Identitätspolitik: Die Allianz der Opfer
Leiden „die Ostdeutschen“ ebenso wie Einwanderer und Flüchtlinge unter Ausgrenzung und Diskriminierung, wie die Integrationsforscherin Naika Foroutan nahelegt? Ein verspäteter April-Scherz, meint LibMod-Autor Marko Martin, der noch kurz vor dem Mauerfall der DDR den Rücken kehrte.
Ein Interview macht Furore: Mitte Mai überraschte Naika Foroutan, an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Professorin für Integrationsforschung, in einem taz-Interview mit der These, Ostdeutsche seien eine Art Migranten, die ganz ähnliche Fremdheits- und Ausgrenzungserfahrungen erlitten hätten: „Migranten haben ihr Land verlassen, Ostdeutsche wurden von ihrem Land verlassen.“ Kurz darauf zog die Spiegel-Kolumnistin Ferda Ataman mit ähnlichen Thesen nach; seitdem vibriert die digitale Diskurszone vor lauter Für und Widers.
Es wäre tragisch und einigermaßen absurd, wenn die Ostdeutschen, von fürsorglichen Geistern in eine kollektive Identitätsfalle gesteckt, sich erneut in eine Opferrolle einfügen würden.
Lassen wir für einen Augenblick beiseite, dass die Auflösung der DDR das Ergebnis einer demokratischen Erhebung großer Teile der Bevölkerung war, die gezielt auf die deutsche Einheit zumarschierten und sie in freien Wahlen bekräftigten. Mich irritiert vor allem die Wiederkehr der alten, bis ´89 von der SED-Herrschaft verordnete Identifizierung des Landes mit einem Staat. Denn verschwunden ist ja lediglich die DDR (von der übergroßen Mehrheit ihrer einstigen Bewohner abgewählt und zum Teufel geschickt). Das Land existiert weiter – mit sanierten Innenstädten, aber ohne martialische Straßennamen, Jubelplakate, Hungerrenten, verseuchte Flüsse und kontaminierte Bitterfelder Luft.
Steile Thesen aus dem Elfenbeinturm postmoderner Theorie
Nicht nur wird die komplexe und oft genug tatsächlich ungerecht verlaufene Transformation einer krachend gescheiterten Planwirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft von Foroutan auf willkürliche Betriebsschließungen reduziert – sie zeiht sie überdies des „Rassismus“: „Die Begründung für die Schließungen war oft ein Motiv aus dem klassischen Rassismus. Wenn jemand etwas durchsetzen will, was moralisch illegitim ist, dann muss er die anderen entmenschlichen oder doch zumindest herabwürdigen.“ Will heißen, nicht der marode Zustand der Betriebe, nein, die Arroganz und Beutegier westdeutscher Herrenmenschen sei verantwortlich für den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft. Das ist zwar eine steile These aus dem Elfenbeinturm postmoderner Theorie, hat aber mit der tristen Wirklichkeit einer verschlissenen, überdimensionierten und auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähigen sozialistischen Industrie nicht viel zu tun.
Selbstverständlich hat eine renommierte Integrationsforscherin das Recht, die Niederungen der Empirie und das Dickicht historischer Tatsachen zu meiden, und immer neue Opfergruppen ersinnend den Gegenstand ihrer Forschung zu erweitern. Befremdlich jedoch – vielleicht aber auch logisch, betrachtet man das kollektivistische Menschenbild der “Identitätspolitik“ – dass dies mit völkisch-identitärem Vokabular geschieht. Neunundzwanzig Jahre nach dem Untergang der DDR wird wieder wird von „den“ Ostdeutschen gesprochen; die SED hätte sich gefreut. Jegliche lebensweltliche Ausdifferenzierung, jede nach 1989 erfolgreich ergriffene Chance zur Individualisierung wird von Foroutan und Ataman negiert, auf dass ihre Figur vom fortbestehenden Opfer-Kollektiv „Ost“ Sinn ergibt. Hinzu kommt ihre hochfahrend apolitische Gewaltsamkeit, mit der Alle – Stasi-Vernehmer und Stasi-Opfer, Machthabende und Machtlose sowie das Heer der Indifferenten – wieder als „die“ Ostdeutschen eingestanzt werden, die angeblich gemeinsame Ausgrenzungserfahrungen gemacht hätten, die sie mit „den“ Migranten teilten.
Rechtfertigung des antidemokratischen Ressentiments
Ferda Ataman geht noch einen Schritt weiter: „Könnte die Ostdeutschenfeindlichkeit von damals die Radikalisierung mancher Ossis befeuert haben?“ Irre Medienwelt, in der eine deutschtürkische, sich als aufgeklärt links verstehende Spiegel-Kolumnistin genau das nachplappert, was auf jeder Pegida-Demo und jeder ostdeutschen AfD-Versammlung zu hören ist: „Die“ Ossis als die genuinen Erst-Opfer, die Rechtfertigung ihres antidemokratischen Ressentiments als legitime Notwehr.
Die Erzählung vom Opferkollektiv leugnet nicht nur die Befreiung durch das Abschütteln der SED-Diktatur. Auch ökonomisch ist es eine lustige Definition von Kolonialisierung, wenn mit jährlichen Finanztransfers von 80 bis 100 Milliarden Euro verfallende Städte saniert, eine komplette Infrastruktur modernisiert und Sozialleistungen finanziert werden, die die wirtschaftliche Leistungskraft der ostdeutschen Länder übersteigen. Dass die fortwirkenden Unterschiede bei Einkommen, Vermögen und Karrierewegen nach 40 Jahren eines bürokratisch-autoritären Sonderwegs andere Ursachen als strukturelle Diskriminierung haben könnten, kommt dieser frei flottierenden Betrachtungsweise nicht in den Sinn.
Schauderhafter Kollektivismus
Solche Opferrhetorik ist freilich nicht neu. Bereits Anfang der neunziger Jahre hatte der ostdeutsche Dichter und spätere Büchner-Preisträger Volker Braun die Vertreibung vietnamesischer Vertragsarbeiter durch einen Mob in der sächsischen Stadt Hoyerswerda mit Verweis auf die angebliche Ausgrenzung der “Einheimischen“ relativiert, die zu Opfern der kapitalistischen Moderne geworden seien: „Man war mit ihnen umgesprungen, wie kein Polizist es einst gewagt hatte. Sie waren selber Fremde, im Ausland hier, auf der Flucht. Nun schlugen sie zu.“ Die wirklichen Heimatvertriebenen also – die braven, gedemütigten deutschen Leut´ von Hoyerswerda.
Ähnliches hört man jetzt von Ataman (und länger schon von einer Verständnisfraktion, die den Al-Quaida-Terror durch westliche Vorab-Aggressionen weichzeichnete und Attentate von IS-Anhängern durch Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen erklärt.) Hinter dieser identitätspolitischen Perspektive steckt ein schauderhafter Kollektivismus, in dem sich Individuen dankbar in den Schatten von Opferkollektiven stellen: Den Mördern dient ihr Opferdasein als Rechtfertigung ihrer Morde, den Gescheiterten als Ausrede ihres Scheiterns und den Erfolgreichen als das Fatum in ihrer persönlichen Helden- und Emanzipationsgeschichte.
Absurd, wenn fürsorgliche Geister Ostdeutsche in eine Identitätsfalle stecken
Es gibt ungebrochen liberale Geister, die sich der Tyrannei (und der Versuchung) des „Wir“ wiedersetzen, „das alles daransetzt, einen einzusaugen, dieses zwingende, einvernehmende, historische, unvermeidliche, moralische Wir“, wie der vor wenigen Tagen verstorbene, große, eigensinnige Schriftsteller Philip Roth in „Der menschliche Makel“ schreibt. Er beschwört die Freiheit des Individuums, aus dem vermeintlichen Kollektivschicksal seiner Klasse, Ethnie oder seines Geschlechts auszubrechen und seinen eigenen Weg zu gehen. Was dafür nötig ist, sind gleiche Rechte und Chancen für alle.
Denselben Befreiungskampf gegen ein angeblich gutmeinendes, in der Praxis tyrannisches Kollektiv führten jene Freigeister, die gegen die DDR rebellierten, einfach weil sie ihnen die Luft zum Atmen nahm. Es wäre tragisch und einigermaßen absurd, wenn die Ostdeutschen, von fürsorglichen Geistern in eine kollektive Identitätsfalle gesteckt, sich erneut in eine Opferrolle einfügen würden. Nebenbei würde das den wirklichen Migranten nicht helfen. Wer sich als Opfer fühlt, ist anfällig für die Suche nach Sündenböcken und nach anderen Minderheiten, auf die er herabsehen kann. Genau das ist die Melodie von AfD und Pegida.
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