Identi­täts­po­litik: Die Allianz der Opfer

Thiémard horlo­gerie /​ Flickr

Leiden „die Ostdeut­schen“ ebenso wie Einwan­derer und Flücht­linge unter Ausgrenzung und Diskri­mi­nierung, wie die Integra­ti­ons­for­scherin Naika Foroutan nahelegt? Ein verspä­teter April-Scherz, meint LibMod-Autor Marko Martin, der noch kurz vor dem Mauerfall der DDR den Rücken kehrte.

Ein Interview macht Furore: Mitte Mai überraschte Naika Foroutan, an der Berliner Humboldt-Univer­sität lehrende Profes­sorin für Integra­ti­ons­for­schung, in einem taz-Interview mit der These, Ostdeutsche seien eine Art Migranten, die ganz ähnliche Fremd­heits- und Ausgren­zungs­er­fah­rungen erlitten hätten: „Migranten haben ihr Land verlassen, Ostdeutsche wurden von ihrem Land verlassen.“ Kurz darauf zog die Spiegel-Kolum­nistin Ferda Ataman mit ähnlichen Thesen nach; seitdem vibriert die digitale Diskurszone vor lauter Für und Widers.

Es wäre tragisch und einiger­maßen absurd, wenn die Ostdeut­schen, von fürsorg­lichen Geistern in eine kollektive Identi­täts­falle gesteckt, sich erneut in eine Opfer­rolle einfügen würden. 

Lassen wir für einen Augen­blick beiseite, dass die Auflösung der DDR das Ergebnis einer demokra­ti­schen Erhebung großer Teile der Bevöl­kerung war, die gezielt auf die deutsche Einheit zumar­schierten und sie in freien Wahlen bekräf­tigten. Mich irritiert vor allem die Wiederkehr der alten, bis ´89 von der SED-Herrschaft verordnete Identi­fi­zierung des Landes mit einem Staat. Denn verschwunden ist ja lediglich die DDR (von der übergroßen Mehrheit ihrer einstigen Bewohner abgewählt und zum Teufel geschickt). Das Land existiert weiter – mit sanierten Innen­städten, aber ohne martia­lische Straßen­namen, Jubel­plakate, Hunger­renten, verseuchte Flüsse und konta­mi­nierte Bitter­felder Luft.

Steile Thesen aus dem Elfen­beinturm postmo­derner Theorie

Nicht nur wird die komplexe und oft genug tatsächlich ungerecht verlaufene Trans­for­mation einer krachend geschei­terten Planwirt­schaft in eine soziale Markt­wirt­schaft von Foroutan auf willkür­liche Betriebs­schlie­ßungen reduziert – sie zeiht sie überdies des „Rassismus“: „Die Begründung für die Schlie­ßungen war oft ein Motiv aus dem klassi­schen Rassismus. Wenn jemand etwas durch­setzen will, was moralisch illegitim ist, dann muss er die anderen entmensch­lichen oder doch zumindest herab­wür­digen.“ Will heißen, nicht der marode Zustand der Betriebe, nein, die Arroganz und Beutegier westdeut­scher Herren­men­schen sei verant­wortlich für den Zusam­men­bruch der DDR-Wirtschaft. Das ist zwar eine steile These aus dem Elfen­beinturm postmo­derner Theorie, hat aber mit der tristen Wirklichkeit einer verschlis­senen, überdi­men­sio­nierten und auf dem Weltmarkt nicht wettbe­werbs­fä­higen sozia­lis­ti­schen Industrie nicht viel zu tun.

Selbst­ver­ständlich hat eine renom­mierte Integra­ti­ons­for­scherin das Recht, die Niede­rungen der Empirie und das Dickicht histo­ri­scher Tatsachen zu meiden, und immer neue Opfer­gruppen ersinnend den Gegen­stand ihrer Forschung zu erweitern. Befremdlich jedoch – vielleicht aber auch logisch, betrachtet man das kollek­ti­vis­tische Menschenbild der “Identi­täts­po­litik“ – dass dies mit völkisch-identi­tärem Vokabular geschieht.  Neunund­zwanzig Jahre nach dem Untergang der DDR wird wieder wird von „den“ Ostdeut­schen gesprochen; die SED hätte sich gefreut. Jegliche lebens­welt­liche Ausdif­fe­ren­zierung, jede nach 1989 erfolg­reich ergriffene Chance zur Indivi­dua­li­sierung wird von Foroutan und Ataman negiert, auf dass ihre Figur vom fortbe­stehenden Opfer-Kollektiv „Ost“ Sinn ergibt. Hinzu kommt ihre hochfahrend apoli­tische Gewalt­samkeit, mit der  Alle – Stasi-Vernehmer und Stasi-Opfer, Macht­ha­bende und Machtlose sowie das Heer der Indif­fe­renten – wieder als „die“ Ostdeut­schen einge­stanzt werden, die angeblich gemeinsame Ausgren­zungs­er­fah­rungen gemacht hätten, die sie mit „den“ Migranten teilten. 

Portrait von Marko Martin

Marko Martin ist Schrift­steller und Publizist.

Recht­fer­tigung des antide­mo­kra­ti­schen Ressentiments

Ferda Ataman geht noch einen Schritt weiter: „Könnte die Ostdeut­schen­feind­lichkeit von damals die Radika­li­sierung mancher Ossis befeuert haben?“ Irre Medienwelt, in der eine deutsch­tür­kische, sich als aufge­klärt links verste­hende Spiegel-Kolum­nistin genau das nachplappert, was auf jeder Pegida-Demo und jeder ostdeut­schen AfD-Versammlung zu hören ist: „Die“ Ossis als die genuinen Erst-Opfer, die Recht­fer­tigung ihres antide­mo­kra­ti­schen Ressen­ti­ments als legitime Notwehr.

Die Erzählung vom Opfer­kol­lektiv leugnet nicht nur die Befreiung durch das Abschütteln der SED-Diktatur. Auch ökono­misch ist es eine lustige Definition von Kolonia­li­sierung, wenn mit jährlichen Finanz­transfers von 80 bis 100 Milli­arden Euro verfal­lende Städte saniert, eine komplette Infra­struktur moder­ni­siert und Sozial­leis­tungen finan­ziert werden, die die wirtschaft­liche Leistungs­kraft der ostdeut­schen Länder übersteigen. Dass die fortwir­kenden Unter­schiede bei Einkommen, Vermögen und Karrie­re­wegen nach 40 Jahren eines bürokra­tisch-autori­tären Sonderwegs andere Ursachen als struk­tu­relle Diskri­mi­nierung haben könnten, kommt dieser frei flottie­renden Betrach­tungs­weise nicht in den Sinn.

Schau­der­hafter Kollektivismus

Solche Opfer­rhe­torik ist freilich nicht neu. Bereits Anfang der neunziger Jahre hatte der ostdeutsche Dichter und spätere Büchner-Preis­träger Volker Braun die Vertreibung vietna­me­si­scher Vertrags­ar­beiter durch einen Mob in der sächsi­schen Stadt Hoyers­werda mit Verweis auf die angeb­liche Ausgrenzung der “Einhei­mi­schen“ relati­viert, die zu Opfern der kapita­lis­ti­schen Moderne geworden seien: „Man war mit ihnen umgesprungen, wie kein Polizist es einst gewagt hatte. Sie waren selber Fremde, im Ausland hier, auf der Flucht. Nun schlugen sie zu.“ Die wirklichen Heimat­ver­trie­benen also – die braven, gedemü­tigten deutschen Leut´ von Hoyerswerda.

Ähnliches hört man jetzt von Ataman (und länger schon von einer Verständ­nis­fraktion, die den Al-Quaida-Terror durch westliche Vorab-Aggres­sionen weich­zeichnete und Attentate von IS-Anhängern durch Diskri­mi­nie­rungs- und Ausgren­zungs­er­fah­rungen erklärt.) Hinter dieser identi­täts­po­li­ti­schen Perspektive steckt ein schau­der­hafter Kollek­ti­vismus, in dem sich Individuen dankbar in den Schatten von Opfer­kol­lek­tiven stellen: Den Mördern dient ihr Opfer­dasein als Recht­fer­tigung ihrer Morde, den Geschei­terten als Ausrede ihres Schei­terns und den Erfolg­reichen als das Fatum in ihrer persön­lichen Helden- und Emanzipationsgeschichte.

Absurd, wenn fürsorg­liche Geister Ostdeutsche in eine Identi­täts­falle stecken

Es gibt ungebrochen liberale Geister, die sich der Tyrannei (und der Versu­chung) des „Wir“ wieder­setzen, „das alles daran­setzt, einen einzu­saugen, dieses zwingende, einver­neh­mende, histo­rische, unver­meid­liche, moralische Wir“, wie der vor wenigen Tagen verstorbene, große, eigen­sinnige Schrift­steller Philip Roth  in „Der mensch­liche Makel“ schreibt. Er beschwört die Freiheit des Indivi­duums, aus dem vermeint­lichen Kollek­tiv­schicksal seiner Klasse, Ethnie oder seines Geschlechts auszu­brechen und seinen eigenen Weg zu gehen. Was dafür nötig ist, sind gleiche Rechte und Chancen für alle.

Denselben Befrei­ungs­kampf gegen ein angeblich gutmei­nendes, in der Praxis tyran­ni­sches Kollektiv führten jene Freigeister, die gegen die DDR rebel­lierten, einfach weil sie ihnen die Luft zum Atmen nahm. Es wäre tragisch und einiger­maßen absurd, wenn die Ostdeut­schen, von fürsorg­lichen Geistern in eine kollektive Identi­täts­falle gesteckt, sich erneut in eine Opfer­rolle einfügen würden. Nebenbei würde das den wirklichen Migranten nicht helfen. Wer sich als Opfer fühlt, ist anfällig für die Suche nach Sünden­böcken und nach anderen Minder­heiten, auf die er herab­sehen kann. Genau das ist die Melodie von AfD und Pegida.

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