Liberale Antworten auf die Digitalisierung

Workshop Bericht

Digitale Techno­logien prägen jeden Bereich unseres Lebens. Sie beein­flussen die Art und Weise wie wir kommu­ni­zieren und lernen. Sie haben auch einen wesent­lichen Einfluss darauf, wie wir arbeiten, konsu­mieren und Infor­ma­tionen sammeln. Auch die Art und Weise, wie wir lieben und denken, wird von digitalen Techno­logien beein­flusst. Sie definieren das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine neu und eröffnen ungeahnte Möglichkeiten.

Die Corona-Pandemie hat diese Entwick­lungen weiter beschleunigt. Die Digita­li­sierung ist eine der großen Heraus­for­de­rungen unserer Zeit. Daher ist es entscheidend, ein tiefgrei­fendes Verständnis der digitalen Trans­for­mation zu erlangen, um diese gestalten zu können.

Libera­lismus neu denken 

Im Rahmen unseres Projekts „Rethinking Liberalism“ disku­tiert das Zentrum für Liberale Moderne das Thema:

Wie kann der Libera­lismus erneuert werden?

In den letzten Jahren gab es viel Kritik am Libera­lismus – insbe­sondere unter dem Etikett „Neoli­be­ra­lismus“ – und seinen Fallstricken, jedoch weniger an seiner zeitge­nös­si­schen Erneuerung. Das ist das Ziel dieses Projekts: Den Libera­lismus erneuern, indem liberale Antworten auf die großen Heraus­for­de­rungen unserer Zeit disku­tiert werden.

Heraus­for­de­rungen gibt es einige: Klima­wandel, globale Migration, soziale Ungleichheit, Aufstieg autori­tärer Mächte sowie Digita­li­sierung. Sie alle verlangen nach neuen Ideen, Perspek­tiven und Antworten. Diese großen Heraus­for­de­rungen nähren oft autori­täres Denken und populis­tische Bewegungen, was die Notwen­digkeit liberaler Antworten noch dringender macht. Unser Projekt „Rethinking Liberalism“ verbindet liberale Denker:innen aus verschie­denen Ländern, verschie­denen politi­schen Familien und akade­mi­schen Hinter­gründen. Ziel ist es, ein vielfäl­tiges Netzwerk von liberalen Denker:innen und politi­schen Akteuren zu schaffen.

Das Internet zwischen Utopie und Dystopie 

In seinen Anfängen wurde das Internet oft als Utopie von Freiheit und direkter Demokratie gefeiert. Tatsächlich spielte es bei demokra­ti­schen Aufständen wie dem Arabi­schen Frühling eine entschei­dende Rolle und bietet noch immer eine beispiellose Gelegenheit, sich zu infor­mieren, zum Austausch und zur Vernetzung. Im Gegensatz zu diesen visio­nären Hoffnungen wurde in den letzten Jahren das dysto­pische Potenzial autori­tärer Kontrolle und Manipu­lation, einer Ökonomie, in der mensch­liche Individuen überflüssig werden und eine von anonymen Algorithmen getriebene Gesell­schaft in den Vorder­grund gerückt.

In unserem Workshop haben wir folgende Aspekte der Digita­li­sierung diskutiert:
– die Rolle digitaler Plattformen
– die Rolle digitaler Techno­logien im neuen System­kon­flikt mit autori­tären Regimen
– die Ethik der Algorithmen.

Platt­formen spielen eine prägende Rolle in der Wirtschaft und in unserem Alltag 

Platt­formen spielen in unserem Leben eine immer größere Rolle. Wir kommu­ni­zieren über WhatsApp oder Telegram, bleiben über Facebook in Kontakt und infor­mieren uns über Twitter. Unser Zugang zu digitalen Infor­ma­tionen ist durch den Google-Suchal­go­rithmus und seine versteckten Vorur­teile weitgehend struk­tu­riert. Neben diesen bekannten Beispielen gibt es immer mehr Platt­formen in den Bereichen Kommu­ni­kation, Mobilität, Einkaufen, Gesundheit und Bildung. Diese Platt­formen können als kritische Infra­struk­turen angesehen werden, wie Christoph Busch, Professor an der Univer­sität Osnabrück, argumentiert:

Platt­for­menwie Amazon, Google und Facebook, aber auch digitale Start-ups, die später von den großen Digital­kon­zernen aufge­kauft werden, dringen in Lebens­be­reiche vor, in denen es um gesell-schaft­liche Teilhabe, Demokratie und die Grund­ver­sorgung der Bevöl­kerung mit wesent­lichen Leistungen geht. 

Einige digitale Infra­struk­turen stellen Dienste von grund­le­gender Bedeutung für unsere Gesell­schaft bereit und bedürfen daher einer beson­deren Regulierung. Sie können als eine Art hybride Insti­tu­tionen angesehen werden: private Unter­nehmen, die grund­le­gende öffent­liche Dienst­leis­tungen anbieten. Dies ist kein völlig neues Phänomen, wenn man an die Rolle privater Energie‑, Wasser- und Gesund­heits­un­ter­nehmen denkt. Die Diskussion greift also zu kurz, wenn sie die grund­le­gende Funktion einiger dieser Platt­formen in Bezug auf Infor­mation, Kommu­ni­kation und Struk­tu­rierung der politi­schen Öffent­lichkeit nicht berück­sichtigt. Daher ist die Regulierung von Platt­formen nicht nur eine Frage der Kartell‑, sondern auch der Infra­struk­tur­po­litik. Busch sagt:

Vor diesem Hinter­grund ist es wohl keine Übertreibung, wenn den großen digitalen Platt­formen eine gewisse Form von System­re­levanz für das Funktio­nieren der digitalen Gesell­schaft zugesprochen wird. 

Er spricht sich für ein neues Gesetz zu digitalen Infra­struk­turen aus. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir staat­liche Platt­formen für alle möglichen Zwecke benötigen. Der Staat sollte sich nicht anmaßen, ein besserer Unter­nehmer zu sein. Aber Infra­struk­tur­re­gu­lierung, argumen­tiert Busch, sei eine wesent­liche Aufgabe des Staates (oder– noch passender – der Europäi­schen Union).

Wichtige Richt­linien für ein solches Gesetz können sein:

- fairer Zugang zu digitalen Diensten für alle
– Regelungen zur Datennutzung
– Einschrän­kungen bei perso­na­li­sierten Preisen und
– die Verpflichtung zur Wahrung der Grund­rechte In der Diskussion wurden mehrere Fragen gestellt:

Sind Platt­formen freie Märkte oder algorith­mi­sierte Kommando- und Kontrollstrukturen?
Kann der Natio­nal­staat eine wirksame Regulierung durch­setzen oder braucht es andere Ebenen?
Wem vertrauen wir (mehr): dem Staat oder privaten Unternehmen?
Hat sich das Risiko­schema geändert: von Staaten zu privaten Unternehmen?

Die Teilnehmer waren sich einig, dass die Regulierung von Platt­formen wesentlich für das zukünftige Funktio­nieren unserer Demokratien ist, da sie grund­le­gende öffent­liche Dienste bereit­stellen und als Torwächter zum Bereich der digitalen Infor­mation, Kommu­ni­kation und des Handels fungieren.

Digitaler System­wett­bewerb mit China

Gibt es so etwas wie einen digitalen System­wett­bewerb? Wenn ja, bei voller Reich­weite nur mit China, meint Thorsten Benner, Direktor des Global Public Policy Institute. China ist das einzige autoritäre Land, das im vollen Umfang digitaler Techno­logien konkur­rieren kann, vergleichbar nur mit den USA. China kombi­niert eine Reihe fortschritt­licher Techno­lo­gie­un­ter­nehmen mit globaler Reich­weite, riesigen Daten­mengen, die von Regie­rungs- und Handels­un­ter­nehmen verwendet werden können, und einer laxen Regulierung ohne Daten­schutz­rechte für die Benutzer. In dieser Hinsicht übertrifft China Russland bei weitem.

Liberale Demokratien müssen sich wehren, betonte Benner. Für ihn ist die digitale Entkopplung der richtige Weg dafür. Dieser Vorschlag führt zu umstrit­tenen Fragen: Sollen westliche Tech-Unter­nehmen wie Google, Facebook, Apple oder Twitter auf dem chine­si­schen Markt bleiben und Sicher­heits­be­hörden Zugriff auf die Daten ihrer Kunden gewähren? Sollten sie den Forde­rungen der chine­si­schen Regierung folgen und bestimmte Inhalte verbieten, z.B. in Bezug auf Taiwan oder Hongkong? Oder sollten sie sich von autori­tären Ländern zurück­ziehen, an Grund­frei­heiten festhalten und die Märkte in diesen Regimes für nicht-westliche Unter­nehmen freigeben? Sollten wir umgekehrt chine­sische IT-Unter­nehmen wie Huawei von den westlichen Märkten ausschließen?

Während westliche Big-Tech-Unter­nehmen auf diese Fragen unter­schiedlich antworten, machte Benner deutlich, dass er sich für eine klare Entkopplung entscheidet, was eine kontro­verse Diskussion unter den Workshop-Teilnehmern auslöste. Würde eine Entkopplung die Kriegs­gefahr endgültig erhöhen? Welche Infor­ma­tions- und Kommu­ni­ka­ti­ons­kanäle bleiben kriti­schen Köpfen in China? Wie kann der Geist der liberalen Demokratie in diesen Ländern überleben und gedeihen, wenn wir eine digitale Mauer zwischen „denen“ und „uns“ errichten?

Algorithmen und künst­liche Intelligenz

„F*ck den Algorithmus!“ Dieser Slogan wurde von Schul­kindern in Großbri­tannien verwendet, nachdem kürzlich ihre Noten hochge­rechnet und von Compu­ter­pro­grammen ermittelt wurden – nach den Durch­schnitts­noten in ihrer Nachbar­schaft, nicht nach ihrer tatsäch­lichen Leistung. Diese Art der „voraus­schau­enden Entschei­dungs­findung“ wird auch von der Polizei sowie für Bewer­bungs­ver­fahren genutzt.

Dieses Beispiel zeigt, dass Algorithmen bereits einen großen Einfluss auf unser Leben haben. Sie beein­flussen unsere beruf­lichen Möglich­keiten, Verbrau­cher­ent­schei­dungen und sogar unsere Weltan­schauung. Sie mögen bei Entschei­dungs­pro­zessen kohärenter und effizi­enter sein, aber programm­in­hä­rente Vorur­teile haben einen großen Einfluss auf die Menschen – mögli­cher­weise sogar größer als indivi­duelle Entschei­dungen. Entschei­dungen von Algorithmen beein­flussen viele Menschen zugleich.

Das Problem bei diesen sozio-techno­lo­gi­schen Systemen: Sie beein­flussen das Leben der Menschen tief, aber für die meisten Nutzer wirken sie wie eine „Black Box“: hochkomplex und intrans­parent zugleich.

Carla Hustedt, Direk­torin des neuen „Centre for Digital Society“ der Stiftung Mercator, machte deutlich, dass es bei digitalen Produkten keinen Bedarf an neuen Grund­rechten gibt, sondern bereits bestehende Rechte durch­ge­setzt werden müssen. Hustedt machte auch deutlich, dass moralische Fragen öffentlich debat­tiert und politisch entschieden werden sollten. Wir sollten sie nicht Techno­lo­gie­un­ter­nehmen überlassen. KI-Ethik kann bei richtiger Umsetzung sogar zum Wettbe­werbs­vorteil werden.

Das Wissen um die Funkti­ons­weise von Algorithmen muss ihrer Meinung nach weiter verbreitet werden, insbe­sondere bei Eliten, die an Entschei­dungs­pro­zessen beteiligt sind. Exper­ten­ge­mein­schaften und Aufsichts­gremien, die die hochkom­plexen Sachver­halte verstehen, sollten stärker in die politische Entschei­dungs­findung einge­bunden werden.

Liberale Antworten auf die Digita­li­sierung – vorläufige Schlussfolgerungen

Histo­risch gesehen befinden wir uns noch in den Anfängen der Erfor­schung der neuen digitalen Welt und der Definition ethischer Standards und demokra­ti­scher Regeln, damit sie zum Wohle der Allge­meinheit funktioniert.

Wir stehen vor einer wachsenden Spannung zwischen der beschleu­nigten techno­lo­gi­schen Innovation – und hier sprechen wir von grund­legend neuen Techno­logien – und dem schwer­fäl­ligen Tempo der öffent­lichen Verstän­digung und politi­schen Entschei­dungs­findung, die einen rechts­po­li­ti­schen Rahmen für das digitale Zeitalter schafft.

Ähnlich wie der Klima­wandel ist die Digita­li­sierung ein Test für die Fähigkeit liberaler Demokratien, die Dynamiken techno­lo­gie­ge­trie­bener moderner Gesell­schaften zu kontrol­lieren. Wie kommt man mit einer Techno­sphäre zurecht, die als eine Art autonomes, selbst­re­fe­ren­ti­elles und sich selbst repro­du­zie­rendes System verstanden werden kann? Diese Frage ist bei der Entwicklung selbst­ler­nender techni­scher Systeme, die immer komplexer und anspruchs­voller werden, außer­or­dentlich dringlich.

Letztlich stellen sich bei all den disku­tierten Aspekten die Fragen, wer am Steuer bahnbre­chender Techno­logien sitzt: die digitale Elite, autonome KI-Systeme oder wird die Gesell­schaft eine Tradition des infor­mierten öffent­lichen Diskurses und der demokra­ti­schen Entschei­dungs­findung bewahren können? Diese Frage gilt es in den nächsten Jahren zu beantworten.

 

[1]   Busch, Christoph: Regulierung digitaler Platt­formen als Infra­struk­turen der Daseins­vor­sorge. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2021, S. 21

[2]   Busch 2021: S. 15

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