Die Achse der Populisten

Bundes­mi­nis­te­rium für Europa, Inte­gra­tion und Äußeres /​ European Parlia­ment /​ Campact

Die CSU zielt auf einen Kurs­wechsel in der Flücht­lings­po­litik. Sie geht in den Clinch mit der Kanzlerin und riskiert die Einheit der Union. Am Ende könnte sich das Partei­en­system neu ausrichten: entlang der Alter­na­tiven inter­na­tio­nale Öffnung oder nationale Schließung. 

„Eine Situation wie im Jahr 2015 soll und darf sich nicht wieder­holen, da alle Betei­ligten aus dieser Situation gelernt haben.“ Auf diesen ebenso schlichten wie vagen, Unter­schiede und Wider­sprüche verschlei­ernden Satz haben sich CDU und CSU für ihr Wahl­pro­gramm 2017 verstän­digt. Und wo sind wir nun angelangt? Das Jahr 2015 wieder­holt sich. Auf Wunsch der CSU wieder­holen sich jeden­falls poli­ti­sche Abläufe und Konflikte, diesmal aber nach einer in München ausge­heckten Drama­turgie, denn die Zeit schien den CSU-Taktikern reif, den durch die Welt­ge­schichte ausge­lösten Konflikt von einst noch einmal für das Baye­ri­sche Staats­theater zu inszenieren.

Anders als die frisch auf­ge­tisch­ten Lügen von CSU, AfD und eines – frei­lich lei­se­ren – Teils von CDU-Funk­­ti­ons­­trä­­gern behaup­tet, gab es keine Grenzöffnung. 

Es geht um Flücht­linge. Es geht ums Kanz­leramt. Der Kanzlerin geht es um beides, der CSU um letzteres. Deshalb braucht es diesmal auch gar keinen Andrang von Menschen an den Grenzen. Im Gegenteil: Nur das weit­ge­hende Ausbleiben von Migranten lässt die Symbol­po­litik überhaupt wirkungs­voll erscheinen.

Will­kommen zurück im Jahr 2015!

Nun, was war 2015? Anders als die frisch aufge­tischten Lügen von CSU, AfD und eines – freilich leiseren – Teils von CDU-Funk­ti­ons­trä­gern behauptet, gab es keine Grenz­öff­nung, keine Allein­gänge Merkels und schon gar keine von ihr ange­zet­telte Spaltung Europas oder Menschen auch nur zur Flucht animiert. Die große Flucht zumeist über Ägäis und Balkan­route setzte weit früher ein. Als in Grie­chen­land – ob aus Über­for­de­rung oder als Druck­mittel im Schul­den­streit – das Asyl­system zusam­men­brach und die Menschen syste­ma­tisch nordwärts wanderten und fuhren, war im Nu auch Ungarn über­for­dert und zudem unwillig, seine Rolle gemäß den Abkommen von Schengen und Dublin zu spielen. Statt­dessen ließ die Regierung Orbán die Flücht­linge campieren und setzte auf deren Weiter­marsch. Im Einklang mit Öster­reichs Kanzler Faymann und ohne Bayerns Minis­ter­prä­si­dent konsul­tieren zu können (Seehofers Handy war in der frag­li­chen Nacht wie zufällig ausge­schaltet), entschied Angela Merkel am 4. September, ein beträcht­li­ches Kontin­gent von Flücht­lingen durch den im Abkommen explizit vorge­se­henen Selbst­ein­tritt Deutsch­land ins euro­päi­sche Asyl­ver­fahren aufzu­nehmen und damit Öster­reich und zuvor Ungarn von ihren Pflichten zu entbinden. Es folgte der von Deutsch­land forcierte, aber logi­scher­weise nicht alleine (sic!) im Rat der EU-Innen­mi­nister, Grie­chen­land und Italien eine eher symbo­li­sche Zahl von Flücht­lingen und Asyl­su­chenden abzu­nehmen, die auf die EU-Staaten nach Größe und Wirt­schafts­kraft verteilt werden sollten. Daraus erwuchs aber bis heute kein regulärer Mecha­nismus, obwohl das wiederum von Merkel – hier wirklich fast im Allein­gang ausge­han­delte EU-Türkei-Abkommen die Zahl der ankom­menden wie auch der ertrin­kenden Migranten senkte. Mangels irgend verläss­li­cher Partner schlossen sich keine entspre­chenden Abkommen für die Mittel­meer­pas­sage an. 

Portrait von Markus Schubert

Markus Schubert ist Moderator beim Hörfunk­sender NDR Info.

Seitdem wurden nicht nur die Kontrollen an der EU-Außen­grenze ertüch­tigt (wobei viele Staaten ihren perso­nellen Beitrag an Poli­zisten und Richtern bis heute nicht leisten), sondern zudem – nach entspre­chenden Praktiken in Skan­di­na­vien – auch an der deutschen Grenze, die aber weiter eher punktuell und spora­disch kontrol­liert wird. Merkel hat sich im innen­po­li­ti­schen Streit wie auf EU-Ebene dabei keiner Verschär­fung entge­gen­ge­stellt; die entrückte, fürsorg­liche Mutti Theresa exis­tierte nur noch als Abzieh­bild der immer ätzender werdenden Kritik in der CSU und natürlich aus rechts­na­tio­nalen Kreisen. Das „Wir schaffen das!“ war stets eine Parole für die Unter­brin­gung, Versor­gung und Inte­gra­tion der 2015 hier­zu­lande Einge­trof­fenen. Mehr als die Hälfte der 890 000 Neuan­kömm­linge 2015 waren schon hier oder auf dem Weg, als die ersten Selfies mit Merkel die Runde machten. Und spätere Befra­gungen ergaben, dass nur gut ein Drittel der nach Deutsch­land geflüch­teten Iraker und Syrer solche Bilder kannten. Noch im Spät­sommer wurde die Kanzlerin von Leit­ar­tik­lern dafür verur­teilt, dass sie noch keine Flücht­lings­un­ter­kunft besucht hat, die bereits von Nazis belagert und atta­ckiert wurden. Zu diesem Zeitpunkt handelte die CDU-Vorsit­zende außerdem in völligem Einklang mit den in Umfragen befragten Deutschen, die im September-Polit­ba­ro­meter des ZDF auf die Frage „Kann Deutsch­land so viele Flücht­linge verkraften?“ zu 62 % mit „Ja“ antwor­teten, außerdem zu 66 % angaben, dass es richtig war, Flücht­linge aus Ungarn einreisen zu lassen. Und um auch die Mär zu wider­legen, man habe das als einige Ausnah­me­tage betrachtet: 85 % stimmten in derselben Umfrage der Aussage zu: „Deshalb werden noch mehr kommen.“

Das alles hindert aber die CSU nicht, ihre Legenden, die sie mit der AfD teilt, konse­quent zu wieder­holen. Sie hat es Merkel nicht verziehen, an grund­sätz­lich offenen Grenzen im Schen­gen­raum fest­zu­halten und keine einsei­tige Blockade der Flucht­route vorzu­nehmen, weil die Kanzlerin zu Recht inhumane Zuspit­zungen nicht nur an der deutschen Grenze fürchtete, sondern auch ein „Voll­laufen“ Grie­chen­lands als Flücht­lings­lager Europas. Die von Bayern immer wieder verlangte „Ober­grenze“ für Zuwan­de­rung stand stets in offen­kun­digem Wider­spruch zum Asyl­grund­recht, das ein Recht auf ein indi­vi­du­elles Prüf­ver­fahren nach sich zieht. Aber auch dieses deshalb beharr­lich wieder­holte ‚Nein‘ Merkels wird ihr bis heute nachgetragen.

Nun also: 2015 in 2018. Die Zurück­wei­sung an der Grenze ist plötzlich wieder Mode. Mit einem Unter­schied: An den Grenzen herrscht kein Andrang mehr. Das erspart der CSU die Nagel­probe der Praxis­taug­lich­keit. Man müsste sonst die vorhan­denen Ex-Grenz­über­gänge massiv mit Personal besetzen (das man entweder an der EU-Außen­grenze oder aus der Krimi­na­li­täts­be­kämp­fung abziehen müsste) und zudem die grüne Grenze massiv bestreifen. Und das nicht nur zwischen Bayern und Öster­reich, sondern auf allen Ausweich­routen über Tsche­chien, die Schweiz, Frank­reich etc. Fragt man Praktiker, was „Zurück­wei­sung“ bedeutet, und ob Flücht­linge dann von der Bundes­po­lizei praktisch in die nächste öster­rei­chi­sche Klein­stadt (geschweige denn nach Italien als Regis­trie­rungs­land) gefahren werden, schütteln die den Kopf. Dazu brauchte es ja Abkommen mit diesen Staaten. Und wer müsste die aushan­deln? Logi­scher­weise die Innen­mi­nister dieser Staaten. Merkel erledigt also – unter­stützt von Seehofer mit den „besten Wünschen“ – dessen Job, um den geheimen Master­plan überhaupt je anwenden zu können. Der CDU-Außen­po­li­tiker Norbert Röttgen, kein noto­ri­scher Merkel-Gefolgs­mann, nennt Zurück­wei­sung abseits von Grenz­über­gängen eine „Fiktion“. Wohl zu Recht. Man muss sich den Einsatz der Bundes­po­li­zisten oder der neu formierten baye­ri­schen Grenz­po­lizei auf einer Kuhweide zwischen Grenz­steinen wie ein folk­lo­ris­ti­sches Ballett vorstellen: Treten sie einen Meter zu weit über auf fremdes Hoheits­ge­biet, entfällt ihre Befugnis, ihr Gegenüber zurück­zu­weisen. Über­schreitet der Migrant die Grenze und wird im Geltungs­be­reich des Grund­ge­setzes fest­ge­halten, hat er Anspruch auf ein indi­vi­du­elles Prüf­ver­fahren seines Asyl­an­spruchs. Will­kommen im Rechts­staat! Und das gilt für den Flücht­ling wie für die Staats­partei CSU.

Die verlogene Inter­na­tio­nale der Nationalisten

Und damit sind wir bei der zweiten Dimension des aktuellen unge­bremsten CSU-Irrsinns. Das Schmieden und Knüpfen popu­lis­ti­scher Achsen und Allianzen. Auf den ersten Blick wirkt das euro­pä­isch, aber tatsäch­lich ist es immer anti-euro­pä­isch motiviert. Und meist rein symbo­lisch konzi­piert. Warum auch nicht? Popu­listen sind keine Problem­löser. Sie sind Proble­me­ma­cher und ‑ausnutzer. Sie maxi­mieren ihre Wähler­schaft mithilfe bequemer Schein­lö­sungen für echte oder erfundene, immer aber hoch­ge­jazzte Probleme.

Sind Popu­listen aber erst einmal an der Macht, Trum­pisten, Brexi­teers, FPÖ, Fidesz, Lega – und eben nun die zu Neo-Popu­listen mutierte CSU, wandelt sich ihr Profil. Sie müssen jetzt iden­ti­fi­zier­bare schwache Gegner und Hinder­nisse für ihren Erfolg finden. Und da sind sie: Flücht­linge und andere Migranten, Europa, Merkel. Und alles hängt mit allem zusammen: Die Schwä­chung der EU, das Bremsen der Inte­gra­tion, die Begren­zung der Soli­da­rität, das Ausblenden globaler Zusam­men­hänge, ob ökolo­gisch (Klima) oder ökono­misch (Handel) oder politisch (EU, G7, NATO), das Zerschmet­tern multi­la­te­raler Ansätze, das Pflegen von Filter­blasen und kontrol­lier­baren Paral­le­löf­fent­lich­keiten und natürlich #WegMit­Merkel – das ganze Konglo­merat eint Trump, Kurz, Söder, Salvini, Orbán und Co.

Aber kaum wird es nun irgendwie und irgendwo konkret, ändert sich das Spiel erneut. Noch spielen sie sich die Bälle zu, unter tatkräf­tiger Mithilfe ihres Paten Putin, zu dem sie alle pilgern, die Lega, die CSU, die FPÖ. Aber plötzlich – wie über­ra­schend! – stoßen sich die Dinge hart im Raum! Wenn Natio­na­listen sich erst einmal in den Schalt­zen­tralen ihrer Haupt­städte einge­richtet haben, stoßen sie im wahrsten Sinne des Wortes rasch an ihre Grenzen. Eine „Inter­na­tio­nale der Natio­na­listen“ ist ein Wider­spruch in sich. Früher oder später prallen Lügen­kon­strukte und Maxi­mal­for­de­rungen aufein­ander. Wenn alle die Inter­essen ihres Landes zur Haupt­ma­xime erheben, gibt es unwei­ger­lich Verlierer.

Beim Thema Migration wird dies besonders augen­fällig: Italien mit dem frem­den­has­senden neuen Innen­mi­nister Salvini will die Dublin-Regeln weghaben, weil sie bei den aktuellen Migra­ti­ons­routen Italien neben Grie­chen­land praktisch die Allein­ver­ant­wor­tung für nach Europa strebende Menschen zuweisen. Seehofer und Orbán pochen dagegen auf die Einhal­tung des geltenden Rechts. Es gibt keine krasseren Gegen­sätze, und man könnte sie nur im breiteren EU-Kontext auflösen, aber solche Wider­sprüche kümmern ja keinen der Betei­ligten. Öster­reichs Regierung hätte sich längst mit Deutsch­land ins Benehmen setzen müssen, um nicht in eine semi­per­meable Sandwich-Rolle zwischen Italien und Deutsch­land zu geraten, aber Kurz sagt in Berlin zu Seehofers Grenz­schlie­ßungs­plänen eben nur, man wolle sich nicht in die deutsche Diskus­sion einmi­schen – ein offen­sicht­li­cher Unfug, denn wenn Grenz­fragen eines nicht sind, dann die innere Ange­le­gen­heit eines Landes. Die Visegrad-Staaten wiederum reisten zum Arbeits­gipfel in Brüssel am Sonntag gar nicht an, um den Wider­spruch zu Italien nicht greifbar werden zu lassen. Mit dem lako­ni­schen Hinweis, dass „Europa“ mal wieder nichts zustande gebracht hat, kann man sich überall von Budapest über Wien bis München zufrieden geben.

Während Rom inzwi­schen den gewis­senlos robusten Hafen­kom­man­danten des Konti­nents gibt und im Nu mit inter­na­tio­nalen Konven­tionen in Konflikt geraten wird, muss Öster­reich, und sei es nur, um ange­sichts der baye­ri­schen Grenz­schlie­ßungen ein „Zeichen zu setzen“ – die verrä­te­ri­sche Lieb­lings­vo­kabel der Popu­listen – durch eine massive perso­nelle Aufsto­ckung den Brenner und andere Nord-Süd-Verbin­dungen so stark kontrol­lieren, dass der wirt­schaft­lich überaus bedeut­same Alpen­transit des Schwer­last­ver­kehrs kolla­biert. Wie überhaupt die Rena­tio­na­li­sie­rung von Grenz­kon­trollen den Handel im Binnen­markt verteuert und die arbeits­tei­lige Just-in-time-Produk­tion in Frage stellt. Schwer zu sagen, ob das am global agie­renden Wirt­schafts­standort Bayern eigent­lich niemand auf dem Schirm hat. Aber, da sind sich Minis­ter­prä­si­dent, Innen- und auch Verkehrs­mi­nister wahr­schein­lich einig: Darum kann sich ja dann „Mutti“ wieder kümmern.

Wer versetzt die Bundes­re­pu­blik „en marche“?

Der frühere finnische Finanz­mi­nister und Premier, der liberale Christ­de­mo­krat Alexander Stubb, hat in Reden und Texten seit 2013 die Grund­frage unserer Zeit, entlang der sich auch die Partei­en­sys­teme neu ausrichten werden, mit der Alter­na­tive „Globa­lismus oder Loka­lismus?“ markiert. Wo stehen die deutschen Parteien entlang dieser Front­linie? Die Grünen sind Globa­listen, weil der Planet und nicht die Nation schon aus ökolo­gi­schen Gründen ihre Bezugs­größe ist. Die AfD ist auf der anderen Seite. SPD und Liberale weichen der Entschei­dung aus. Martin Schulz war als Person posi­tio­niert, aber nicht im Programm. Die Lindner-FDP flirtet mit EU-Skepsis, natio­nalem Egoismus und natürlich mit dem Anti-Merkel-Groll, wenn auch nicht im AfD-Sprech. Der ärgste Riss geht durch die Union, und die Migration ist nur eines der Felder dieses Konflikts. Die CSU hat sich nun klar verortet. Betont national und euro­pa­kri­tisch will sie sein, auch wenn das ihrer Tradition zuwi­der­läuft. Volks­partei will sie bleiben, auch wenn deren Entste­hung und Erhalt genau die konsens- und kompro­miss­ori­en­tierte poli­ti­sche Kultur erfordert, die sie in der Konkur­renz mit der CDU, mit dem Chris­tentum und im Umgang mit der EU gerade mit Lust zerstört. „Seid ihr denn alle verrückt geworden?“, fragte der frühere baye­ri­sche CSU-Kultus­mi­nister und verdienst­volle Zentral­rats­vor­sit­zende der deutschen Katho­liken, Professor Hans Maier, vor wenigen Tagen mit heiligem Ernst in einem Brief an die CSU-Landes­gruppe im Deutschen Bundestag.

Die CDU wird den Ausgang der baye­ri­schen Land­tags­wahl sehr genau beob­achten. Umfragen und frühere Ergeb­nisse auch in anderen Bundes­län­dern legen den Schluss zwingend nahe: Die AfD legt zu, wenn andere Parteien ihre Themen prio­ri­sieren. Und die CSU setzt ausschließ­lich auf die Gewin­ner­themen der AfD: Migration, Islam, Europa, Merkel. Jeweils mit einem „Anti“- davor. Es ist ein radikales (aber vermut­lich weder taktisch noch stra­te­gisch ausrei­chend durch­dachtes) Konzept: Die AfD-Forde­rungen über­nehmen, aber anders als die Protest­partei zugleich „liefern“. Beim Thema Migration: Die Symbol­lö­sung ‚Zurück­wei­sungen an der Grenze‘. Bei der Islam­furcht: Die Gott­sei­beiuns-Symbol­lö­sung ‚Kreuze im Büro‘. Beim irra­tio­nalen Merkel-Hass: Die Präsen­ta­tion von Merkels Skalp ‚in echt‘. Dann, so mag es sich für die CSU-Granden schlüssig zu Ende denken, hat es endlich eine Ruhe mit der AfD. Die Union sammelt alle Wähler ein, selbst die, die von der Linken und von der SPD nach Rechts­außen gewandert sind, bündelt sie rechts der Mitte zusammen und kann in Bayern alleine und in Berlin mit einer in der Mitte wach­senden FDP, schlimms­ten­falls mit der SPD weiter regieren.

Wie gesagt, das ist hier nur der Versuch der Ratio­na­li­sie­rung eines in Wahrheit wohl viel wirreren und panische Züge tragenden Vorgehens. Vieles spricht für einen Kollaps der CSU im Herbst, ein Ausstreuen von Wählern in alle Rich­tungen, also zur AfD (die umwor­benen und so bestärkten Deutsch­na­tio­nalen), zur FDP (die Wirt­schafts­li­be­ralen), zur SPD (die Sozialen), zu Freien Wählern (die Regio­na­listen), zu den Grünen (die Christlich-Globalen).

Wie aber kann zuvor der Konflikt mit der CDU ausgehen? Nun, eine unge­bremste Eska­lie­rung einer Symbol­frage auf die Ebene des Kanz­le­rin­nen­sturzes würde die Koalition zum Einsturz bringen. Weder ist zu erwarten, dass die Bayern die CDU durch Zermür­bung in Tele­fon­kon­fe­renzen zum Aufgeben ihres poli­ti­schen Selbst­be­wusst­seins bringen, noch zeichnet sich ab, wer in der Union, geschweige denn auch in der SPD, vor diesem Hinter­grund als Nachfolger/​in akzep­tiert würde. Statt­dessen muss Merkel den reni­tenten Minister schon aus Achtung vor dem Grund­ge­setz entlassen, und sie hat das Stichwort „Richt­li­ni­en­kom­pe­tenz“ ja selbst bereits unmiss­ver­ständ­lich verwendet, Seehofer hat signa­li­siert, dass er den Hinweis verstanden hat, und Wolfgang Schäuble hat alles per Interview quasi notariell beglaubigt.

Da die CSU sich nicht buch­stäb­lich entmannen lassen kann, müsste sie dann die Koalition und konse­quenter Weise auch die Frak­ti­ons­ge­mein­schaft aufkün­digen. Dann ist aber weiter kein Sieger (oder auch nur ein aussichts­rei­cher Kandidat) in einem konstruk­tiven Miss­trau­ens­votum erkennbar. Merkel kann mit CDU und SPD weiter­re­gieren. Schließ­lich hielt die SPD ja vor ihrem Eintritt in die Große Koalition eine Minder­heits­re­gie­rung noch für einen gangbaren Weg. Um die unge­bro­chen weit über die Zustim­mung zur CDU/​CSU (und auch in Bayern über die zur CSU) hinaus­rei­chende Zustim­mung zu ihrer Person endlich umzu­münzen, könnte sie die mit einem knappen und klaren 10-Punkte-Plan von Europa über Klima bis Digi­ta­li­sie­rung, Energie und Klima­schutz, Migration und Inte­gra­tion verknüpfte Vertrau­ens­frage stellen und die Mehrheit mithilfe eines Großteils der Grünen erzielen. „Sie geht ins Offene,“ soll Joschka Fischer halb bewun­dernd, halb befremdet zu Merkels „huma­ni­tärem Imperativ“ (Merkel) von 2015 angemerkt haben. Es wäre die Antwort auf Macrons radikale aber erfolg­reiche und zukunfts­feste „La Répu­blique en marche“-Erhitzung und Auflösung des über Jahr­zehnte in Lagern geron­nenen fran­zö­si­schen Partei­en­sys­tems. Und es geht eben nicht nur um die Verge­wis­se­rung der Entschei­dung von 2015, auch wenn die CSU diese Tage und Wochen erneut zur nunmehr virtu­ellen Kampfzone erklärt hat.

Denn wie gesagt, ‚Globa­lismus versus Loka­lismus‘, das ist die anhal­tende Kernfrage. Ob und wie sich daran entlang das Partei­en­system dauerhaft neu aufstellt und ausrichtet, ob die CSU sich ausbreitet und ihre baye­ri­sche Identität als Marken­kern aufgibt, ob CDU und SPD den Mumm haben, ihre Themen Vertei­lungs­ge­rech­tig­keit und Soli­da­rität auf die euro­päi­sche Ebene zu heben, ist ungewiss. Immerhin hat die CDU eine Debatte über ihr Grund­satz­pro­gramm aufge­nommen. Gewiss ist, und daran hat Markus Söder mit seiner kühl kalku­lierten, trum­pis­tisch und anti-merke­lia­nisch formu­lierten Absage an den „geord­neten Multi­kul­tu­ra­lismus“ ja keinen Zweifel gelassen, dass sich die Frage immer wieder stellen und immer aufs Neue auch zur Koali­ti­ons­frage wird.

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