Charis­ma­tiker und Populisten: Neue Bewegungs­par­teien in Europa

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Bewegungs­par­teien setzen auf die Ausstrahlung eines an der Spitze agierenden Charis­ma­tikers, der über soziale Medien unmit­telbar mit der Bewegung kommu­ni­ziert. Der Erfolg dieses neuen Partei­entyps spiegelt den Wunsch breiter Wähler­schichten nach einer anderen Form der Reprä­sen­tation wider und ist eine ernst­zu­neh­mende Reaktion auf die Krise der tradi­tio­nellen Parteiendemokratie.

Bewegungs­par­teien verschie­dener ideolo­gi­scher Coleur haben eine lange Tradition und reichen bis weit in die 1920er-Jahre zurück. Während in der Nachkriegszeit der Begriff der Volks­partei Karriere machte, bekam der Begriff der Bewegungs­partei erst in den 1970er-Jahren wieder neuen Auftrieb, als in den Sozial­wis­sen­schaften über Bewegungs­par­teien im Zusam­menhang mit den neuen sozialen Bewegungen disku­tiert wurde.

Die an ihrer Spitze agierenden charis­ma­ti­schen Führungs­per­sön­lich­keiten sind einer­seits Erfolgs­ga­ranten, aber anderer­seits auch ein Problem, denn die neuen Bewegungs­par­teien sind zugleich in einem hohen Maße von der Perfor­mance dieser Führungs­per­sön­lich­keiten abhängig. 

Damals galten die in vielen europäi­schen Ländern aus dem Boden sprie­ßenden grünen und alter­na­tiven Parteien, die aus diesen Bewegungen hervor­gingen, als neuer Prototyp von Bewegungs­par­teien. Für den Polito­logen Joachim Raschke war das Beiwort ‚Bewegung‘ der zentrale Bezugs­punkt dieses Prototyps. Er schreibt: „Bewegung ist (...) ganz allgemein zunächst zentrales Legiti­ma­ti­ons­prinzip einer solchen Partei: diese muss sich, das heißt ihre Handlungen und Struk­turen gegenüber Bewegungen recht­fer­tigen, aus denen sie hervor­ge­gangen ist. (...) Eine Bewegungs­partei ist personell, mögli­cher­weise auch organi­sa­to­risch mit korre­spon­die­renden Bewegungen verflochten“ (Joachim Raschke: Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln 1993, S. 499). Doch trotz aller Defini­ti­ons­ver­suche und Beschrei­bungen blieb schon damals der Begriff der Bewegungs­partei unscharf. Das liegt auch am Begriff selber, der viele Assozia­tionen erlaubt und in der sozial­wis­sen­schaft­lichen Literatur auf unter­schied­lichste Weise inter­pre­tiert wird. Außerdem ist das Phänomen jeweils im konkreten histo­ri­schen Kontext zu betrachten. 

Portrait von Lothar Probst

Lothar Probst ist der ehemalige Leiter des Arbeits­be­reichs für Parteien‑, Wahl- und Parti­zi­pa­ti­ons­for­schung am Institut für Politik­wis­sen­schaft der Univer­sität Bremen.

Immer ist es ein Anführer, der die Bewegung ins Leben ruft

Wenn man sich heute mit den Bewegungs­par­teien beschäftigt, die in jüngster Zeit die europäische politische Bühne betreten haben, sollte man sie nicht einfach in die Tradition der Bewegungs­par­teien der 1970er-Jahre stellen, sondern als neues politi­sches Phänomen betrachten. Ein Unter­schied liegt auf der Hand: Der Impuls zu ihrer Gründung ging nicht von einer in der Gesell­schaft veran­kerten sozialen Bewegung aus, sondern von einer Person, die erst die Bewegung ins Leben ruft, aus der sich dann eine Bewegungs­partei entwi­ckelt. Damit ist bereits eine Gemein­samkeit markiert, die – bei aller Hetero­ge­nität – auf alle neuen Bewegungs­par­teien zutrifft: Die starke Ausstrahlung eines an ihrer Spitze agierenden Politikers, der entweder über ein genuines oder insze­niertes Charisma verfügt.

Ein weiteres gemein­sames Merkmal ist der perfekte Einsatz sozialer Medien, mit deren Hilfe die Bewegung etabliert und zusam­men­ge­halten wird. Während Charisma immer schon eine Ressource für politische Massen­mo­bi­li­sierung war, ist der Rückgriff auf die neuen Internet-Medien, die viele Möglich­keiten der direkten Kommu­ni­kation mit den Mitgliedern und Wählern eröffnen, ein neues Phänomen. Gleichwohl erinnert die Virtuo­sität, mit der dieses Instrument einge­setzt wird, an die Art und Weise, mit der schon Bewegungen in den 1920er-Jahren die damals aufkom­menden neuen techni­schen Möglich­keiten für ihre Massen­mo­bi­li­sierung genutzt haben.

ÖVP ist keine Bewegungspartei

Damit enden aber bereits die Gemein­sam­keiten. Die Liste Sebastian Kurz passt kaum in das Raster einer Bewegungs­partei. Kurz hat mit einer Gruppe Gleich­ge­sinnter, die er um sich versammelt hat, die ÖVP handstreich­artig „gehijackt“ und dann den Partei­ap­parat in einer medial perfek­tio­nierten Wahlkam­pagne ganz auf seine Person ausge­richtet. Ein wirkliches Bewegungs­moment und eine eindeutige politische Agenda sind kaum erkennbar. Weder gibt es einen Bewegungs­vor­läufer noch hat sich im Zuge seiner Nominierung als Kanzler­kan­didat eine aktive gesell­schaft­liche Unter­stüt­zer­be­wegung herausgebildet.

Anders verhält es sich mit Macrons En Marche, Bep­po Grillos Movimento 5 Stelle und Jean-Luc Mélen­chons Front de gauche (die mittler­weile in „La France insoumise“ umbenannt wurde). In allen drei Fällen ging den jewei­ligen elekto­ralen Erfolgen ein gesell­schaft­licher Bewegungs­impuls voraus. Macron schaffte es innerhalb nur eines Jahres über die Wahlplattform „En Marche“, hundert­tau­sende, vor allem junge Anhänger zu mobili­sieren, die sich in Foren, Arbeits­gruppen und Komitees organi­sierten und damit das Rückgrat für seine erfolg­reiche Wahlkam­pagne bildeten. Zugleich gelang es ihm mit einem ideolo­gisch hetero­genen Programm, das liberale, soziale und konser­vative Elemente vereinte, auch Vertreter bereits bestehender Parteien für sich zu gewinnen. Hinzu kam die proeu­ro­päische Ausrichtung seiner Kampagne, mit der er einen klaren Kontra­punkt zu Marine Le Pen setzte. Noch ist nicht ausge­macht, ob dieser Bewegungs­impuls auch weiter trägt, nachdem En Marche zur Partei geworden ist und Macron seine ehrgeizige Agenda in der Regierung umsetzen muss.

Erfolg hängt vom Charisma der Führungs­per­sön­lichkeit ab

Mehr Bewegung als Partei ist nach wie vor Beppo Grillos Movimento 5 Stelle. Sie pflegt eine Kultur der ideolo­gi­schen und organi­sa­to­ri­schen Offenheit, die keine der anderen neuen Bewegungs­par­teien in diesem Ausmaß vorweisen kann. Man könnte sie auch als Bewegung der „Antipo­litik“ bezeichnen, die eher kultu­relle als politische Züge trägt. Aber auch in diesem Fall ist noch offen, zu welchen Diffe­ren­zie­rungs­pro­zessen es kommt, nachdem die Partei als Teil einer natio­nalen Regierung agiert.

Mélen­chons Front de gauche wiederum ist ideolo­gisch zwar festgelegt, verlangt von den Mitgliedern aber keine starke Verpflichtung auf die Program­matik. Sowohl mit der organi­sa­to­ri­schen Offenheit der Front de gauche als auch den system­op­po­si­tio­nellen Zügen seiner Bewegung knüpft er an das franzö­sische Erbe der parti-mouvement an, die schon in den Gründungs­zeiten der franzö­si­schen Sozia­listen mit eben diesen Merkmalen in Erscheinung trat.

Die neuen Bewegungs­par­teien lassen sich also nicht über einen Kamm scheren, auch wenn sie struk­tu­relle Gemein­sam­keiten aufweisen und organi­sa­to­risch sehr viel poröser sind als klassische Parteien. Die an ihrer Spitze agierenden charis­ma­ti­schen Führungs­per­sön­lich­keiten sind Erfolgs­ga­ranten, aber zugleich ein Problem: Die neuen Bewegungs­par­teien sind in einem hohen Maße von der Perfor­mance dieser Führungs­per­sön­lich­keiten abhängig.

Gleichwohl sollte man sich bewusst sein, dass der Erfolg der neuen Bewegungs­par­teien den Wunsch breiterer Bevöl­ke­rungs­schichten nach einer anderen Form der Reprä­sen­tation wider­spiegelt. Sie sind insofern eine ernst­zu­neh­mende Reaktion auf die Krise der tradi­tio­nellen Parteiendemokratie.

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