Die Ambi­va­lenz der Freiheit

© John Stuart Mill (author), John W. Parker and Son (publisher) [Public domain]

Auch der Libe­ra­lismus steht in Gefahr, zur Ideologie zu werden, wenn er die Ambi­va­lenzen der liberalen Moderne ausblendet. Ein Plädoyer für einen refle­xiven Libe­ra­lismus, der sich bewußt macht, dass die indi­vi­du­elle Freiheit und der Markt in ein gesell­schaft­li­ches Regelwerk einge­bunden werden müssen.

Ideo­lo­gien verführen dazu, die Welt nur aus einem einzigen Blick­winkel anzu­schauen. Je schwie­riger die jeweilige Materie erscheint, desto größer ist auch die Versu­chung, die allzu komple­xi­täts­re­du­zie­rende Wirkung solcher para­dig­ma­tisch klar, aber simpel struk­tu­rierten Denk­muster zu nutzen. Diese Gefahr macht vor dem Libe­ra­lismus nicht halt. Richtig, die Freiheit ist ein Glück und die Voraus­set­zung anderer Werte. Aber wo ihr Licht scheint, gibt es auch Schatten. Wer von den Zumu­tungen, Nöten und Span­nungen nichts wissen will, die sich für den Einzelnen wie für die Gemein­schaft der Vielen mit der Freiheit verbinden können, tut ihr einen Bären­dienst. Ambi­va­lenzen gilt es als Probleme anzu­er­kennen und anzu­nehmen. Mit ihnen gut umzugehen, erfordert poli­ti­sche Klugheit, Fähigkeit zum Abwägen und Bereit­schaft zur Fehler­kor­rektur – ganz im weiteren Sinne des berühmten Satzes von Karl Popper über alles Leben als Problemlösen. 

Portrait von Karen Horn

Karen Horn ist Dozentin für ökono­mi­sche Ideen­ge­schichte und Wirt­schafts­jour­na­lismus an der Univer­sität Erfurt.

Die grund­le­gende Ambi­va­lenz der Freiheit findet ihren Wider­schein darin, dass ein gewisser, oft sogar osten­tativ zur Schau getra­gener Libe­ra­lismus zum guten Ton gehört, der Befund aber dennoch treffend erscheint, dass die Menschen die Freiheit fürchten. Die Verhei­ßung der Freiheit zum Beispiel, dass jeder Mensch sein Leben in die eigene Hand nehmen kann: Sie ist etwas für fähige, zupa­ckende, opti­mis­ti­sche Gemüter. Als Abwehr­recht gefasst, wie im klas­si­schen Libe­ra­lismus üblich, braucht man über die Vorzugs­wür­dig­keit der Freiheit nicht zu streiten. Sie bedeutet Abwe­sen­heit von Zwang, von Unter­drü­ckung, von Bevor­mun­dung, die uns davon abhalten würden, „einen Lebens­plan, der unseren eigenen Charak­te­r­an­lagen entspricht, zu entwerfen und zu tun, was uns beliebt“, wie es John Stuart Mill formulierte.

Diese „negative Freiheit“, wie Isaiah Berlin sie nannte, über­windet einen letztlich feudalen Typus von Abhän­gig­keit. Sie entlässt den Einzelnen in variable Koope­ra­ti­ons­netze wie den Markt, aus denen Kritiker freilich wiederum eine – wenn auch ganz andere – Form von Abhän­gig­keit entstehen sehen. Diese Freiheit jeden­falls verbindet sich mit dem Auftrag zu Selbst­er­kenntnis, Selbst­ent­fal­tung und vor allem Selbst­ver­ant­wor­tung; folglich mit der Bürde, als autonomes Wesen Entschei­dungen unter Unsi­cher­heit treffen und die Folgen der eigenen Fehler tragen zu müssen. Ist das ein Argument gegen die Freiheit? Sicher nicht. Das alles gehört zum Leben. Doch offen­sicht­lich ist neben dem Appetit auf Autonomie auch die Sehnsucht, in einer orga­ni­sierten Ordnung aufge­hoben zu sein, im Menschen angelegt.

Auch poli­ti­sche Freiheit ist ambivalent

Die indi­vi­du­elle Freiheit birgt auch die Möglich­keit, sein Glück zu machen und reich zu werden: Solange es um die Chancen geht, ist jeder gern dabei, aber wenn das Risiko zur Debatte steht, dass man scheitert und verarmt, lässt die Begeis­te­rung nach. Doch ohne die Gefahr eines Schei­terns gibt es keine Gele­gen­heit zum Erfolg. Diese Spannung auszu­ta­rieren, sodass es nicht beim Entweder-oder bleibt, ist die Forderung an den Sozi­al­staat: Er muss so gebaut sein, dass er zwar keine Hänge­matte bietet, aber Menschen im Notfall auffängt, ohne sie im Behör­den­di­ckicht verloren gehen zu lassen.

Selbst die poli­ti­sche Freiheit ist für den Einzelnen ambi­va­lent. Das Wahlrecht ist ein hohes Gut, kaum jemand möchte nicht mitbe­stimmen können. Freilich kann sich in den kollek­tiven Entschei­dungs­ver­fahren der Massen­ge­sell­schaften das Indi­vi­duum wenig Hoffnung machen, der entschei­dende Wähler zu sein, dessen Votum den Ausschlag gibt. Das kann Frus­tra­tion stiften. Auch das ist indes kein Argument gegen die Freiheit, denn ohne sie hätte der Bürger im Kollektiv erst recht nichts zu sagen. Der Filz, die in unfreien Staaten üblichen Seil­schaften und Klien­tel­be­zie­hungen – sie sind gewiss nicht befrie­di­gender. Aber diese Spannung gebietet, das System der poli­ti­schen Parti­zi­pa­tion derart mit Rück­kopp­lungen zu versehen, dass die Stimme des Wählers, der nicht der Mehrheit angehört, nicht verloren ist. Auch Minder­heiten haben Rechte und müssen Gehör finden.

In gesell­schaft­li­cher Betrach­tung gehen die Ambi­va­lenzen der Freiheit noch weit über solche psycho­lo­gi­schen Momente hinaus. Hier bekommen wir es mit den komplexen Auswir­kungen des indi­vi­du­ellen Tuns auf soziale Abläufe und Struk­turen zu tun. So erzieht die Freiheit, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen, im guten Fall zu Selbst­ver­ant­wor­tung und zur Sorge für alles, was man beein­flussen kann. Im schlechten Fall jedoch zu Egoismus und Verein­ze­lung. Darunter leidet das soziale Kapital: das Vertrauen, die Koope­ra­tion, der Zusam­men­halt. Die indi­vi­du­elle Freiheit, womöglich reich zu werden, verleiht der Gesamt­wirt­schaft eine wirt­schaft­liche Dynamik, von der im Idealfall die Masse profi­tiert. Doch sie vermag auch Gier und Geiz zu schüren, den Wett­be­werb auszu­he­beln und die mate­ri­elle Ungleich­heit so zu vertiefen, dass eine allge­meine mora­li­sche Korrup­tion zum Spaltpilz der Gesell­schaft wird.

Man muss nicht alles tun, was man darf

Nur ist auch das noch kein Argument gegen die Freiheit: Wie alle Erfahrung mit illi­be­ralen Staaten lehrt, ist in einem Gemein­wesen, in dem die Freiheit des Einzelnen wenig gilt, die mora­li­sche Korrup­tion bei weitem ärger. Die Heraus­for­de­rung für die „offene Gesell­schaft“, wie Popper das nicht-kollek­ti­vis­ti­sche, die Indi­vi­duen ins Zentrum stellende und schüt­zende Gemein­wesen nannte, besteht deshalb vor allem darin, eine Ordnung zu schaffen, die aufein­ander ausrichtet, was nicht von selbst immer schon harmo­nisch ist. Den Prüfstein für alle poli­ti­schen Maßnahmen, die diesem Zweck dienen, bietet die indi­vi­du­elle Freiheit selbst: Wird sie erweitert und besser abge­si­chert, oder wird sie am Ende unab­sicht­lich oder absicht­lich beschnitten?

Die indi­vi­du­elle Freiheit von staat­li­chem Zwang, das Grund­prinzip der negativen Freiheit, steht an der Wurzel allen Fort­schritts. Aus dieser Einsicht folgt die grund­sätz­liche Empfeh­lung, es mit einer ergeb­nis­ori­en­tierten poli­ti­schen Steuerung, die allzu leicht einer „Anmaßung von Wissen“ (Friedrich August von Hayek) gleich­kommt, möglichst nicht zu über­treiben. Steckt darin nicht aber ein Angriff auf die Demo­kratie? Keines­wegs. Man muss nicht alles tun, was man darf: Die Legi­ti­mität demo­kra­ti­scher Kollek­tiv­ent­schei­dungen schließt die Freiheit ein, Dinge nicht kollektiv zu planen und sie statt­dessen spontaner Koor­di­na­tion zu über­lassen. Je mehr kollektiv geplant und gesteuert wird, desto weniger Raum gibt es für die Initia­tive der Einzelnen und desto weniger stehen spontane, unvor­her­ge­se­hene Entwick­lungen offen. Dieser Zwiespalt hat sein Gutes. Die Spannung zwischen poli­ti­scher Steuerung im Staat und spontaner Koor­di­na­tion in der Zivil­ge­sell­schaft und auf den Märkten kann dazu beitragen, dass das eine das andere in Schach hält und vor Exzessen bewahrt. Und deshalb schrieb Popper: „Wir brauchen die Freiheit, um den Miss­brauch der Staats­ge­walt zu verhin­dern, und wir brauchen den Staat, um den Miss­brauch der Freiheit zu verhindern“.

Mehr Infor­ma­tionen zur liberalen Moderne und ihrem Verhältnis zu illi­be­ralen Denk­tra­di­tionen finden Sie auf www.gegneranalyse.de, einem Projekt von LibMod. 

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