LibMod Essaywettbewerb: Liberalismus mit Zukunft
In welchem Verhältnis stehen Freiheit und Verantwortung? Christopher Gohl blickt in seinem für den zweiten Platz unseres Essaywettbewerbs prämierten Beitrag auf das Modell von verantworteter Freiheit als experimenteller Methode und meint: So stehen Wirtschaft und Demokratie wieder im Dienst der Lebenschancen Ralf Dahrendorfs.
Die Corona-Pandemie hat vorgeführt, wovor uns die Rede von den planetaren Grenzen schon lange warnt: dass wir körperlich wie kulturell tief in die Kräfte der Natur verstrickt sind. Nicht nur als Opfer von Viren, sondern als Täter, die Umwelten gestalten, die solche Viren begünstigen. Wie wir zusammenleben, unsere Böden bewirtschaften und Ressourcen konsumieren, verändert bio-physikalische Dynamiken – mit radikalen Folgen für unsere künftigen Lebenschancen.
Klimawandel bedroht die Freiheit künftiger Generationen
Die Pointe des „Anthropozän“ liegt darin, dass uns die wechselseitige Evolution von menschlichen Lebensweisen und planetarischen Verhältnissen auf die Pelle rückt und drückt. Die Kreisläufe von Wasser, Land und Luft drohen aus dem Gleichgewicht zu kippen. Klimawandel und Artensterben sind nur die offensichtlisten ökologischen Entwicklungen, die wir auslösen. Sie bedrohen die „Freiheitschancen“ künftiger Generationen – und erfordern schon heute ein Ausbalancieren gegenwärtiger und künftiger Freiheiten, wie das Bundesverfassungsgericht 2021 urteilte.
Der ökologische Fußabdruck ist also eigentlich ein kultureller Handabdruck an der Gurgel der Freiheit. Ob es den materiell umsatzstarken liberalen Demokratien und Marktwirtschaften gelingt, heutige Lebensweisen in Diensten künftiger Freiheiten zu reformieren, bestimmt den evolutionären Kurs der Menschheit mit. Freiheitliche Lösungen kann es nur im adaptiven Zusammenspiel wirtschaftlicher Freiheiten und demokratischer Selbststeuerung geben.
Liberale setzen bisher vor allem auf die Bepreisung begrenzter Ressourcen. Wenn CO2 als endliche Menge einen Preis bekommt, werden externe Kosten internalisiert. Konzepte wie „Biodiversitätskredite“ könnten ähnliche Effekte für den Naturschutz erzielen. Klingt erst mal gut: Öko-Innovation sollen durch Wettbewerb Finanzvorstände und Ingenieure triggern, grüne Helden zu werden.
Dekarbonisierung der Wirtschaft ist ein Kulturwandel
Aber wer ökologische Probleme lösen will, indem die Umwelt als Eigentumstitel privatisiert wird, droht sich evolutionär zu verrechnen. Die „Internalisierung externer Kosten“ behandelt Öko-Systeme rein quantitativ und ignoriert die Qualität biophysikalischer Dynamiken. Nur weil Umwelt-Besitzer viele, kleine kurzsichtige Einzelentscheidungen über Teilmengen treffen, ändern sich weitgehend unverstandene evolutionäre Entwicklungen noch lange nicht zum Besseren.
Abgesehen davon bedeutet die Dekarbonisierung der Wirtschaft einen umfassenden Kulturwandel. Ganze Industrien, Milieus und Landschaften, auch Konsumgewohnheiten stehen auf dem Spiel – vom Fleisch auf dem Holzkohle-Grill über warme Wohnungen bis zu individueller Mobilität. Wer die kulturelle, ja: kulturkämpferische Dimension des Klimawandels ignoriert, verfehlt das Thema.
Das verfehlen freilich auch alle Linken, die glauben, das Hauptproblem sei „Klimagerechtigkeit“: Wer Schuld hat und jetzt Opferausgleich leisten muss. Man zeigt zwar auf echte Probleme. Aber die entstehen eben in Folge nicht nachhaltiger Lebens‑, Produktions- und Konsumweisen, die langfristig ihre eigenen evolutionären Grundlagen zerstören. Und diese kulturellen Gewohnheiten ändern sich nicht dadurch, dass man ihre bisherigen Früchte umverteilt.
Freiheiten von heute nützen, um Freiheiten von morgen zu schützen
In den Praktiken und Lebensformen (un)verantworteter Freiheit liegt für evolutionär aufgeklärte Liberale denn auch der Schlüssel zum Hauptproblem des Anthropozäns. Die grundsätzliche Herausforderung lautet: Wie gebrauchen wir gewohnheitsmäßig unsere Freiheiten auf eine Art und Weise, dass wir sie auch morgen noch genießen können? Oder reformorientiert gefragt: Wie könnten wir die Freiheiten von heute nützen, um die Freiheiten von morgen zu schützen?
Wohl kein liberaler Philosoph hat die Bedingungen bio-kulturell durchformter Freiheiten so umfassend untersucht wie der amerikanische Pragmatist John Dewey (1859–1952). Er übertrug evolutionäre Prinzipien auf die Sozialphilosophie und begeisterte sich als Humanist für die emanzipatorischen Potenziale experimenteller Selbststeuerung und Weltgestaltung. Die Bedingungen bewusster Evolution, die heute eine steigende Zahl interdisziplinär vernetzter Evolutionstheoretiker begeistert, untersuchte er in ihren psychologischen, pädagogischen, ethischen, ästhetischen, soziokulturellen, wirtschaftlichen und politischen Aspekten.
Dewey erkennt im menschlichen Bewusstsein die Möglichkeit, die Zufälligkeit evolutionärer Anpassungen an eine sich verändernde Umwelt zu überwinden. Die „Freiheit der Intelligenz“ erlaube es Menschen, durch experimentelles Lernen und Gestalten Probleme zu lösen und nach einem besseren Leben zu streben. Wer die Folgen des eigenen Freiheitsgebrauchs reflektiert, kann lernen, Freiheit gewohnheitsmäßig in Verantwortung für wünschenswerte Folgen zu gebrauchen. Dewey erwartet, dass das zu Verhältnissen führt, die die intelligent verantwortete Nutzung der Freiheit schützen, stützen und stabilisieren – also zu Sitten, Lebensweisen, Produktionsverfahren und Institutionen freiheitlichen Lebens.
Freiheit verpflichtet, Verantwortung befreit
Das Bild freiheitlich verantworteter Verhältnisse erinnert an die Einsicht des Soziologen Ralf Dahrendorf, wonach Optionen und Ligaturen zusammen Lebenschancen ergeben. Das sind die vielen kleinen und großen Freiheiten, mit denen wir nach Amartya Sen ein sinnvoll selbstbestimmtes Leben verwirklichen können. Sie sind uns dem Tübinger Philosophen Claus Dierksmeier zufolge nicht einfach nur gegeben, sondern aufgegeben: „Freiheit verpflichtet, Verantwortung befreit.“ Deweys Lernprozesse verantworteter Freiheit sind zugleich virtuose, hoffnungsvolle und stets gefährdete Zyklen. In ihnen lässt sich erkunden, verproben und rekonstruieren, wie welche und wessen Lebenschancen gewährleistet und aufeinander abgestimmt werden sollten, um ein Leben in dauerhaft freiheitlichen Verhältnissen zu ermöglichen. Also: wie Freiheiten qualitativ am besten konfiguriert werden, konsequenterweise in weltbürgerlicher Verantwortung.
Die Einsicht, dass freiheitliche Lebensformen in freiheitlichen Verfahren entstehen, dass also freiheitliche Zwecke am besten mit freiheitlichen Mitteln gewährleistet werden, prägt liberales Denken seit Immanuel Kant. Dewey nennt die für seinen Pragmatismus zentrale „experimentelle Methode der Untersuchung“ dementsprechend die „Methode der Freiheit“. Er beschreibt sie vor allem in der wissenschaftlichen Wahrheitssuche und der demokratischen Veränderung. Aber man darf sie auch in den Experimenten der wirtschaftlichen Wertschöpfung entdecken.
Dewey versteht Ökonomie ökologisch: Wirtschaftliche Aktivitäten verwandeln Umweltenergien – physische Kräfte, Ressourcen oder Arbeit – in konsumfertige Güter, die das Leben erhalten und verbessern. Ob in der Landwirtschaft, Industrie oder im Dienstleistungssektor: Experimentelle Intelligenz erfindet Verfahren für Produkte und Dienstleistungen mit einem nachgefragten Mehrwert.
Freiheit bedeutet, Lebenschancen zu haben
So schafft wirtschaftliche Wertschöpfung Mittel für ein dauerhaft gelingendes Leben. Das fängt an bei Kleidern am Leib, Essen auf dem Tisch und einer warmen Wohnung, geht über Produkte des Wochenmarkts und der Börse und reicht bis zu den digitalen Errungenschaften von heute – beispielsweise die Vorlese-App Speechify, deren Erfinder Cliff Weitzman trotz Leseschwäche studieren wollte. Wirtschaftliche Innovationen erweitern unsere (individuellen wie systemischen) Fähigkeiten, nach eigenen Vorstellungen gut leben zu können. Also: Lebenschancen zu haben. Frei zu sein!
Aber nicht alle Probleme lassen sich mit wirtschaftlichen Gütern lösen. Manche müssen politisch bearbeitet werden. Sowohl Wirtschaft als auch Demokratie sind für Dewey Cluster von gewohnheitsmäßigen Praktiken, die wiederkehrende Probleme lösen sollen. Das Grundproblem der Wirtschaft ist die materielle Versorgung eines zufrieden stellenden menschlichen Lebens. Und das Grundproblem demokratischer Politik ist es, Bedingungen dafür zu schaffen, dass Menschen gut zusammenleben können. Das schließt gut ordoliberal mit ein, die Korridore wirtschaftlichen Handelns zu ordnen.
Demokratie als Regierungsform der Selbstregulierung
Demokratie ist für Dewey öffentliche Konflikt- und Problembearbeitung. Freie, an Rechten gleiche Menschen untersuchen Probleme und verproben situative Lösungen, die zu dauerhaften Gewohnheiten werden. Kritik, Kreativität und Korrektur sind die Sisyphos-Aufgabe der Demokratie. Als partizipative Aushandlung und Weltgestaltung ist Demokratie die Regierungsform der Selbstregierung. Sie ist nicht zu trennen von der zivilgesellschaftlichen Lebensform der friedlichen Selbstorganisation und diskursiven Verständigung über notwendige Veränderungen jener vielfältigen „Experimente der Lebensformen“ (John Stuart Mill) einer offenen Gesellschaft.
Zugleich entspricht es Deweys Verständnis von der Bedeutung von Institutionen, Demokratie auch als Staatsform zu begreifen, welche die Rechte und Pflichten der Menschen so schützt und organisiert, dass ein Leben in intelligent verantworteter Freiheit möglich ist. Jenseits Hegel‘scher Heiligkeit ist dieser Staat ein historisch erprobtes, immer wieder zu reformierendes Instrument der Freiheit der Bürger und ihrer zivilgesellschaftlichen Assoziationen. Zu denen zählt Dewey auch Gilden, Gewerkschaften und Unternehmen. Sie sind an der Kultivierung guten Lebens beteiligt.
Deweys Idee, „Freiheit als Methode“ als eine evolutionär bewährte Strategie zu verstehen, in denen Lebensformen verantworteter Freiheit dauerhaft Lebenschancen gewährleisten, sollte Liberalen Mut und Hoffnung machen. Freiheitspolitik heißt, sich nicht nur für Wirtschaftspolitik, sondern auch für Demokratiepolitik zu engagieren – jeweils mit dem Zweck, komplementäre „Such‑, Lern- und Gestaltungsprozesse“ zu organisieren. Das entspräche einem Modell nachhaltiger Entwicklung, wie sie – leider komplett ignoriert – die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages schon 1998 im freiheitlichen Geist beschrieben hatte. Und es wäre die dringliche freiheitliche Antwort auf eine Zeit großer ökologischer Veränderungen.
Die Jury bestand in diesem Jahr aus Ursula Weidenfeld (freie Journalistin), Karen Horn (Universität Erfurt), Jan-Jonathan Bock (Hertie Stiftung), Dieter Schnaas (WirtschaftsWoche) und Ralf Fücks (Zentrum Liberale Moderne). Dieser Text ist bereits in der Wirtschaftswoche erschienen.
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