnahmen der Regierungspartei, z. B. durch das Besetzen von wichtigen Posten (Wahlkommission), bereits seit Jahren geschehen. Letztlich ist es ihr aber unverständlich, „warum man sich nun Russland zuwendet, wenn man bedenkt, wie viel Schaden Russland Georgien in der Geschichte zugefügt hat.“
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Khatia Kikalishvili, Programmleiterin für Östliche Partnerschaft im Zentrum Liberale Moderne, betonte, wie ernst die Lage für viele Georgierinnen und Georgier ist. Sie teilt die Befürchtung, dass die Regierungspartei ihre Ankündigung, die gesamte georgische Opposition kollektiv zu bestrafen bzw. zu verbieten, wahr machen wird. „Ich erwarte, falls diese Wahlen von der EU und dem Westen anerkannt werden, eine sehr repressive Zeit für die proeuropäische Bevölkerung, Politiker und die Zivilgesellschaft in Georgien.“ Weiter warnt die gebürtige Georgierin: „Es geht jetzt um alles. Wenn die Wahl so akzeptiert wird und die Regierung ihren autoritären Kurs fortsetzt, verlieren ich und viele andere Georgier ihre Heimat. Viele Akademiker und Intellektuelle werden das Land verlassen.“ Und das gerade jetzt, wo Georgien so nah wie nie zuvor an der EU steht. Ihre Kritik richtet sich mit Blick auf die Wahlen auch an die georgische Opposition. Viel früher hätte man dem falschen Narrativ von „Georgischer Traum“, nur diese könne Frieden in Georgien garantieren, entgegenwirken müssen. Bezüglich der Positionierung und des weiteren Vorgehens der EU formuliert Kikalishvili drei deutliche Forderungen: Erstens müsse Druck auf die georgische Regierung und die Zentralkommission ausgeübt werden, damit diese kooperiert und die Wahlmanipulationen untersucht. Zweitens sollten gegebenenfalls Neuwahlen gefordert und unterstützt werden, wie es auch die georgische Opposition tut. Drittens seien personalisierte Sanktionen gegen den mächtigen Mann bei „Georgischer Traum“, Bidzina Iwanischwili, und dessen Umfeld zwingend notwendig.
Tanja Börzel, SCRIPTS, sieht neben den Wahlmanipulationen noch weitere Erklärungen für das Wahlergebnis. Viele der Wähler, die für den „Georgischen Traum“ stimmten und überwiegend im ländlichen, eher konservativen Raum leben, seien keineswegs automatisch anti-europäisch eingestellt. Tatsächlich würden sich viele Menschen um ihre wirtschaftliche Zukunft sowie einen möglichen Krieg sorgen. Der Aspekt „Sicherheit“ sei wahlentscheidend gewesen. In diesem Zusammenhang kritisiert die Professorin, dass mit einer EU-Beitrittsperspektive nicht eine notwendige Sicherheitsgarantie einhergeht. „Das erfährt die Ukraine gerade sehr schmerzhaft.“ Gerade mit Blick auf den unsicheren Ausgang der US-Wahlen im November seien solche Sicherheitsgarantien für Georgien, aber auch für die Ukraine und Moldau, essenziell. Dass für Georgien mit der jetzigen Regierung der Weg in die EU weiter offenbleibt, sieht Börzel nicht: „Wir haben es mit einer Regierung in Georgien zu tun, die ihre eigene Macht nur erhalten kann, wenn sie die Kopenhagener Kriterien nicht erfüllt.“
Am Abend der Podiumsdiskussion im Europäischen Haus gingen in Tiflis Zehntausende auf die Straße und taten ihrem Unmut über die manipulierten Wahlen kund. Die EU übt zwar Kritik an den Wahlen, bleibt in ihrer Reaktion aber eher abwartend. Man wolle auf den endgültigen Bericht der OECD warten. Ob der Druck der Straße in Georgien anhält und ob die proeuropäische Opposition die notwendige Rückendeckung aus der EU erhält – und zwar rechtzeitig – werden die kommenden Tage und Wochen zeigen.
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