Abseits der Horde

© Fronteiras do Pensa­mento [CC BY-SA 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)]

Von Adam Smith über Karl Popper bis hin zu Isaiah Berlin: Der perua­nische Romancier und Intel­lek­tuelle Mario Vargas Llosa erinnert in „Der Ruf der Horde“, einer Art intel­lek­tuelle Autobio­grafie, an jene liberalen Denker, die das Individuum stets höher stellten als die Zugehö­rigkeit zu Klasse und Nation. Ein Augen­öffner – nicht zuletzt für unsere Gegenwart.

Der perua­nische Schrift­steller und Litera­tur­no­bel­preis­träger Mario Vargas Llosa, der in den sechziger Jahren in Paris lebte und dort seine großen, frühen Romane schrieb, war einiger­maßen verwundert: Zum 100. Geburtstag des Philo­sophen Jean-Paul Sartre überboten sich die franzö­si­schen Medien im Jahr 2005 mit Elogen, Sonder­sen­dungen, Sonder­bei­lagen und jenen in Paris besonders beliebten, jedoch häufig folgen­losen débats. Und auch viele der jüngsten Intel­lek­tu­ellen-State­ments zu den „Gelbwesten-Protesten“ zeigen, dass Sartre nach wie vor eine Referenz und la révolution zumindest rheto­risch und habituell noch immer abruf­bereit ist. 

Portrait von Marko Martin

Marko Martin ist Schrift­steller und Publizist.

In seinem aktuellen Buch „Der Ruf der Horde“ erinnert Vargas Llosa deshalb an ein paar andere Intel­lek­tuelle, etwa den luziden Sozio­logen Raymond Aron, der mit seinem einstigen Kommi­li­tonen Sartre zwar das Geburtsjahr teilt, doch weder den Ruhm noch die Anhän­ger­schaft. Der ehemalige résistant, berühmt-berüchtigt für seine in geradezu provo­zierend ruhigem Ton vorge­tra­genen Gedanken, sah in der Verherr­li­chung der Gewalt, der metaphy­sisch überhöhten Tat, eine Kongruenz zwischen extremer Linker und extremer Rechter.

Aron ließ es jedoch nicht bei morali­schen Warnungen bewenden, sondern wies unermüdlich darauf hin, dass solche Affinität nicht nur unethisch ist, sondern vor allem völlig ineffi­zient – an den komplexen Reali­täten einer spätin­dus­tri­ellen Gesell­schaft nihilis­tisch vorbeigröhlend. Mario Vargas Llosa bezieht sich nun auf Arons „pragma­ti­schen Realismus und seine refor­me­ri­schen liberalen Ideen“ und fragt, wo Frank­reich heute stünde, hätte es strin­genter Argumen­tation mehr vertraut als einem geschichts­de­ter­mi­nis­ti­schen Raunen, „das sich hinter den Mauern einer oft okulten Rhetorik verschanzt“.

Hayeks Borniertheit bestand darin, ökono­mische Freiheit zu verabsolutieren

Bedau­er­li­cher­weise drückt sich der latein­ame­ri­ka­nische Freiheits­freund in seinen Porträts von sieben liberalen Intel­lek­tu­ellen, die ihn geprägt und sein ganzes Leben lang geleitet haben, aber auch ein wenig vor der Frage, ob es um den Libera­lismus eventuell besser bestellt wäre, würde dieser nicht weitgehend mit Denkern wie Friedrich Hayek assoziiert, in dessen Werk die Ideolo­gie­kritik schließlich selbst ideolo­gische Züge annimmt. Dabei ist Hayek nach wie vor relevant, wenn er etwa schreibt, dass „die Insti­tution des Privat­ei­gentums eine der Haupt­vor­aus­set­zungen für jenes begrenzte Maß von Freiheit und Gleichheit ist, die Marx gerade durch Abschaffung dieser Einrichtung ins Unermess­liche zu steigern hoffte“. Gerade in Zeiten, in denen Verstaat­li­chungs­träume wieder aufblühen, müsse erneut darauf verwiesen werden, dass Privat­ei­gentum (und dessen staatlich garan­tierter Schutz), nicht nur das Movens für das Prospe­rieren einer Gesell­schaft ist, sondern auch den Einzelnen vor den Zumutungen der Macht zu schützen vermag. Hayeks Borniertheit bestand indes darin, ökono­mische Freiheit zu verab­so­lu­tieren, politi­scher Freiheit und sozialer Chancen­ge­rech­tigkeit hingegen nicht nur eine Neben­rolle zuzuweisen, sondern die Vertreter eines Sozial­staats­ge­dankens sogar als Totalitäre abzukanzeln. Zumindest an dieser Stelle wider­spricht Vargas Llosa dann vehement und erinnert daran, dass Hayek schließlich zum Bewun­derer Augusto Pinochets wurde: „Einige von Hayeks Überzeu­gungen sind für einen echten Demokraten aller­dings inakzep­tabel, etwa dass eine Diktatur, die eine liberale Wirtschaft prakti­ziert, einer in dieser Hinsicht illibe­ralen Demokratie vorzu­ziehen wäre.“ (Geradezu logisch, dass sich 2015 die  Hayek-Gesell­schaft spaltete, nachdem die damalige Vorsit­zende Karen Horn deren immer stärker rechts­na­tional drehenden Kurs kriti­siert hatte.)

Freilich blieb Friedrich Hayek dann doch die Ausnahme, welche die liberale Regel bestätigt: Wirtschaft­liche und politische Freiheit gehören zusammen. Auch gibt es keinen Grund, dass gesunde Misstrauen, das man Staats­funk­tio­nären entge­gen­bringt, nicht auch der Geschäftswelt zuteil werden zu lassen. Zustimmend zitiert Vargas Llosa Adam Smiths Überzeugung, dass ohne gesell­schaft­liche Kontrolle Unter­nehmer häufig dazu neigen, Monopole zu bilden und geheime Preis­ab­sprachen zu treffen. Ebenso wichtig aber ist für den zwei Jahrhun­derte nach Smith geborenen perua­ni­schen Kosmo­po­liten die Ablehnung von natio­naler Engstir­nigkeit. „Die Liebe zu unserem eigenen Volk“, schreibt Smith in seiner bereits 1759 veröf­fent­lichten „Theorie der ethischen Gefühle“, „macht uns oft geneigt, das Wohlergehen und das Wachstum eines anderen, benach­barten Volkes mit einer äußerst böswil­ligen Eifer­sucht und mit starkem Neid zu betrachten.“

Liberales Denken, so Vargas Llosa, ist das effiziente Antidot dazu, obwohl auch hier nicht die vage Idee utopi­scher Brüder­lichkeit ausschlag­gebend sei, sondern der unprä­ten­tiöse Wille zur stetiger Verbes­serung des Lebens­stan­darts. Hier ist sein Kronzeuge Karl Popper, der – über sein 1945 erschie­nenes Hauptwerk „Die offene Gesell­schaft und ihre Feinde“ hinaus – immer wieder für die emsig refor­me­rische Methode der „Stückwerk-Technik“ warb. Gerade das, was die Maxima­listen des vermeintlich „Großen Wurfs“ bis heute herab­lassend als „Klein-Klein“ abtun, ist für Popper die Basis gesell­schaft­lichen Fortschritts, der nicht auf ein angeblich homogenes „Volk“ rekuriert, sondern die unter­schied­lichen Inter­essen innerhalb einer hetero­genen Bevöl­kerung stets aufs Neue austariert.

„Die Freiheit der Wölfe ist der Tod der Lämmer“

Der Ideen­his­to­riker Isaiah Berlin, ein weiterer der von Vargas Llosa Porträ­tierten, hat die philo­so­phische Grundlage zu dieser pragma­ti­schen Einsicht geliefert. Berlin, der 1919 mit seiner Familie aus Lenins Russland nach Gross­bri­tanien geflüchtet war, wo er dann bis zu seinem Tod 1997 als skrupulös abwägender Intel­lek­tu­eller ein immenses Renommee genoss, nannte dies den „Konflikt der wider­sprüch­lichen Wahrheiten“: Die oft bis zur Besin­nungs­lo­sigkeit zitierten Werte Freiheit, Gleichheit und Gerech­tigkeit sind mitnichten Synonyme, sondern stehen in einem natür­lichen Spannungs­ver­hältnis. Und nur in einer freien Gesell­schaft kann der erfolg­reiche Versuch unter­nommen werden, sie in eine fragile und temporäre Balance zu bringen. Ließen sich, so Vargas Llosa, nicht eine Menge Begriffs­ver­wir­rungen vermeiden, würde auf das Spannungs­ver­hältnis jener drei Werte endlich einmal hinge­wiesen? (Eine vulgär-liberale Binse à la „Freiheit kommt vor Gleichheit“ wäre Sir Isaiah indes gewiss nicht einmal im Traum über die Lippen gekommen, denn der überzeugte Verfechter eines freien Marktes war zugleich Menschen­kenner genug, um zu wissen: „Die Freiheit der Wölfe ist der Tod der Lämmer.“)

Vergleich­bares Bewusstsein für Ambivalenz hatten auch die beiden Franzosen Raymond Aron und Jean-Francois Revel, die deshalb Zeit ihres Lebens – Vargas Llosa arbeitet das präzise heraus – von den partei-publi­zis­ti­schen Horden der Linken und der Rechten diffa­miert wurden. „In der kultu­rellen Tradition Frank­reichs, das die Extreme so schätzt, fiel Raymond Aron aus dem Rahmen: Er war liberal und gemäßigt, ein Streiter für die angel­säch­sische Tugend des Common Sense in der Politik, ein liebens­wür­diger Skeptiker, der ohne viel Fortüne, aber so klug wie scharf­sinnig mehr als ein halbes Jahrhundert lang die liberale Demokratie gegen die Diktatur vertei­digte, die Toleranz gegen die Dogmen, den Pragma­tismus gegen die Utopie.“ Auch deshalb sind Arons Bücher wie etwa „Opium für Intel­lek­tuelle“ oder „Über die Freiheiten“ noch heute lesbar. Gleiches gilt für den 2006 verstor­benen Essay­isten Jean-Francois Revel, der bereits in den Achtzi­ger­jahren die Propa­ganda- und Verfäl­schungs-Strategien des Kreml en detail  beschrieb und analy­sierte; ebenso wie jene westliche Ignoranz, die Wegsehen und Schön­reden für den Gipfel der Toleranz hält.

Es macht die Stärke dieses elegant und und mit reflek­tierter Verve geschrie­benen Essay­bandes aus, dass sein 83-jähriger Verfasser Vargas Llosa nicht in die gängigen Jeremiaden über das angeblich Präze­denzlose von fake news und medialer Manipu­lation einstimmt, sondern in seinem Rückblick auf all jenes verweist, was bereits vor Jahrzehnten zu einer Gefahr für die emanz­pierte Bürger­ge­sell­schaft geworden ist. Gleich­zeitig – und ohne auch nur in einer Zeile hagio­gra­phisch zu werden – erinnert uns Vargas Llosa an jene Intel­lek­tu­ellen, die den Heraus­for­de­rungen schon damals mit klarem Denken statt mit Gesund­be­terei und apoka­lyp­ti­scher Rhetorik begegnet sind. So gilt auch für sein Buch, was der von ihm porträ­tierte liberale spanische Philosoph José Ortega y Gasset zu Anfang des 20. Jahrhun­derts allen kommenden Dampf­plau­derern warnend ins Stammbuch schrieb: „Die Klarheit ist die Höflichkeit des Philosophen.“

Mario Vargas Llosa: Der Ruf der Horde. Aus dem Spani­schen von Thomas Brovot. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 315 S., geb., 24 Euro

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