Marie­luise Beck: „Bevöl­kerung in Belarus will Recht auf freie Meinungsäußerung“

Schon im Vorfeld hat die Präsi­dent­schaftswahl am 9. August 2020 viel Neues gebracht, sagte Marie­luise Beck im Deutsch­landfunk. Es gebe eine starke Bürger­be­wegung im Land, die sich das Recht auf faire Wahlen und freie Meinungs­äu­ßerung erkämpfen wolle.

Das Interview im Wortlaut:

Rohde: Lange galt ja mit Blick auf Wahlen in Weißrussland: im Osten nichts Neues. Kann diese Wahl etwas Neues bringen?

Beck: Sie bringt vor allen Dingen im Vorfeld etwas Neues, diese breite Bewegung, die man wirklich als Bürger­be­wegung bezeichnen kann, und zwar nicht nur in Minsk, sondern tatsächlich auch in der Fläche, in der Region, und ganz offen­sichtlich Menschen, die nicht mehr so viel Angst haben, sehr deutlich zu zeigen, dass sie das Recht auf freie Wahlen haben möchten.

Menschen wollen faire Wahlen

Rohde: Die Strategie des autori­tären Staats­chefs Lukaschenko war ja über Jahrzehnte eigentlich, Menschen entpo­li­ti­sieren, die Opposition zu spalten, viele auch festzu­nehmen. Wie erklären Sie sich das denn, dass genau jetzt die Opposition so sichtbar ist und so viele Menschen politisiert?

Beck: Es gibt verschiedene Gründe. Zunächst einmal ist der Ehemann von der nun anste­henden Kandi­datin Swetlana Tichanowskaja, dieser Mann ist Blogger, er ist sehr volksnah, sehr hemds­ärmlich, und er hat tatsächlich die breite Bevöl­kerung angesprochen. Er ist auch über Land gereist. Er hat eigentlich das Klientel angesprochen, was sonst immer ganz verlässlich ist, Lukaschenko-Klientel war. Das ist ein Grund. Das Zweite ist, dass die Art, wie Lukaschenko mit Covid umgegangen ist, so offen­sichtlich irrsinnig war, dass die Menschen es gemerkt haben und zur Selbst­hilfe gegriffen haben. Also die haben verstanden, dass die Vorschläge, Vodka zu trinken, in die Sauna zu gehen und Trecker zu fahren gegen eine Pandemie nicht hilft, und sie haben angefangen, sich selbst zu organi­sieren. Es gab einen Hashtag „wir bleiben zu Hause“, also im Internet, einen zweiten, der hieß „ByHelp“, steht für BY, Belarus. Also es hat eine Selbst­or­ga­ni­sation statt­ge­funden jenseits des patri­ar­chalen Staates. Das ist tatsächlich etwas, hat eine neue Qualität in Weißrussland, wobei wir das immer ein Stück in den letzten Jahren auch schon beobachtet haben im vorpo­li­ti­schen Raum, bei Kultur, Kunst­schaf­fenden, Literatur. Also man konnte spüren, dass es durchaus Bewegung gibt. Der dritte Punkt ist die katastro­phale wirtschaft­liche Situation. Es ist ja fast noch eine weitge­hende Staats­wirt­schaft, die ist antiquiert, sklero­tisch würde ich sagen, erinnert ein bisschen an die DDR zu Honeckers Zeiten, und abhängig von Subven­tionen aus Russland. Russland hat angefangen, Lukaschenko unter Druck zu setzen, weil die Belarus in einen Unions­staat zwingen wollten. Alle diese drei Faktoren zusam­men­ge­nommen haben in der Bevöl­kerung jetzt nicht zu dem Wunsch geführt, so wie man in der Ukraine sagen konnte, wir wollen einen Maidan, wir wollen nach Europa, also wir wollen gen Westen, aber wir wollen das Recht auf freie Meinungs­äu­ßerung, und wir wollen faire Wahlen.

Drei Frauen im Wahlkampf: „Eine neue Qualität“

Rohde: Es gibt ja keine Umfragen. Die Opposi­ti­ons­kan­di­datin, die ist, muss man sagen, politisch unerfahren, tritt nur an – das haben Sie eben schon gesagt –, weil ihr Mann im Gefängnis sitzt. Muss ein erfah­rener Staatschef, ein langjäh­riger Staatschef wie Lukaschenko sich tatsächlich vor so einer Kandi­datin jetzt fürchten?

Beck: Ja, er muss genau vor so einer Kandi­datin sich fürchten. Es ist ja auch nicht nur eine Frau, es sind ja drei Frauen, zwei Frauen, deren … Einmal ist es die Wahlkampf­ma­na­gerin eines durchaus system­nahen Mannes, der Manager von Gazprom gewesen ist. Die zweite Frau, deren Mann war Diplomat, ist jetzt nach Russland gegangen, um sich dort mit den Kindern in Sicherheit zu bringen, und Swetlana Tichanowskaja, deren Mann auch verhaftet ist. Diese drei Frauen treten zusammen auf, auch eine neue Qualität. Es war in den letzten Wahlen nie möglich, die verschie­denen Parteien wirklich dazu zu bringen, sich auf einen Kandi­daten zu einigen. Sie alle sind selber angetreten und haben sich selbst gespalten. Also jetzt diese drei Frauen, die wirken sehr authen­tisch, sie wirken ehrlich, sie haben überhaupt nichts zu tun mit einem Mann, der seit 26 Jahren an der Macht festhält und immer antiquierter und aus der Zeit gefallen wirkt. Das ist eine ganz neue Qualität. Das hat Lukaschenko unter­schätzt, als er dachte, na ja, die Frau, die lass ich mal zur Wahl zu, alle anderen, die mir gefährlich werden könnten, die setze ich eher in Haft.

Rohde: Lassen Sie uns schauen – Sie haben das eben auch erwähnt – auf die Frage nach der Nähe und der Distanz zu Russland in diesem Wahlkampf, aber auch generell. Lukaschenkos Strategie war ja, vor Putsch­ver­suchen in den Land zu warnen, vor einem Massaker mitten in Minks, wie er es genannt hat, und er hat das auch in Zusam­menhang gebracht mit der Festnahme von 33 russi­schen Söldnern in der vorigen Woche in Belarus. Was genau steckt dahinter?

Beck: Das ist bisher relativ undurch­sichtig. Es handelt sich um Mitglieder der Gruppe Wagner. Das ist eine Söldner­truppe aus Russland, die überall dort ihre Finger drin hat, wo es Krieg und Mord gibt, sowohl bei der Krim als auch im Donbas, in Afrika und vor allen Dingen in Syrien. Es gibt verschiedene Thesen. Es sind tatsächlich 33 Männer dieser Gruppe Wagner in Minsk gewesen. Es kann sein, dass es eine ganz einfache Erklärung gibt. Aus Moskau gehen ja seit dem Lockdown fast keine Flugzeuge mehr raus, und Minsk kann als Drehscheibe genutzt worden sein. Das, was Lukaschenko versucht, herbei­zu­reden, da sollte es einen Putsch geben, und ich schütze euch vor einer Übernahme durch Moskau, halte ich nicht für plausibel, denn Putin muss nicht Lukaschenko wegput­schen. Er hat Lukaschenko doch weitgehend in der Hand, allein schon über die ökono­mische Macht, und insofern würde ich das eher für eine Finte halten. Lukaschenko bemüht diese Idee, besucht ja auch den Sicher­heits­ap­parat im Augen­blick, um zu zeigen, ich schütze euch, ich bin euer starker Mann.

Lukaschenko wird für Wunsch­er­gebnis sorgen

Rohde: Frau Beck, noch kurz eine Frage mit Bitte um eine kurze Antwort: Die Wahl findet ja erstmals ohne Beobachter der OSZE statt, die Opposition befürchtet jetzt schon Wahlbetrug. Stimmt Stalins Spruch weiterhin, dass es in Belarus nicht darauf ankommt, wer wählt, sondern wer die Stimmen auszählt?

Beck: Aber hallo! Die Wahllokale sind eine Woche offen. Können Sie sich das vorstellen, dass eine Woche Urnen in Schulen und sonst wo stehen unbewacht, was man da alles treiben kann? Eine Woche sind die Urnen offen, und insofern wird Herr Lukaschenko dafür sorgen, dass das Ergebnis nach außen so aussieht, wie er es sich wünscht.