Abseits der Horde
Von Adam Smith über Karl Popper bis hin zu Isaiah Berlin: Der peruanische Romancier und Intellektuelle Mario Vargas Llosa erinnert in „Der Ruf der Horde“, einer Art intellektuelle Autobiografie, an jene liberalen Denker, die das Individuum stets höher stellten als die Zugehörigkeit zu Klasse und Nation. Ein Augenöffner – nicht zuletzt für unsere Gegenwart.
Der peruanische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa, der in den sechziger Jahren in Paris lebte und dort seine großen, frühen Romane schrieb, war einigermaßen verwundert: Zum 100. Geburtstag des Philosophen Jean-Paul Sartre überboten sich die französischen Medien im Jahr 2005 mit Elogen, Sondersendungen, Sonderbeilagen und jenen in Paris besonders beliebten, jedoch häufig folgenlosen débats. Und auch viele der jüngsten Intellektuellen-Statements zu den „Gelbwesten-Protesten“ zeigen, dass Sartre nach wie vor eine Referenz und la révolution zumindest rhetorisch und habituell noch immer abrufbereit ist.
In seinem aktuellen Buch „Der Ruf der Horde“ erinnert Vargas Llosa deshalb an ein paar andere Intellektuelle, etwa den luziden Soziologen Raymond Aron, der mit seinem einstigen Kommilitonen Sartre zwar das Geburtsjahr teilt, doch weder den Ruhm noch die Anhängerschaft. Der ehemalige résistant, berühmt-berüchtigt für seine in geradezu provozierend ruhigem Ton vorgetragenen Gedanken, sah in der Verherrlichung der Gewalt, der metaphysisch überhöhten Tat, eine Kongruenz zwischen extremer Linker und extremer Rechter.
Aron ließ es jedoch nicht bei moralischen Warnungen bewenden, sondern wies unermüdlich darauf hin, dass solche Affinität nicht nur unethisch ist, sondern vor allem völlig ineffizient – an den komplexen Realitäten einer spätindustriellen Gesellschaft nihilistisch vorbeigröhlend. Mario Vargas Llosa bezieht sich nun auf Arons „pragmatischen Realismus und seine reformerischen liberalen Ideen“ und fragt, wo Frankreich heute stünde, hätte es stringenter Argumentation mehr vertraut als einem geschichtsdeterministischen Raunen, „das sich hinter den Mauern einer oft okulten Rhetorik verschanzt“.
Hayeks Borniertheit bestand darin, ökonomische Freiheit zu verabsolutieren
Bedauerlicherweise drückt sich der lateinamerikanische Freiheitsfreund in seinen Porträts von sieben liberalen Intellektuellen, die ihn geprägt und sein ganzes Leben lang geleitet haben, aber auch ein wenig vor der Frage, ob es um den Liberalismus eventuell besser bestellt wäre, würde dieser nicht weitgehend mit Denkern wie Friedrich Hayek assoziiert, in dessen Werk die Ideologiekritik schließlich selbst ideologische Züge annimmt. Dabei ist Hayek nach wie vor relevant, wenn er etwa schreibt, dass „die Institution des Privateigentums eine der Hauptvoraussetzungen für jenes begrenzte Maß von Freiheit und Gleichheit ist, die Marx gerade durch Abschaffung dieser Einrichtung ins Unermessliche zu steigern hoffte“. Gerade in Zeiten, in denen Verstaatlichungsträume wieder aufblühen, müsse erneut darauf verwiesen werden, dass Privateigentum (und dessen staatlich garantierter Schutz), nicht nur das Movens für das Prosperieren einer Gesellschaft ist, sondern auch den Einzelnen vor den Zumutungen der Macht zu schützen vermag. Hayeks Borniertheit bestand indes darin, ökonomische Freiheit zu verabsolutieren, politischer Freiheit und sozialer Chancengerechtigkeit hingegen nicht nur eine Nebenrolle zuzuweisen, sondern die Vertreter eines Sozialstaatsgedankens sogar als Totalitäre abzukanzeln. Zumindest an dieser Stelle widerspricht Vargas Llosa dann vehement und erinnert daran, dass Hayek schließlich zum Bewunderer Augusto Pinochets wurde: „Einige von Hayeks Überzeugungen sind für einen echten Demokraten allerdings inakzeptabel, etwa dass eine Diktatur, die eine liberale Wirtschaft praktiziert, einer in dieser Hinsicht illiberalen Demokratie vorzuziehen wäre.“ (Geradezu logisch, dass sich 2015 die Hayek-Gesellschaft spaltete, nachdem die damalige Vorsitzende Karen Horn deren immer stärker rechtsnational drehenden Kurs kritisiert hatte.)
Freilich blieb Friedrich Hayek dann doch die Ausnahme, welche die liberale Regel bestätigt: Wirtschaftliche und politische Freiheit gehören zusammen. Auch gibt es keinen Grund, dass gesunde Misstrauen, das man Staatsfunktionären entgegenbringt, nicht auch der Geschäftswelt zuteil werden zu lassen. Zustimmend zitiert Vargas Llosa Adam Smiths Überzeugung, dass ohne gesellschaftliche Kontrolle Unternehmer häufig dazu neigen, Monopole zu bilden und geheime Preisabsprachen zu treffen. Ebenso wichtig aber ist für den zwei Jahrhunderte nach Smith geborenen peruanischen Kosmopoliten die Ablehnung von nationaler Engstirnigkeit. „Die Liebe zu unserem eigenen Volk“, schreibt Smith in seiner bereits 1759 veröffentlichten „Theorie der ethischen Gefühle“, „macht uns oft geneigt, das Wohlergehen und das Wachstum eines anderen, benachbarten Volkes mit einer äußerst böswilligen Eifersucht und mit starkem Neid zu betrachten.“
Liberales Denken, so Vargas Llosa, ist das effiziente Antidot dazu, obwohl auch hier nicht die vage Idee utopischer Brüderlichkeit ausschlaggebend sei, sondern der unprätentiöse Wille zur stetiger Verbesserung des Lebensstandarts. Hier ist sein Kronzeuge Karl Popper, der – über sein 1945 erschienenes Hauptwerk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ hinaus – immer wieder für die emsig reformerische Methode der „Stückwerk-Technik“ warb. Gerade das, was die Maximalisten des vermeintlich „Großen Wurfs“ bis heute herablassend als „Klein-Klein“ abtun, ist für Popper die Basis gesellschaftlichen Fortschritts, der nicht auf ein angeblich homogenes „Volk“ rekuriert, sondern die unterschiedlichen Interessen innerhalb einer heterogenen Bevölkerung stets aufs Neue austariert.
„Die Freiheit der Wölfe ist der Tod der Lämmer“
Der Ideenhistoriker Isaiah Berlin, ein weiterer der von Vargas Llosa Porträtierten, hat die philosophische Grundlage zu dieser pragmatischen Einsicht geliefert. Berlin, der 1919 mit seiner Familie aus Lenins Russland nach Grossbritanien geflüchtet war, wo er dann bis zu seinem Tod 1997 als skrupulös abwägender Intellektueller ein immenses Renommee genoss, nannte dies den „Konflikt der widersprüchlichen Wahrheiten“: Die oft bis zur Besinnungslosigkeit zitierten Werte Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sind mitnichten Synonyme, sondern stehen in einem natürlichen Spannungsverhältnis. Und nur in einer freien Gesellschaft kann der erfolgreiche Versuch unternommen werden, sie in eine fragile und temporäre Balance zu bringen. Ließen sich, so Vargas Llosa, nicht eine Menge Begriffsverwirrungen vermeiden, würde auf das Spannungsverhältnis jener drei Werte endlich einmal hingewiesen? (Eine vulgär-liberale Binse à la „Freiheit kommt vor Gleichheit“ wäre Sir Isaiah indes gewiss nicht einmal im Traum über die Lippen gekommen, denn der überzeugte Verfechter eines freien Marktes war zugleich Menschenkenner genug, um zu wissen: „Die Freiheit der Wölfe ist der Tod der Lämmer.“)
Vergleichbares Bewusstsein für Ambivalenz hatten auch die beiden Franzosen Raymond Aron und Jean-Francois Revel, die deshalb Zeit ihres Lebens – Vargas Llosa arbeitet das präzise heraus – von den partei-publizistischen Horden der Linken und der Rechten diffamiert wurden. „In der kulturellen Tradition Frankreichs, das die Extreme so schätzt, fiel Raymond Aron aus dem Rahmen: Er war liberal und gemäßigt, ein Streiter für die angelsächsische Tugend des Common Sense in der Politik, ein liebenswürdiger Skeptiker, der ohne viel Fortüne, aber so klug wie scharfsinnig mehr als ein halbes Jahrhundert lang die liberale Demokratie gegen die Diktatur verteidigte, die Toleranz gegen die Dogmen, den Pragmatismus gegen die Utopie.“ Auch deshalb sind Arons Bücher wie etwa „Opium für Intellektuelle“ oder „Über die Freiheiten“ noch heute lesbar. Gleiches gilt für den 2006 verstorbenen Essayisten Jean-Francois Revel, der bereits in den Achtzigerjahren die Propaganda- und Verfälschungs-Strategien des Kreml en detail beschrieb und analysierte; ebenso wie jene westliche Ignoranz, die Wegsehen und Schönreden für den Gipfel der Toleranz hält.
Es macht die Stärke dieses elegant und und mit reflektierter Verve geschriebenen Essaybandes aus, dass sein 83-jähriger Verfasser Vargas Llosa nicht in die gängigen Jeremiaden über das angeblich Präzedenzlose von fake news und medialer Manipulation einstimmt, sondern in seinem Rückblick auf all jenes verweist, was bereits vor Jahrzehnten zu einer Gefahr für die emanzpierte Bürgergesellschaft geworden ist. Gleichzeitig – und ohne auch nur in einer Zeile hagiographisch zu werden – erinnert uns Vargas Llosa an jene Intellektuellen, die den Herausforderungen schon damals mit klarem Denken statt mit Gesundbeterei und apokalyptischer Rhetorik begegnet sind. So gilt auch für sein Buch, was der von ihm porträtierte liberale spanische Philosoph José Ortega y Gasset zu Anfang des 20. Jahrhunderts allen kommenden Dampfplauderern warnend ins Stammbuch schrieb: „Die Klarheit ist die Höflichkeit des Philosophen.“
Mario Vargas Llosa: Der Ruf der Horde. Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 315 S., geb., 24 Euro
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