Analyse: Europa stolpert durch die Pandemie

Johnson, von der Leyen Foto: Shutterstock, Alexandros Michailidis
Johnson, von der Leyen Foto: Shutter­stock, Alexandros Michailidis

2020 war auch für die Europäische Union ein Seuchen-Jahr, nicht allein durch das Corona­virus. Zwar gelang unter der deutschen Ratsprä­si­dent­schaft ein bahnbre­chender Krisen­haushalt, doch nationale Egoismen verhin­derten dringend nötige Fortschritte.

Nachdem der Erreger im März zuerst Italien heimge­sucht hatte, schot­teten sich alle Mitglieds­länder ab, obwohl schnell klar war, dass sich ein Virus durch geschlossene Grenzen nicht aufhalten lässt und eine Pandemie ihrem Wesen nach nur im inter­na­tio­nalen Verbund bekämpft werden kann. Die Wirtschaft litt dadurch zusätzlich, denn Liefer­ketten wurden unter­brochen. Das galt auch für medizi­nische Versor­gungs­güter wie die begehrten Masken. Jedes Land versuchte sie auf eigene Faust zu besorgen – ein Windhund­rennen, bei dem die Schwä­cheren das Nachsehen hatten.

Nach diesem ersten Schock fasste man in der EU gute Vorsätze. Ein gigan­ti­scher Corona-Rettungs- und ‑Wieder­auf­bau­fonds für die notlei­denden Haushalte und die Ökonomie wurde aufgelegt. Deutschland stimmte dafür sogar erstmals einer gemein­samen Verschuldung zu. Verab­redet wurde zudem, die im Eiltempo entwi­ckelten Impfstoffe gemeinsam zuzulassen und zu beschaffen, um einen erneuten natio­nalen Überbie­tungs­wett­bewerb wie im Frühjahr zu vermeiden.

Doch die Schwüre hielten nicht lang. Ungarn und Polen stemmten sich gegen den Rechts­staats-Mecha­nismus, den die Staats- und Regie­rungs­chefs mit dem Corona-Milli­ar­den­paket und dem neuen Finanz­rahmen der Union beschlossen hatten. Mit Erfolg: Statt bei Verstößen von Mitgliedern gegen die EU-Verträge sie wie vorge­sehen mit Finanz­sank­tionen bestrafen zu können, muss die Kommission sie nun zunächst vor dem Europäi­schen Gerichtshof verklagen – das kann dauern. Angela Merkel vermit­telte als Vertre­terin der Ratsprä­si­dent­schaft diesen mühsamen Kompromiss, weil sonst der Corona-Fonds gescheitert wäre und die EU mitten in der Pandemie erst einmal mit einem Nothaushalt hätte arbeiten müssen. Ungarns Premier Viktor Orbàn und Polens starker Mann Jaroslav Kaczynski feierten sich als Sieger.

Kurz darauf der nächste Schlag: Großbri­tannien, seit Jahres­beginn ohnehin nicht mehr Mitglied, ließ den ersten Impfstoff im Alleingang zu – vor den 27. Auch hier feierte sich Premier Boris Johnson, der bis dato in der Corona-Krise versagt hatte, als Gewinner. Und die EU- Regie­rungs­chefs mussten ihren Bürge­rinnen und Bürgern erklären, weshalb Briten schon geimpft wurden, sie aber noch nicht.

Wie ein Treppenwitz der Geschichte mutet da an, dass ausge­rechnet auf der briti­schen Insel kurz vor Weihnachten eine noch stärker anste­ckender Mutant des Virus auftauchte. Die EU-Staaten riegelten umgehend die Grenzen zum Ex-Partnerland ab und unter­brachen den Flug- und auch Waren­verkehr, um ein Überspringen des verän­derten Virus auf den Kontinent zu verhindern. Erfolglos, denn erwart­ba­rer­weise tauchte die verän­derte Variante nach wenigen Tagen auf dem Kontinent mehrfach auf. Die Briten erlebten daraufhin das, was ihnen ohne Abkommen ab Jahres­beginn ohnehin bevor­ge­standen hätte: Liefer­eng­pässe und kilome­ter­lange Lkw-Staus an den Grenz­über­gängen zum übrigen Europa.

Doch der Virus-Mutant wird sich dadurch nicht stoppen lassen. So wenig wie die Seuche einer national-egois­ti­schen Politik: Die Bundes­re­gierung, obwohl als Inhaberin der Ratsprä­si­dent­schaft bis Jahresende in beson­derer Verant­wortung für die Gemein­schaft, orderte zusätzlich zu dem von der Komission geneh­migten und bestellten Impfstoff Hunderte Millionen weitere Dosen für ihre Bürger. Andere Länder, die nicht so wohlhabend sind und keine beson­deren Verträge mit dem deutschen Co-Impfstoff­her­steller Biontech haben, werden in die Röhre schauen. Ein schlechtes Vorbild unter dem Druck der heimi­schen Öffent­lichkeit. Und ein böses Omen für 2021.

Auch sonst stand die halbjährige deutsche Präsi­dent­schaft unter keinem guten Europa-Stern. Sicher, der Kampf gegen die Pandemie und die durch die sehr unter­schied­lichen wieder­holten Lockdowns ausge­löste horrende Wirtschafts­krise band viele Kräfte, die für das ehrgeizige Programm Berlins fehlten. Zusätzlich lähmte das endlose Tauziehen mit London um einen Handels­vertrag, mit dem das künftig Verhältnis Großbri­tan­niens zur EU auf eine neue Basis gestellt werden soll. Aber nicht einmal bei der seit ewigen Zeiten angestrebten gemein­samen Flücht­lings- und Migra­ti­ons­po­litik gab auch nur den geringsten Fortschritt, genauso wenig bei der gemein­samen Sicher­heits- und Vertei­di­gungs­po­litik. Immerhin verein­barte die EU, bis 2050 klima­neutral zu werden und bis 2030 die Treib­hausgas-Emissionen um 55 Prozent zu verringern. Angesichts der fortschrei­tenden Klima­er­wärmung, die das Pariser Ziel eines Tempe­ra­tur­an­stiegs um maximal 1,5 Grad illuso­risch erscheinen lässt, wird das aller­dings nicht reichen, auch wenn Kommis­si­ons­prä­si­dentin Ursula von der Leyen nicht müde wird, ihren „Green Deal“ anzupreisen.

Die Aussichten für das neue Jahr sind deshalb ernüch­ternd. Trotz der globalen dreifachen Heraus­for­derung durch die Pandemie, den Klima­wandel und die neue Super­macht China erweisen sich die natio­nalen Egoismen immer wieder als stärker. Nur in aller­letzter Sekunde konnte der nächste Schock eines ungere­gelten Brexit, der auch für EU der 27 gravie­rende Folgen hätte und das Friedens­ab­kommen für Nordirland gefährden könnte, abgewendet werden. Wenn dann Ende 2021 auch noch Merkel als Anfüh­rerin der Union abtritt und als Partner des innen­po­li­tisch stark angeschla­genen franzö­si­schen Präsi­denten Emanuel Macron ausfällt, dürfte in der Union noch weniger voran­gehen. Dabei käme es angesichts der Bedro­hungen durch China und Putins Russlands und des zerrüt­teten Verhält­nisses zu den USA, das mit dem neuen Präsi­denten Joe Biden erst wieder repariert werden muss, sowie des längst noch nicht besiegten Virus mehr denn je auf eine handlungs­starke EU an.

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