Analyse: Europa stolpert durch die Pandemie
2020 war auch für die Europäische Union ein Seuchen-Jahr, nicht allein durch das Coronavirus. Zwar gelang unter der deutschen Ratspräsidentschaft ein bahnbrechender Krisenhaushalt, doch nationale Egoismen verhinderten dringend nötige Fortschritte.
Nachdem der Erreger im März zuerst Italien heimgesucht hatte, schotteten sich alle Mitgliedsländer ab, obwohl schnell klar war, dass sich ein Virus durch geschlossene Grenzen nicht aufhalten lässt und eine Pandemie ihrem Wesen nach nur im internationalen Verbund bekämpft werden kann. Die Wirtschaft litt dadurch zusätzlich, denn Lieferketten wurden unterbrochen. Das galt auch für medizinische Versorgungsgüter wie die begehrten Masken. Jedes Land versuchte sie auf eigene Faust zu besorgen – ein Windhundrennen, bei dem die Schwächeren das Nachsehen hatten.
Nach diesem ersten Schock fasste man in der EU gute Vorsätze. Ein gigantischer Corona-Rettungs- und ‑Wiederaufbaufonds für die notleidenden Haushalte und die Ökonomie wurde aufgelegt. Deutschland stimmte dafür sogar erstmals einer gemeinsamen Verschuldung zu. Verabredet wurde zudem, die im Eiltempo entwickelten Impfstoffe gemeinsam zuzulassen und zu beschaffen, um einen erneuten nationalen Überbietungswettbewerb wie im Frühjahr zu vermeiden.
Doch die Schwüre hielten nicht lang. Ungarn und Polen stemmten sich gegen den Rechtsstaats-Mechanismus, den die Staats- und Regierungschefs mit dem Corona-Milliardenpaket und dem neuen Finanzrahmen der Union beschlossen hatten. Mit Erfolg: Statt bei Verstößen von Mitgliedern gegen die EU-Verträge sie wie vorgesehen mit Finanzsanktionen bestrafen zu können, muss die Kommission sie nun zunächst vor dem Europäischen Gerichtshof verklagen – das kann dauern. Angela Merkel vermittelte als Vertreterin der Ratspräsidentschaft diesen mühsamen Kompromiss, weil sonst der Corona-Fonds gescheitert wäre und die EU mitten in der Pandemie erst einmal mit einem Nothaushalt hätte arbeiten müssen. Ungarns Premier Viktor Orbàn und Polens starker Mann Jaroslav Kaczynski feierten sich als Sieger.
Kurz darauf der nächste Schlag: Großbritannien, seit Jahresbeginn ohnehin nicht mehr Mitglied, ließ den ersten Impfstoff im Alleingang zu – vor den 27. Auch hier feierte sich Premier Boris Johnson, der bis dato in der Corona-Krise versagt hatte, als Gewinner. Und die EU- Regierungschefs mussten ihren Bürgerinnen und Bürgern erklären, weshalb Briten schon geimpft wurden, sie aber noch nicht.
Wie ein Treppenwitz der Geschichte mutet da an, dass ausgerechnet auf der britischen Insel kurz vor Weihnachten eine noch stärker ansteckender Mutant des Virus auftauchte. Die EU-Staaten riegelten umgehend die Grenzen zum Ex-Partnerland ab und unterbrachen den Flug- und auch Warenverkehr, um ein Überspringen des veränderten Virus auf den Kontinent zu verhindern. Erfolglos, denn erwartbarerweise tauchte die veränderte Variante nach wenigen Tagen auf dem Kontinent mehrfach auf. Die Briten erlebten daraufhin das, was ihnen ohne Abkommen ab Jahresbeginn ohnehin bevorgestanden hätte: Lieferengpässe und kilometerlange Lkw-Staus an den Grenzübergängen zum übrigen Europa.
Doch der Virus-Mutant wird sich dadurch nicht stoppen lassen. So wenig wie die Seuche einer national-egoistischen Politik: Die Bundesregierung, obwohl als Inhaberin der Ratspräsidentschaft bis Jahresende in besonderer Verantwortung für die Gemeinschaft, orderte zusätzlich zu dem von der Komission genehmigten und bestellten Impfstoff Hunderte Millionen weitere Dosen für ihre Bürger. Andere Länder, die nicht so wohlhabend sind und keine besonderen Verträge mit dem deutschen Co-Impfstoffhersteller Biontech haben, werden in die Röhre schauen. Ein schlechtes Vorbild unter dem Druck der heimischen Öffentlichkeit. Und ein böses Omen für 2021.
Auch sonst stand die halbjährige deutsche Präsidentschaft unter keinem guten Europa-Stern. Sicher, der Kampf gegen die Pandemie und die durch die sehr unterschiedlichen wiederholten Lockdowns ausgelöste horrende Wirtschaftskrise band viele Kräfte, die für das ehrgeizige Programm Berlins fehlten. Zusätzlich lähmte das endlose Tauziehen mit London um einen Handelsvertrag, mit dem das künftig Verhältnis Großbritanniens zur EU auf eine neue Basis gestellt werden soll. Aber nicht einmal bei der seit ewigen Zeiten angestrebten gemeinsamen Flüchtlings- und Migrationspolitik gab auch nur den geringsten Fortschritt, genauso wenig bei der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Immerhin vereinbarte die EU, bis 2050 klimaneutral zu werden und bis 2030 die Treibhausgas-Emissionen um 55 Prozent zu verringern. Angesichts der fortschreitenden Klimaerwärmung, die das Pariser Ziel eines Temperaturanstiegs um maximal 1,5 Grad illusorisch erscheinen lässt, wird das allerdings nicht reichen, auch wenn Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nicht müde wird, ihren „Green Deal“ anzupreisen.
Die Aussichten für das neue Jahr sind deshalb ernüchternd. Trotz der globalen dreifachen Herausforderung durch die Pandemie, den Klimawandel und die neue Supermacht China erweisen sich die nationalen Egoismen immer wieder als stärker. Nur in allerletzter Sekunde konnte der nächste Schock eines ungeregelten Brexit, der auch für EU der 27 gravierende Folgen hätte und das Friedensabkommen für Nordirland gefährden könnte, abgewendet werden. Wenn dann Ende 2021 auch noch Merkel als Anführerin der Union abtritt und als Partner des innenpolitisch stark angeschlagenen französischen Präsidenten Emanuel Macron ausfällt, dürfte in der Union noch weniger vorangehen. Dabei käme es angesichts der Bedrohungen durch China und Putins Russlands und des zerrütteten Verhältnisses zu den USA, das mit dem neuen Präsidenten Joe Biden erst wieder repariert werden muss, sowie des längst noch nicht besiegten Virus mehr denn je auf eine handlungsstarke EU an.
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